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Heiter bis zornig
Bernstein als Dirigent? Leidenschaft pur. Bernstein als Komponist? "West Side Story". Bernstein als Intellektueller? Weniger geläufig. Seine Kompositionen "Mass" und "Serenade after Plato’s Symposium" zeigen den Tausendsassa von einer anderen Seite.
Leonard Bernstein war eine Ausnahmeerscheinung, aber ihn traf ein Schicksal, das mancher Musiker kennt: Er begann als Komponist und endete – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – als Dirigent. Zwar wird Bernstein auch heute noch mit seinem Welterfolg "West Side Story" in Verbindung gebracht, aber ungeachtet der Genialität dieses Musicals strebte er als Komponist zeitlebens nach mehr, stets unzufrieden mit dem Erreichten. Große, ernste, amerikanische Musik wollte er schreiben, so wie es sein Vorbild Aaron Copland tat. Aber immer kam etwas dazwischen: Seine zunehmenden Erfolge als Dirigent, seine Aktivitäten als Organisator, Lehrer, Entertainer und politischer Provokateur, sein Wesen als Weltumarmer und Menschensammler – die explosive Energie dieses Mannes ließ sich kaum steuern.
Magie und Charisma
Wie schwer die Einordnung dieser unübersichtlich vielseitigen Künstlerexistenz heute fällt, zeigen zwei Bücher, die zum 100. Geburtstag Bernsteins erschienen sind: Michael Horowitz schildert vor allem den Dirigenten Bernstein, und er tut das aus der Perspektive Wiens, wo Bernstein besonders gerne aufgetreten ist. Horowitz sieht Bernstein als "Magier der Musik", umgibt ihn mit Anekdoten und zuweilen recht amüsantem Backstage-Geplauder. Wirklich ergiebig ist das aber ebenso wenig wie das vergleichsweise trockene Buch des Historikers Sven Oliver Müller, der Bernstein distanziert als "Charismatiker" zu fassen versucht, sich aber immer wieder im Dickicht der umfassend zitierten Sekundärliteratur verliert, ohne Position zu beziehen.
Lobreden auf die Liebe
Die "Interpretationen" versuchen, zum Jubiläum mit der Vorstellung zweier sehr unterschiedlicher Kompositionen beizutragen, die idealtypisch für Bernsteins Streben nach einer eigenen Klangsprache stehen. Auf der einen Seite die "Serenade after Plato’s Symposium", komponiert 1954. Hinter dem ungewöhnlichen Titel verbirgt sich ein ebenso ungewöhnlich besetztes Stück für Soloviolone, Streicher, Harfe und Schlagzeug. Bartók und Strawinsky als unverkennbare Vorbilder treffen auf Bernsteins unkonventionellen Stilmix, der im Finale einen, wie der Komponist selbst schrieb, "hint of jazz" enthält. Das philosophische "Gastmahl des Plato" ist dabei mehr als nur antike Kulisse, denn der altsprachlich versierte Bernstein versuchte, für die darin enthaltenen Lobreden auf den Gott Eros durch verschiedene Philosophen, Dichter und Mediziner musikalische Entsprechungen zu finden. Obwohl kein Violinkonzert im strengen Sinne, haben viele große Geiger Bernsteins Serenade im Repertoire – vom Uraufführungs-Solisten Isaac Stern bis hin zu Hilary Hahn.
Glaubt Gott an mich?
Auf der anderen Seite "Mass", die Vertonung der lateinischen Messe, die Leonard Bernstein 1971 zur Eröffnung des Kennedy Center in Washington schrieb: Unser Studiogast Wolfgang Rathert, Professor für Musikwissenschaft an der Universität München und Experte für amerikanische Musikgeschichte, erkennt in dieser mal belächelten, mal als blasphemisch bezeichneten, mal ignorierten Komposition ein Hauptwerk Bernsteins. Hier vereinigen sich die unterschiedlichsten, ja widersprüchlichsten Stilrichtungen – vom klassischen Oratorium bis zum Rock – zu einem sperrigen Großwerk, das irgendwo zwischen Benjamin Brittens "War Requiem" und Andrew Lloyd Webbers "Jesus Christ Superstar" zu verorten ist und das Bernsteins zweifelnd-hingebungsvollen Glauben auf diese Formel bringt: "I belive in God, but does God believe in me?"