"Zu machistisch, zu patriarchal, zu zölibatär"
Der konsequente Einsatz für die Armen ist ein Kennzeichen der Befreiungstheologie, wie sie in Lateinamerika gelebt wird. Der brasilianische Theologe Leonardo Boff sagt, welche Rolle die Kirche in politisch unruhigen Zeiten übernehmen kann und warum Frauen mehr Einfluss bekommen sollten.
Kirsten Dietrich: Vom schwierigen Ringen um den Frieden in Kolumbien haben wir gerade gehört und auch von der durchaus zwiespältigen Rolle, die christliche Kräfte darin einnehmen. Das bildet natürlich nicht die ganze Breite kirchlichen politischen Engagements in Südamerika ab. Der Subkontinent ist auch die Heimat der Befreiungstheologie, einer Bewegung, die seit den 70er-Jahren vor allem innerhalb der katholischen Kirche den radikalen Einsatz für die Armen und Entrechteten zum Maßstab für glaubwürdige Theologie machte.
Eine der maßgeblichen Stimmen dieser Befreiungstheologie war und ist der brasilianische Theologe Leonardo Boff. Boff war Franziskaner, er promovierte in München – sein Zweitgutachter war damals übrigens ein gewisser Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. –, und er setzte sich danach vor allem für eine kritische Neubestimmung dessen ein, was die Kirche als Institution sein kann. Das brachte ihn Mitte der 80er-Jahre in direkten Konflikt mit der Glaubenskongregation des Vatikans – Vorsitzender: wieder Joseph Ratzinger. Boff verließ den Franziskanerorden, aber er setzt sich weiter lautstark für eine Theologie der Befreiung ein, mit einer immer mehr globalen Perspektive.
Eintreten für Ethik und Menschenliebe
Vor einer Woche wurde er in Berlin mit der Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Medaille ausgezeichnet, für sein Eintreten für eine Ethik der Moderne, wie es in der Begründung heißt. Ich habe Leonardo Boff bei diesem Anlass getroffen, und ich wollte von ihm wissen, ob mit dem Friedensnobelpreis für Kolumbiens Präsidenten und dem Friedensabkommen bessere Zeiten angebrochen sind für Menschenrechte und gesellschaftlichen Frieden in Südamerika.
Leonardo Boff: Wir haben Schwierigkeiten jetzt in Lateinamerika, besonders in Argentinien und Brasilien, wo wir in Brasilien einen richtigen parlamentarischen Putsch gehabt haben. Deswegen gibt es in der Gesellschaft eine große Unruhe. In Argentinien ist es fast dasselbe, weil dort das System, die große Makrowirtschaft, die Privatisierung verschiedener Firmen verlangt, und sie verletzen auch soziale Rechte, und die Bevölkerung rebelliert irgendwie.
Aber sonst in Lateinamerika haben wir eine ruhige Situation, abgesehen von Kolumbien, die Gott sei Dank jetzt zu einer Einigung gekommen sind. Das ist etwas Hervorragendes und nun Neues und immer Ersehntes, aber nie erreicht. Und nach so vielen Schwierigkeiten – ich war auch selbst dabei: Es ist leicht zu sagen, man stiftet den Frieden. Aber wenn man mit den Familien redet, die sagen: Aber die FARC hat unsere zwei Söhne genommen und vor unseren Augen verstümmelt und sie haben unsere Häuser niedergebrannt. Es gibt viel Leiden im Lande, und es ist viel für die Leute, das zu vergessen, um zu einer Versöhnung zu kommen. Deswegen braucht man eine ganze Pädagogik, will sagen, weil das ein religiöses Land ist, eine ganze Spiritualität des Vergebens.
Gespaltene Kirche in Kolumbien
Dietrich: Welche Rolle spielen die Christen bei dieser Aufgabe der Versöhnung? Es gibt sowohl unter den Befürwortern des Abkommens kirchliche Gruppen, es gibt auch bei den Gegnern des Friedensabkommens kirchliche Gruppen, die gesagt haben zum Beispiel, was dort an Frauenrechten festgelegt wurde, gefährde die Familie. Also wo steht die Kirche da bei dieser Aufgabe der Versöhnung?
Boff: In Kolumbien ist die Kirche seit je eine gespaltene Kirche. Es gibt verschiedene Bischöfe von Opus Dei, die sehr rückständig sind, und die sind nicht so sehr für eine einfache Versöhnung. Auf der anderen Seite gibt es Leute, die von der Basisarbeit kommen, die sind irgendwie verbunden mit der Befreiungstheologie. Da gibt es ziemlich viele Basisgemeinden, biblische Gruppen, eine soziale Pastoral, wo viele Ordensleute besonders engagiert sind. Die machen eine gute Arbeit, eine Bekehrung der Geister, damit die Leute tatsächlich verzeihen können.
Dietrich: Generell in Lateinamerika ist es ja so, dass die katholische Kirche eher schwächer wird in ihrer Bedeutung und evangelikale charismatische Kreise an Einfluss gewinnen, also solche, die auf die direkte Eingebung des Heiligen Geistes vertrauen und die weniger das Wohl der gesamten Gesellschaft im Auge haben, mehr dieses individuelle Wohl, vielleicht auch den individuellen Wohlstand. Wie beurteilen Sie das? Ist das gut, dass die Institution Kirche, gegen die Sie ja auch lange gekämpft haben, schwächer wird?
Boff: Die katholische Kirche ist im Großen und Ganzen verantwortlich für diese Situation. Weil sie allzu starr ist, allzu dogmatisch. Sie orientiert sich an Lehren, und so weiter. Und besonders die Frage des Zölibats ist sehr wichtig. Ich nehme als Beispiel mein Land Brasilien. Wir sind 200 Millionen Einwohner, 70 Prozent sind Katholiken. Wir sollten eigentlich 100.000 Priester haben, um die Bedürfnisse des religiösen Volkes zu erfüllen. Aber wir haben nur 17.000 – institutionell gesehen, ist das eine Katastrophe. Und dann gibt es ein Vakuum, und dieses Vakuum wird von diesen Kirchen benutzt.
Das ist ein komplexes Problem, weil das zum Teil eine Manipulation des Glaubens und des Evangeliums ist zugunsten einer Predigt der Prosperität, der Entwicklung der materiellen Dimension des Lebens, ohne von Gerechtigkeit zu reden – einerseits. Auf der anderen Seite gibt es eine zivilisatorische Dimension. Sie bringen die Leute, die ganz zerstreut sind und verlassen, Namenlose, die kommen zusammen, die haben ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt. Die werden von keinem gehört, aber sie sagen, wir werden von Gott gehört.
Zölibat, Familienmoral - all das muss auf den Prüfstand
Hier spüren wir Brüderlichkeit, Zusammensein. Es ist ein komplexes Problem. Man muss nicht direkt kritisieren, sonst verliert man diese soziale Dimension, die so wichtig ist. Solange die katholische Kirche nicht strukturelle Änderungen einführt am Zölibat, Familienmoral, Stellung der Frau – zum Beispiel haben wir in Brasilien 100.000 Basisgemeinden. 70 Prozent dieser Basisgemeinden werden von Frauen geleitet, die führen das ganze Leben und die sollten also zumindest Diakoninnen werden. Die organisieren die Liturgie, das ganze Leben. Die Kirche sollte das annehmen und sie als Priester weihen. Das wäre die Anerkennung dessen, was sie tatsächlich schon machen. Das macht die Kirche nicht, weil alles zu machistisch, zu patriarchal ist, zu zölibatär ist. Und solange diese Situation nicht geändert wird, haben wir eine institutionelle permanente immerwährende Krise in der katholischen Kirche.
Dietrich: Denken Sie, dass es durch Papst Franziskus da zu Änderungen kommt? Er ist zwar kein Befreiungstheologe, aber teilt ja immerhin auch diesen lateinamerikanischen Hintergrund und macht sich sehr deutlich stark für eine Option für die Armen.
Boff: Ich glaube schon, dass er eine Änderung einführen wird, besonders auf Bitte der brasilianischen Bischofskonferenz hin, die eine der größten der Welt ist. Die haben darum gebeten, dass der Papst die Freiheit der Priester wieder ins Amt übernehmen sollte. Und der Papst sagte, er will das Ganze überlegen und Brasilien als Beispiel nehmen. Wenn das funktioniert, kann er das vielleicht verallgemeinern. Und ich meine, das ist der erste Schritt, um das Gesetz des Zölibats zu überwinden.
Und andererseits hat er oft gesagt, dass wir den Frauen, die über die Hälfte der Kirche sind, mehr Entscheidungskraft geben, weil die das Recht haben, zusammen mit den Männern, Bischöfen und Priestern die Wege der Kirche zu bestimmen. Und allmählich kommt dazu – er kann nicht alles auf einmal machen, weil die Reaktionen besonders der USA, von den rückständigen Gruppen, die unter den letzten zwei Pontifikaten erzogen worden sind, tatsächlich konservativ sind, und die haben Schwierigkeiten, so eine neue Art und Weise, das Papsttum zu führen, anzunehmen. Aber ich glaube, dass er den Mut hat, neue Erfahrungen einzuführen.
Dietrich: In den 70er-Jahren hat die Theologie der Befreiung versprochen, eine geistliche Hoffnung zu verbinden mit ganz konkreten Änderungen an ungerechten Situationen. Nun sind inzwischen 40 Jahre vergangen, und die Welt ist globalisierter geworden, und die Ansatzpunkte für Veränderungen scheinen immer weiter zu verschwinden. Wo sehen Sie die Möglichkeiten für eine spirituelle Wende, vielleicht für einen spirituellen Neuanfang heute?
Die vielen Armen rechtfertigen die Befreiungstheologie
Boff: Solange die Armen so viele sind in der Welt – und die Anzahl ist noch größer geworden –, besteht immer das Recht, die Befreiungstheologie zu bekräftigen und zu behaupten. Man versteht diese Armut nicht als etwas Natürliches oder etwas von Gott Gewolltes, sondern als Unterdrückung. Und dagegen zu kämpfen, ist gerade die Aufgabe der Kirche, meines Erachtens, und hauptsächlich der Befreiungstheologie. Wir haben vieles nicht erreicht, aber was wir erreicht haben, das ist ein neuer Typ von Christen, die engagiert sind für die Gerechtigkeit, die in der Politik partizipieren, die verstanden haben, dass der Glaube nicht nur eine innere Dimension hat, sondern auch eine öffentliche, eine politische Dimension.
Das heißt nicht, dass man den Glauben politisiert. Aber der Glaube impliziert einen Einsatz für die soziale Gerechtigkeit, für die Veränderung der Strukturen. Und in dem Sinne ist diese Theologie die Theologie der Zukunft. Und zugleich – das ist die neue Dimension: Den großen Armen, die Erde, mit einzubeziehen, mit einzuschließen in die Option für die Armen. Weil nicht nur die Armen schreien – es schreien die Wälder, es schreien die Gewässer, es schreien die Tiere, es schreit die ganze Erde. Also, die Erde ist der große Arme, der ausgebeutet, ausgeplündert wird, die Erde, die gekreuzigt ist, muss herabgezogen werden und auch befreit werden.
Dietrich: Eine Umkehr zu mehr Gerechtigkeit ist überlebensnotwendig für alle. Ich sprach mit dem Befreiungstheologen Leonardo Boff.
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