"Wahrscheinlich der neugierigste Mann seiner Zeit"
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Leonardo da Vinci war Künstler, aber auch Naturwissenschaftler, Erfinder, Philosoph und noch so manches mehr. Warum alles auf einmal? Er wollte einfach allen Dingen auf den Grund gehen, sagt Bernd Roeck, Historiker und Autor einer neuen Leonardo-Biografie.
Dieter Kassel: Der 500. Todestag von Leonardo da Vinci. Über den ja heute viele sagen, ja, er war Künstler, aber er war auch Naturwissenschaftler, Erfinder, auch Philosoph und noch so manches mehr. Ich glaube, er selbst hätte das so nicht formuliert, er hätte das so nicht aufgeteilt, denn für ihn gehörte alles zusammen. Das war schon als Grundeinstellung ziemlich visionär, aber was er daraus gemacht hat, war es ja noch viel stärker.
Darüber wollen wir jetzt mit Bernd Roeck reden, der emeritierte Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich hat zum 500. Todestag das Buch veröffentlicht "Leonardo. Der Mann, der alles wissen wollte", und sein vor zwei Jahren erschienenes Buch "Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance" wurde schnell zu einem Standardwerk.
Ich habe heute Morgen schon so in die Zeitung geblickt, und die machen natürlich was zu Leonardo heute, und ganz oft kommen da Formulierungen vor wie "Auch nach einem halben Jahrtausend hinterlässt er uns noch viele Rätsel". Würden Sie das unterschreiben? Haben wir alle, auch Menschen wie Sie, die sich so intensiv mit ihm beschäftigt haben, ihn immer noch nicht umfassend verstanden?
Roeck: Ja, mehr als genug. Also es gibt leider Gottes eine ziemlich chaotische Quellenlage. Es gibt etwa 6.000, 7.000 Blätter von seiner Hand, und das ist alles über die halbe Welt zerstreut. Wir kennen die Kontexte nicht, wir wissen nicht, ob die Briefe, die er entworfen hat, jemals abgeschickt wurden und so weiter. Er hat auch viele Rätsel erfunden, das war ein besonderes Hobby von ihm, und unzählige unfertige Projekte hinterlassen, wo wir nie wissen, wie weit er überhaupt damit vorgedrungen ist, denn es ist wahrscheinlich ein ganz großer Teil des Nachlasses auch verloren.
Ein Mann, der allem auf den Grund gehen wollte
Kassel: Aber wie kam er eigentlich dazu, so interdisziplinär zu denken und zu arbeiten? Ich glaube, was ich gerade gesagt habe, er selber hätte nie behauptet, ich bin das und das und das, sondern gesagt, ich bin das alles auf einmal, und es gehört zusammen. Wie ist er dazu gekommen?
Roeck: Also man würde mit etwas Küchenpsychologie heute vielleicht sagen, er hatte eine Form von ADHS, also er hatte Konzentrationsschwierigkeiten, und wurde überwältigt von allen möglichen Eindrücken und Fragen, er war ein ungeheuer neugieriger Mann, wahrscheinlich der neugierigste seiner Zeit, und wenn er an einem Problem tüftelte, kam er schon aufs nächste, und das dritte lauerte hinter der Ecke. Also er war ein Mensch, der den blauen Himmel nicht nur anschaut, sondern wissen will, warum er blau ist, oder Wolken beobachtet. Dann findet er heraus, das ist Wasserdampf, und dann will er wissen, was ist Wasser, und wie bewegen die sich und so weiter.
Also ein Mann, der die Welt mit den Augen zu erfassen versuchte und immer den Dingen auf den Grund gehen wollte. Wie er dazu kam − nun, ein kleines Stück Erklärung mag sein, dass ihm ja ein Universitätsstudium verschlossen blieb. Das mag ihn auch zeitlebens ein wenig bedrückt haben, aber er sagt dann ganz stolz: Ich bin eigentlich ein Schüler der Erfahrung. Also ich will das mit eigenen Augen sehen und selbst beschreiben und nicht irgendwie das Bücherwissen mir aneignen. Dabei war er auch ein großer Leser, muss man allerdings sagen.
Kassel: Dieser zwangsweise Verzicht auf ein Studium würde ein bisschen was erklären, was seine Forschung, seine Interessen angeht, aber im Moment ist ja auch ein großes Thema in der Öffentlichkeit sein für damalige Verhältnisse ungeheuerlich progressives Verhältnis zu Frauen und seine grundsätzliche Einstellung zur Welt, nicht nur zur Technik. Ich meine, die Renaissance – Sie haben das selber in Ihrem Buch geschrieben – war eigentlich schon die richtige Zeit für revolutionäre Ideen, aber das, was er so dachte über die Menschen und die Welt, hat doch wahrscheinlich selbst diese Zeit ein bisschen überfordert, oder?
Roeck: Na ja, diese Zeit hätte es überfordert, wenn sie davon gewusst hätte. Man darf ja nicht vergessen, dass die meisten seiner ketzerischen Gedanken – also was die Religion betrifft, war er alles andere als ein gläubiger Christ –, dass diese ketzerischen Gedanken vermutlich im engsten Kreis blieben oder vielleicht gar nicht darüber gesprochen hat. Da gibt es verstreute Äußerungen, aus denen man sich ein sehr eigenwilliges, aufgeklärtes Weltbild zusammenlesen kann, aber Schwierigkeiten hat er deshalb nicht gehabt. Vielleicht auch deshalb, weil man schlicht nicht davon wusste. Auf der anderen Seite war das Florenz des Lorenzo des Prächtigen, also in diesem Fall auch der späteren Zeit nach Lorenzo, unter den Medici vergleichsweise liberal.
Also er konnte seine Homosexualität gewiss nicht einfach ausleben, das ist falsch, wenn man das meint, aber sie war auch nicht von scharfen Strafen bedroht. Das galt nicht nur für Leonardo, das galt für tausende andere Fälle, die wir in Florenz dieser Zeit kennen. Also er lebte in der richtigen Zeit: Es gab genug Höfe, die ihn genährt haben, er hatte eine glänzende Karriere hingelegt, die ihn von Florenz nach Mailand und nach Rom und schließlich an den Hof Franz des Ersten von Frankreich führte. Da hatte er alle Zeit der Welt, neben seinen vielen anderen Aufgaben am Hof allerdings, nachzudenken, zu rechnen, zu experimentieren, also kurz: die Welt mit den Augen zu erfassen.
Geldgeber für Spinnereien finden
Kassel: War er auch jemand, der sich zumindest da, wo er glaubte, das gebrauchen zu können, nämlich im Umgang mit den Reichen und den Mächtigen, auch selbst inszeniert hat, also der auch wusste, wie man mit solchen Menschen umgeht, um sich Freiheiten zu erarbeiten, die sich aber hinterher auch nicht wieder rächen?
Roeck: Aber ganz sicher. Er war jemand, der sich hervorragend zu kleiden verstand, er hat teure Kleider gehabt, umgab sich mit Pferden und Dienern, auch wenn er vielleicht mal nicht allzu viel Geld hatte. Wir wissen allerdings, dass er doch meistens in guten Umständen lebte. Er war ein Plauderer, er konnte Witze machen, auch Zoten reißen, er konnte Laute spielen, vieles andere mehr. Er parfümierte sich, er muss ein sehr angenehmer, noch dazu gut aussehender Mensch gewesen sein, wenn man den Zeitgenossen glauben darf.
Er verstand es, Leute von den unglaublichsten Projekten zu überzeugen. Es gibt da so Leute, die haben die Fähigkeit, für die seltsamsten Spinnereien Geldgeber zu finden, und so einer war er auch. Es waren nicht nur Spinnereien, aber er hat völlig überzogene Projekte verkauft, zum Beispiel den Arno umzuleiten, um Pisa auszutrocknen, das gerade im Krieg mit Florenz war, oder ein sieben Meter hohes Bronzepferd zu gießen, das Sie übrigens heute in Mailand in einer neuen Fassung sehen können. Das scheiterte aber an Geldmangel und an technischen Problemen, wir wissen es nicht. Aber er war jemand, der ganz bestimmt dem klassischen Muster des Höflings, eines interessanten, coolen, aufgeschlossenen, freundlichen Menschen entsprach.
Kassel: Heute würde man sagen, er hatte sämtliche Soft Skills und Hard Skills.
Roeck: Absolut.
Detaillierte Auskünfte über sein Innenleben
Kassel: Ein bisschen muss ich zugeben, Herr Roeck, ich beginne neidisch zu werden, auch wenn das 500 Jahre her ist, und wenn man neidisch wird, dann guckt man ja nach den Fehlern, man sucht es ja. Man kann das, glaube ich, auch bei Leonardo finden. Sie haben es fast schon selbst gesagt am Anfang, dass er immer so viel gemacht hat und seine Aufmerksamkeit immer weiterwanderte. Wenn wir uns mal seine Kunst angucken, nun Gott, ja, er hat das berühmteste Gemälde der Welt erschaffen, aber er hat relativ wenig vollendete Kunstwerke hinterlassen, viele unvollendete. Also hat er sich manchmal tatsächlich verzettelt?
Roeck: Na klar. Er hat sicher viele, viele Dinge gleichzeitig gemacht, er hat an vielen Schrauben gleichzeitig gedreht, und eigentlich ist es erstaunlich, dass er überhaupt was fertig gebracht hat, wenn man ihn so anschaut. Also sicher hat er an einem Konzentrationsproblem gelitten, aber er konnte auf der anderen Seite auch sehr intensiv an einem Problem arbeiten, wenn es ihn dann wirklich gepackt hat. Er beschreibt es ja selbst einmal genau, wie schwierig es ist, die Dinge auf die Reihe zu kriegen.
Wir haben von keinem anderen Künstler der Zeit so detaillierte Auskünfte über das Innenleben – das darf man nicht vergessen –, wie er um Konzentration ringt, wie er 64 Begriffe für die Bewegung des Wassers findet, bis er es dann aufgibt, bis er sagt, das ist viel zu viel, das kann er nicht lösen, wie er Anatomie leistet – das war eine harte und auch ekelhafte Arbeit vielfach –, die für 200 Jahre unübertroffen blieb, und zwar weltweit. Also das hat er ja auch geleistet.
Auf der anderen Seite die Bilder, da experimentiert er dauernd, weil er die schönsten, tollsten Farben zustande bringen will. Er muss ja die ganzen Mixturen selber zubereiten für die Lacke und die Farben, und wie er auf der anderen Seite zwar das Schönste fertigbringen will, aber eben an technischen Fragen scheitert, und dann irgendwann mal ist die Sache einfach nicht mehr machbar, und er hört damit auf, und er fängt was Neues an. Das hat seinem Auftraggeber natürlich auch viel Kummer bereitet.
Kassel: Irgendwie tröstet es doch nicht, weil ich meine, wir sind ja eher so – Sie vielleicht nicht, aber ich – der Typ, man hört auf frustriert und macht erst mal eine Weile nix. So war er ja ganz offenbar nicht!
Roeck: So sind wir alle!
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