Genie ohne Lateinkenntnisse
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Leonardo da Vinci studierte keineswegs nur die Natur – er war auch sehr belesen. Doch dazu musste er zunächst ein Handicap überwinden: Als Künstler hatte er kein Latein gelernt. Mit über 40 holte er das nach und probierte sich als Autor.
Frank Meyer: Das Genie Leonardo hat von sich gesagt, er sei ein "omo sanza lettere", also ein unbelesener Mann, sein Wissen beziehe er aus seiner Erfahrung. Stimmt das denn, was Leonardo da über sich selbst gesagt hat?
Jürgen Renn: Das stimmt natürlich schon. Leonardo war primär an der Erfahrung und an der Natur interessiert, aber er war keineswegs so unbelesen, wie dieses Zitat glauben macht. Das liegt einfach daran, er wollte sich absetzen von so einer staubigen, scholastischen Gelehrsamkeit. Aber Wissenschaftshistoriker und Literaturhistoriker haben inzwischen entdeckt, insbesondere der italienische Kollege Carlo Vecce hat ein wunderbares Buch darüber geschrieben, wie über den Lauf der Jahre Leonardos Bibliothek angewachsen ist. Er war also am Ende doch ein ziemlich belesener Mann, und das wirft ein neues Licht auf seine intellektuelle Entwicklung.
Meyer: Und was hat man da herausgefunden, was hat in die Bibliothek von Leonardo gehört, was hat er gesammelt?
Renn: Er war Sohn eines Notars. Also es gab da in seinem Haus schon eine kleine Bibliothek, da waren ein paar juristische Standardwerke, auch sozusagen erbauliche Literatur, aber dann auch ein paar vergnügliche Dinge, aber das war natürlich noch keine wissenschaftliche Gelehrsamkeit. Leonardo ist erst im Laufe seines Lebens dann wirklich zu einem Humanisten, zu einem Wissenschaftler geworden, der sich auch in der Literatur seiner Zeit bestens auskannte.
Er hat allerdings ein großes Handicap: Als Künstler hat er kein Latein gelernt, und die Literatur der Zeit war lateinisch geschrieben, und er hat sich dann noch in etwas fortgeschrittenem Alter bemüht, Latein zu lernen, also finden wir unter seinen Büchern auch lateinische Grammatiken und Stilratgeber. Er wollte ja dann schließlich auch selber zu einem Autor werden.
"Leonardo wollte mithalten und musste Latein lernen"
Meyer: Er war schon über 40, als er dann tatsächlich Latein gelernt hat, oder?
Renn: Ja. Aber die Werke waren auch schwer zu lesen, und da musste man sich schon sehr anstrengen, und er hat immer mehr gesehen, dass es sich lohnt, dass es wichtig ist, um zu dem Wissen seiner Zeit zu gelangen. Das war eine aufregende Zeit, denn das war ja die Zeit, als der Buchdruck gerade erst so richtig begann. Etwa gleichzeitig mit Leonardos Geburt wurden in Deutschland die ersten Bibel von Gutenberg gedruckt, und dann explodierte das Ganze. Damit war natürlich auch eine völlig neue Wissensbasis gegeben, und da wollte Leonardo natürlich mithalten, also musste er auch Latein lernen.
Meyer: Und kann man das sehen an seinem Lesen und an seiner Bibliothek, dass da diese Medienrevolution der Buchdruckerfindung auch durchgeschlagen hat auch auf sein Lesen und sein Büchersammeln?
Renn: Ja, das kann man auf jeden Fall. Also ich sprach ja von seiner Hausbibliothek oder der seines Vaters, und davon kann man ausgehen, dass das noch abgeschriebene Bücher waren. Damals waren die Leute, die die Bücher lesen wollten, auch erst mal dazu gezwungen, sie zum Teil erst mal selber zu kopieren. Das hat sich natürlich dann radikal verändert. Es wurden viel mehr Bücher auch verfügbar auf diese Weise.
Und man sieht im Laufe seines Lebens, dass Leonardo eigentlich immer stärker wissenschaftliche Interessen entwickelt hat. Er hat dann schon früh angefangen, Bücher zu jagen. Er war nämlich ein richtiger Bücherjäger. Wenn er dann in Florenz oder später auch in Mailand gelebt hat oder in Rom dann - und zum Teil auf Feldzügen mit unterwegs war, da hat er jede Gelegenheit genutzt, erstens mal ihn bekannte Gelehrte anzusprechen oder dann auch Bücher zu besorgen, er hat sich auch Bücher systematisch ausgeliehen. Manchmal hat er sie dann nicht wieder zurückgegeben, und dann wurde ihm nicht mehr so gerne Bücher ausgeliehen, weil er einfach wirklich ein Jäger war.
Man muss sich auch vergegenwärtigen, damals waren Bibliotheken noch nicht offen, es gab einige Klosterbibliotheken. Leonardo hatte dann auch gelegentlich privilegierten Zugang, aber es war doch nicht so einfach, an das Wissen seiner Zeit zu gelangen. Deswegen, dieser Jagdinstinkt, den sieht man auch in seinen Manuskripten.
Mathenachhilfe bei Luca Pacioli
Meyer: Sie haben sich ja gerade, also Ihr Institut, sich damit beschäftigt, was alles zu Leonardos Jagdtrieb dazugehört hat, zu seinem intellektuellen Kosmos dazugehört hat, zu diesem Thema haben Sie ein Symposium veranstaltet. Welche Art von Wissen war das denn, was zu seinem intellektuellen Kosmos gehörte?
Renn: Als Künstler war er natürlich auch darauf angewiesen, sagen wir mal, die gemeinsamen literarischen Grundlagen seiner Zeit zu kennen, also das Florentiner Dreigestirn, Petrarca, Boccaccio, Dante, das kannte man natürlich, das musste man kennen, dann aber auch die antiken Klassiker, Ovids "Metamorphosen", aber auch christliche Literatur. Das war also sozusagen auch die gemeinsame kulturelle Basis, aufgrund derer man dann auch in den Bildern Geschichten erzählen konnte.
Aber Leonardo hat sich dann auch sehr stark begeistert für Mathematik, ist dann Luca Pacioli begegnet, hat zunächst mal sein Werk über die Arithmetik sich besorgt, kurz nachdem es rausgekommen war, hat dann auch den Meister selber kennengelernt in Mailand und hat bei ihm Mathestunden, Mathenachhilfeunterricht genommen, weil er dann zu der Überzeugung gekommen ist: Eigentlich ist die Mathematik die Grundlage sowohl der Kunst als auch der Wissenschaft, und er muss das im fortgeschrittenen Alter noch lernen und hat dann auch nicht locker gelassen.
Dann findet man in seinen Listen immer mehr Bücher auch über Mechanik, über Anatomie. Er wollte ja auch über den Menschen schreiben. Er wollte ein Traktat über die Mechanik machen, und er hat sich dazu die entsprechenden Bücher besorgt.
Meyer: Es ist, soweit ich weiß, nur ein einziges Buch aus seiner Bibliothek erhalten mit handschriftlichen Anmerkungen von Leonardo selbst, ein Traktat über Architektur von Francesco di Giorgio Martini. Was hat denn Leonardo da so an den Rand geschrieben?
Renn: Er hat sich sozusagen sofort seine eigenen Gedanken gemacht. Er hat dann einfach im Grunde ein paar Stichworte notiert. Ich glaube aber gar nicht, dass man so viel aus diesen Postillen und Marginalien entnehmen kann. Man lernt viel mehr, wenn man sieht, dass Leonardo systematisch exzerpiert hat. Das ist eigentlich, wenn man Leonardo als Leser kennenlernen will, noch interessanter. Er hat sich dann auch Dinge abgeschrieben, die er wahrscheinlich selber in Lateinisch zunächst mal gar nicht verstanden hat, sondern sich erst mal übersetzen musste. Er hat sozusagen sich selber einen Kosmos aufgebaut, der dann immer wieder auch die Grundlage für seine eigenen Fantasien wurde.
Er hat dann zum Beispiel Fabeln geschrieben, er hat sich irgendwo Notizen gemacht und hat dann das extrapoliert und hat daraus Fabeln konstruiert. Also er wollte wirklich zu einem Autor werden. Was Francesco Martini betrifft, das war ja irgendwie auch ein Schlüssel für ihn dann zum Werk von Vitruv, die Architektur besser kennenzulernen. Da war er ein Lernender im Grunde. Die Geschichte, die man gut kennt, dass er dann den vitruvianischen Menschen porträtiert hat in dieser idealen Proportion, das sind so Anregungen, die er auch aus dieser Lektüre entnommen hat.
Etwa 7000 Seiten Text von Leonardo überliefert
Meyer: Und wenn Sie seine Exzerpte erwähnen, Leonardo soll ja wahnsinnig viele Handschriften hinterlassen haben – 20.000 Seiten sagt man. Was erfährt man daraus, aus diesem großen Konvolut über ihn als Leser und als Schreibenden?
Renn: Die ganzen 20.000 Seiten, die es vielleicht mal gegeben hat, die sind uns ja leider nicht überliefert. Wir haben so etwa 7000 Seiten, die überliefert sind, und was man lernt, ist, wie gesagt, er hat ein ganzes Netzwerk ausgebildet. Er war mit den Großen seiner Zeit in Kontakt und hat sich, man kann einerseits sagen, für alles und jedes interessiert, aber er hat dann auch immer wieder versucht, genau das für seine eigenen Werke produktiv zu machen.
Man sieht da auch schon eine rote Linie in diesem großen Netzwerk, und man ist einfach erstaunt, wie viel er nicht nur beobachtet und geschaffen hat – vieles ist ja auch unvollendet geblieben –, aber wie viel er auch absorbiert hat an Wissen, wie viel er aufgenommen hat. Das ist eigentlich der größte bleibende Eindruck, den man hat.
Meyer: Ihr Institut wird mitarbeiten an einer Ausstellung zu Leonardos Bibliothek, die wird im Sommer schon eröffnen in Florenz im Museo Galileo. Im nächsten Jahr wird die dann nach Berlin kommen, hier in die Berliner Staatsbibliothek, im Jahr 2020. Was werden Sie da zeigen in dieser Ausstellung?
Renn: Leonardo hat so im Laufe seines Lebens so rund 200 Werke, kann man nachweisen, besessen, und da wollen wir einen Teil nicht nur sozusagen wieder ausstellen und zeigen, sondern auch die sich dahinter verbergenden Netzwerke des Wissens, die wollen wir deutlich machen. Es wird eine Ausstellung sein, die nicht nur die Persönlichkeit Leonardos im Fokus hat, sondern auch diese neue Wissenskultur seiner Zeit. Man kann zeigen, dass Genie, das er war, konnte er auch nur werden, weil Wissen in einer neuen Weise verfügbar wurde und offen verfügbar wurde. Also das, glaube ich, ist auch eine kleine Botschaft an unsere Zeit.
Meyer: Und vorhin – das interessiert mich noch zum Schluss –, vorhin haben Sie seine Fabeln erwähnt. Das ist, glaube ich, die Seite also Leonardo als literarischer Autor, die vielleicht mit am wenigsten bekannt ist von ihm. Wie interessant ist diese Seite von ihm?
Renn: Die ist sehr interessant. Es ist allerdings auch dort so, der Leonardo hat ja im Laufe seines Lebens nie wirklich was veröffentlicht, und das ist so ein bisschen wie mit seiner Kunst, von der ja auch vieles unvollendet geblieben ist, aber das fällt irgendwie bei der Kunst mehr auf oder fällt ins Auge, kann man sagen, als es bei der Literatur deutlich wird. Also ich glaube, man sieht auch den Leonardo als Denker sehr deutlich in diesen Geschichten, in der er sich auch Gedanken über das menschliche Verhältnis zur Natur, Fragen der Moral und Philosophie Gedanken macht. Also ich glaube, da gibt es noch vieles zu entdecken.
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