Lernen in den Ferien

Wenn Kinder niemals Pause machen

Schüler einer ersten Klasse halten am 29.07.2014 in einer Grundschule in Kaufbeuren (Bayern) ihre Zeugnisse vor einer Tafel mit der Aufschrift "Hurra Ferien sind da". Für rund 1,54 Millionen Schüler in Bayern beginnen die Sommerferien.
Hurra, die Ferien! Leider lernen viele Kinder einfach weiter © picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand
Armin Himmelrath im Gespräch mit Dieter Kassel |
Die Ferien stehen vor der Tür. Doch totale Entspannung ist für viele Schüler nicht angesagt: 59 Prozent lernen laut einer Forsa-Umfrage auch ohne Lehrer weiter. Der Bildungsjournalist Armin Himmelrath kennt die Gründe dafür.
Laut einer neuen Forsa-Umfrage kennen sechs von zehn Schülern in Deutschland keine echte Ferien - sie lernen nach der letzten Schulglocke im Sommer einfach weiter. Viele besuchen inzwischen auch sogenannte Lerncamps, andere pauken zu Hause oder nehmen das Mathebuch mit in den Urlaub.
Der Bildungs- und Wissenschaftsjournalist Armin Himmelrath führt das unter anderem auf die gestiegenen Ansprüche der Schulen zurück: Wer zu lange Pause mache, habe schnell das Gefühl, den Anschluss zu verlieren, sagte er im Deutschlandradio Kultur.
Zudem gebe es so etwas wie "Bildungspanik" bei den Eltern. Dahinter stehe die Vorstellung, dass die Kinder keine Chancen auf einen Job und einen Platz in der Gesellschaft hätten, wenn sie sich nicht ununterbrochen neues Wissen aneigneten.
Für viele Schulkinder ist der Zeugnistag schon deshalb ein Freudentag, weil es direkt danach ein paar Tage Ferien gibt.
Nach der Zeugnisvergabe sollte eigentlich erst mal eine Zeit der Entspannung folgen© picture alliance / dpa / Rolland Weihrauch
Die Schüler wiederum sehen immer öfter, dass die Eltern auch im Urlaub arbeiten, Mails lesen oder über WhatsApp mit der Heimat kommunizieren: Die "Abgeschiedenheit", die früher mit Ferien verbunden gewesen sei, gebe es nicht mehr, sagte Himmelrath. Dennoch rät er zu "mehr Gelassenheit und tatsächlich auch mal durchatmen". "Mindestens viereinhalb Wochen, lieber fünfeinhalb" Wochen reine Ferien seien für Kinder notwendig.

Das Gehirn dürfe sich nicht lange ausruhen, meint Siegfried Lehrl, er ist klinischer Psychologe und Medizin-Psychologe in Erlangen und Präsident der Gesellschaft für Gehirntraining. "Das Gehirn muss jeden Tag beschäftigt werden, so Lehrl.
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Das Interview mit Armin Himmelrath im Wortlaut:

Dieter Kassel: In fünf Bundesländern haben die Sommerferien schon begonnen, in allen anderen werden sie innerhalb der nächsten drei Wochen starten, und für viele Schülerinnen und Schüler bedeuten diese Ferien natürlich sechs komplett freie Wochen.
Für immer mehr aber auch nicht. 59 Prozent lernen auch in den Ferien für die Schule, sagt eine aktuelle Umfrage. Immer mehr tun das auch nicht einfach nur zu Hause zwischendurch, sondern besuchen sogar sogenannte Lerncamps.
Der Sachbuchautor und Wissenschafts- und Bildungsjournalist Armin Himmelrath beschäftigt sich schon seit Langem kritisch mit diesem Thema, Lernen außerhalb der Schule. Er ist aber selbst fleißig, denn er ist für uns jetzt schon um diese Zeit in Köln ins Studio gegangen. Schönen guten Morgen, Herr Himmelrath!
Armin Himmelrath: Guten Morgen!
Kassel: In Nordrhein-Westfalen beginnen die Sommerferien offiziell nächste Woche, es ist auch schon jetzt nicht mehr viel los. Lassen Sie Ihre eigenen Kinder da eigentlich komplett in Ruhe, oder müssen die auch lernen?
Himmelrath: Es hat so zwei Seiten. Das eine ist natürlich, dass ich denke, Ferien sind Ferien, damit eben auch mal Ruhe ist und damit eben nicht ständig gelernt wird. Und die Schule hat ja in den letzten Jahren schon deutlich an Fahrt aufgenommen, was Leistungsdruck und solche Dinge angeht.
Auf der anderen Seite stelle ich das bei mir selbst als Vater durchaus fest, dass ich dann schon das Gefühl habe, so nach drei Wochen, na ja, es wäre schon ganz schön, wenn er mal wieder reingucken würde in ein bestimmtes Buch oder wenn er das eine oder das andere mal lesen oder wiederholen würde. Ich muss mich da, ehrlich gesagt, auch ein bisschen selbst bremsen, weil tatsächlich die Idee der Ferien, und so steht es ja auch in den Schulgesetzen der Länder drin, die Idee der Ferien ist, dass da wirklich frei ist. Und das ist tatsächlich unglaublich schwer in vielen Familien, das durchzuhalten.
Kassel: Aber wie erklären Sie sich auch generell diesen Trend? Solche Umfragen gibt es jedes Jahr. In diesem Jahr wie gesagt 59 Prozent laut Forsa, im letzten Jahr waren es 55. Das ist jetzt für Statistiker gar nicht so wenig, diese Zunahme um vier Prozentpunkte. Wie erklären Sie sich diesen Trend?

Die Schüler müssen dranbleiben, mehr arbeiten

Himmelrath: Ich denke, da kommen zwei Sachen zusammen. Das eine ist, dass Schule schon von den Schülern, aber ganz sicher auch von den Eltern als etwas empfunden wird, was in letzter Zeit zunehmend mehr Aufmerksamkeit, mehr Arbeit, mehr Vorbereitung, mehr Durcharbeiten erfordert. Und man hat so das Gefühl, na ja, wenn ich jetzt vier oder gar sechs Wochen oder sechseinhalb Wochen nichts mache, da werde ich abgehängt. Da ist die Gefahr riesengroß, dass ich tatsächlich da den Anschluss verliere.
Und in gewisser Weise ist das auch so. Es gibt Studien, die besagen, wenn man eben einen Intelligenztest macht mit Kindern oder einen Wissens- und Intelligenztest – das ist dann so eine kombinierte Geschichte – dann stellt man fest, wenn man wirklich sechseinhalb Wochen nichts getan hat, dann ist dieser Wert nach diesen sechseinhalb Wochen niedriger.
Aber es gibt eine zweite Untersuchung, die sagt, wenn man dann eben wieder anfängt zu lernen, dann stellt man fest, dass diese Pause auch gut getan hat, und das kennen wir ja vielleicht so ein bisschen aus der Sportwissenschaft, auch die klotzen nicht die ganze Zeit rein. Die Fußballer zum Beispiel bei der WM oder EM, die brauchen eben auch freie Tage zwischendurch, und so ähnlich ist das mit den Ferien auch.
Zweiter Punkt ist natürlich, dass viele Eltern auch erkannt haben, der Schlüssel zum Bestehen in dieser Gesellschaft, zum Aufstieg, ist Bildung. Und da entsteht natürlich auch wieder ein Druck, der an die Kinder weitergegeben wird. Und ganz oft sind es eben auch die Eltern, die sagen, jetzt macht doch mal, jetzt leg dich nicht sechs Wochen auf die faule Haut, wie das dann heißt, sondern jetzt hau rein und tu was und lern und mach Vokabeln oder was auch immer.
Kassel: Nun zeigt aber diese Umfrage – ich will da jetzt nicht ständig drauf zurückkommen, aber ich finde, es gibt noch ein interessantes Detail dabei – nun zeigt diese aktuelle Umfrage einen klaren Unterschied, nämlich folgenden: Bei den Kindern, deren Eltern selbst nur einen Hauptschulabschluss haben, liegt der Anteil der Kinder, die in den Ferien lernen müssen, bei über 70 Prozent. Bei den Kindern wiederum, deren eigene Eltern mindestens Abitur oder einen Hochschulabschluss haben, ist er viel geringer. Weist nicht das schon darauf hin, dass das Problem auch ziemlich bei den Schulen liegt?

Eltern leiden unter "Bildungspanik"

Himmelrath: Es hat, glaube ich, tatsächlich sehr stark damit zu tun, mit dem, was der Soziologe Heinz Bude Bildungspanik nennt, also die Idee, wenn ich nicht dran bleibe an diesem Bildungsthema, wenn die Kinder nicht weitermachen mit dem, was sie in der Schule lernen, wenn sie nicht ununterbrochen im Grunde sich neues Wissen draufschaufeln, dann haben sie in dieser Gesellschaft keine Chance mehr. Und da setzt natürlich auch das an, was Schule macht, da haben Sie völlig recht. Wenn Schule natürlich dieses Gefühl vermittelt, na ja, wenn ihr jetzt sechs Wochen aufhört, dann habt ihr hinterher aber riesige Schwierigkeiten, dann läuft auch was in Schule falsch.
Ich glaube, dass diese beiden Entwicklungen zusammenkommen, also aus den Elternhäusern, die wirklich so das Gefühl haben, wir dürfen uns da keinen Aussetzer mehr leisten im Bildungsbereich, und auf der anderen Seite aus der Schule, die möglicherweise unter Druck steht, vielleicht gerade in den Bundesländern, in denen eben das kurze Gymnasium eingeführt wurde, G8. Da wird darüber diskutiert, dass derselbe Stoff in kürzerer Zeit gelernt werden muss, und da entsteht natürlich dieser Druck, wo dann alle das Gefühl haben, oh, sechs Wochen, das ist viel zu lang, da dürfen wir überhaupt gar nicht zu kommen. Wir dürfen maximal zwei, drei Wochen Pause machen.
Aber lernpsychologisch, wie gesagt, ist das völliger Unsinn. Man braucht diese Auszeiten. Man braucht auch lange Auszeiten. Man braucht auch wirklich den Punkt, wo vielleicht Schülerinnen und Schüler dann mal dahin kommen, dass sie nach vier oder fünf Wochen sagen, jetzt wird es mir so ein bisschen langweilig – wäre schon schön, wenn das Schuljahr wieder anfängt. Bei mir früher war das noch so, ich wurde aber tatsächlich von meinen Eltern dann auch weitgehend in Ruhe gelassen.
Kassel: Aber Thema "Man braucht Auszeiten". Bei immer mehr Erwachsenen ist es ja auch so, dass diese Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit verschwimmt. Man liest in der Freizeit, auch im Urlaub noch E-Mails, führt berufliche Telefonate. Ich kenne Leute, die wirklich im Urlaub auch mal einen Tag ins Büro gehen, damit da nicht zu viel liegen bleibt. Sehen Sie da einen Zusammenhang, dass bei Erwachsenen diese Grenze verschwimmt und dann vielleicht bei Schülern auch immer mehr die Grenze zwischen Ferien und Schulzeit?
Himmelrath: Diesen Zusammenhang sehe ich auf jeden Fall, denn das ist etwas, was die Schülerinnen und Schüler ganz sicher sehen und lernen bei ihren eigenen Eltern, bei anderen Erwachsenen. Es ist aber, glaube ich, auch was, was sie so im eigenen Kommunikationsverhalten selbst mitbekommen.
Wo ich vielleicht früher noch in Urlaub gefahren bin und dann einfach sechs Wochen lang oder drei Wochen lang mit meinen Freunden nicht telefonieren konnte, oder vielleicht mal einen Brief schreiben oder eine Postkarte, da wird heute natürlich doch fast stündlich hin- und her-gewhatsappt oder gemessaged.

Die Abgeschiedenheit während des Urlaubs gibt es nicht mehr

Und diese enge Vernetzung, dieses enge Dranbleiben an dem, was man eben sonst auch hat, befördert natürlich nicht unbedingt eine Einstellung, dass man sagt, na ja, jetzt komme ich irgendwie so ein bisschen runter oder ich gewinne Distanz oder ich muss auch nicht über alles sofort innerhalb von zehn Sekunden wieder mit jemand reden, sondern vielleicht nur mit den Leuten, mit denen ich gerade in diesem Urlaub unterwegs bin.
Also diese Abgeschiedenheit, die früher auch mit Ferien durchaus verbunden war, die haben wir natürlich nicht mehr. Und da ist es natürlich schwer, dann zu sagen, na ja, wenn mir jetzt eine Freundin irgendwie was schickt oder ein Freund und lästert über einen Lehrer, dass ich mich als Schüler nicht auch damit beschäftige.
Und wenn dann jemand sagt, hast du schon gehört, nächstes Schuljahr müssen wir das und das machen, dann entsteht natürlich sofort wieder dieser Druck, oh ja, damit muss ich mich beschäftigen, da muss ich hinterher bleiben.
Und das ist, glaube ich, so ein bisschen das, wo diese schnellere Entwicklung in der Gesellschaft sich auch ganz stark auswirkt auf das, wie Schüler untereinander kommunizieren. Es ist natürlich nicht verwunderlich. Es sind die Schüler dieser Gesellschaft, es sind die Kinder dieser Gesellschaft. Und andersherum ist Schule genau das, was auf die Gesellschaft vorbereitet. Insofern befeuert sich das gegenseitig.
Kassel: Die Sommerferien sind für immer mehr Schülerinnen und Schüler die Zeit, in der sie versuchen nachzuholen, was sie in der Schule nicht geschafft haben. Kritik daran, sehr unalarmistisch, was ich sehr angenehm fand, aber wir haben schon verstanden, glaube ich, Herr Himmelrath …
Himmelrath: Das hoffe ich!
Kassel: Kritik – nicht, das man jetzt das Gefühl hat, da sagt der Fachmann, soll man ruhig. Sagen Sie, streng genommen, nicht.
Himmelrath: Mehr Gelassenheit und tatsächlich auch mal durchatmen. Ich würde sagen, mindestens viereinhalb Wochen, lieber fünfeinhalb.
Kassel: Oder fünfdreiviertel. Aber jetzt verhandeln wir nicht mehr miteinander. Der Wissenschafts- und Bildungsjournalist, Buchautor und Dozent Armin Himmelrath war das. Ich danke Ihnen für das Gespräch, wünsche Ihnen einen schönen Tag noch!
Himmelrath: Danke gleichfalls, tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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