Europas Einigung und ihr deutsches Herz
Am 25. Mai wählen die EU-Bürger das europäische Parlament. Wie geht es in Zukunft weiter mit dem Projekt Europa? Und welche Rolle fällt Deutschland dabei zu? Darüber sprechen wir mit dem Historiker Wilfried Loth und dem italienischen Politologen Angelo Bolaffi.
Claus Leggewie: Willkommen zu einer neuen Ausgabe von Lesart Spezial aus dem Grillo-Theater in Essen, das Deutschlandradio Kultur mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut und der Buchhandlung "p roust" veranstaltet. Unser Medienpartner ist die "Westdeutsche Allgemeine Zeitung". Mein Name ist Claus Leggewie. Guten Tag.
Ach Europa! Europa scheint in schlechter Verfassung zu sein. Die Schuldenkrise hat die Europäische Union innerlich und in ihrer Außenwirkung geschwächt. Die russische Annexion der Krim holt sogar das Schreckgespenst des Krieges hervor. Und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament am 25. Mai könnten nationalpopulistische Europagegner die Gewinner sein.
Ja, Europa! Wie Europa nach 1945 zu einem Erfolgsmodell geworden ist, zeigt der Essener Historiker Wilfried Loth in seinem neuen Buch "Die Einigung Europas", erschienen im Campus Verlag Frankfurt, während der italienische Politologe Angelo Bolaffi aus Rom die Rolle des deutschen Modells in Europa beleuchtet und für die deutsche Hegemonie streitet. "Deutsches Herz, das Modell Deutschland und die europäische Krise" heißt sein Buch, was im Klett-Cotta Verlag erschienen ist. Ich begrüße beide Autoren recht herzlich.
Herr Loth, wie schreibt man als seriöser Historiker, der Sie ja nun eindeutig sind, eine unvollendete Geschichte auf? Ist das etwas, was Historiker nicht eigentlich vermeiden müssen, unvollendete Geschichten aufzuschreiben?
Wilfried Loth: Na ja, man sollte keine Angst vor der Unvollkommenheit haben und nicht Themen scheuen, die noch nicht abgeschlossen sind. Und das europäische Projekt ist nicht abgeschlossen. Die Europäische Union ist nicht abgeschlossen. Die wird wahrscheinlich auch nie abgeschlossen sein. Dennoch ist es etwas, was uns heute betrifft. Und um zu verstehen, warum die Europäische Union so funktioniert, so aussieht, so wenig funktioniert, wie sie nun mal funktioniert, ist es notwendig, sich ihre Genese anzuschauen. Und das hab ich getan.
Claus Leggewie: Sie sind einer der ausgewiesenen Spezialisten für die europäische Zeitgeschichte, lehren das jetzt schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert auch hier an der Universität in Essen. Jetzt sind Sie, wie sich das für einen Historiker gehört, nochmal in die Archive gegangen. Also, Sie haben sich Archivmaterial hervorgeholt zu Europa. Welche neuen Erkenntnisse bringt man denn noch mit über Europa?
Wilfried Loth: Sehr viele neue Erkenntnisse, Entscheidungen auf europäischer Ebene fallen ja in der Regel im Licht der großen Öffentlichkeit, was eines der Probleme Europas dar stellt. Sie fallen meistens hinter verschlossener Tür. Und Historiker sind natürlich bemüht, diese verschlossenen Türen zu öffnen, um zu sehen, wie die Dinge tatsächlich zustande gekommen sind. Und da zeigt sich, dass vieles doch anders ist oder komplizierter, als man sich das so normalerweise vorgestellt hat.
Claus Leggewie: Da werden wir ja vielleicht noch ein Beispiel zu hören bekommen. Herr Bolaffi, Sie haben das Buch gelesen. Wie fanden Sie es? Wie würden Sie es uns empfehlen? Was haben Sie zum Buch zu sagen?
Zwei Geschichten der europäischen Einigung
Angelo Bolaffi: Ich bin kein Historiker und habe großen Respekt vor den Historikern, die in der Lage sind, so große Leistungen zu verwirklichen. Mir fehlt aber die Dramatik in diesem Buch, muss ich ehrlich sagen. Ich meine, Europa war ein ruhiges Projekt, solange es ging. Aber jetzt sieht die Lage ganz anders aus. Und ich vermisse diese Dramatik in Ihrem Buch, besonders wenn ich das Kapitel 6 lese, "Jahre des Ausbaus 1984-1992". Aber dazwischen sind zwei Welten entstanden, ist der Kalte Krieg zu Ende gegangen, hat es die deutsche Einigung gegeben. Die Berliner Mauer ist gefallen. Die neue Währung. Ich meine, die heutige Krise ist dort entstanden. Das ist ein Kontinuum in der Geschichte Europas.
Ich glaube, wir müssen zwei Geschichten der europäischen Einigung lernen, eine alte Geschichte, die auf Voraussetzungen basierte, die es nicht mehr gibt, das heißt, Teilung Deutschland und Bedrohung Russland, und auf der anderen Seite jetzt sozusagen die Krise des Kalten Krieges. Die deutsche Einigung hat die Karten neu gemischt. Und die jetzige Krise und die Erfindung des Euro basieren genau auf der neuen Realität. Ohne die deutsche Einigung wäre die gemeinsame Währung nie zustande gekommen.
Wilfried Loth: Das sehe ich auch so und das können Sie auch in dem Buch nachlesen, wie das entstanden ist im Einzelnen. Nur: mangelnde Dramatik? Also, Sie betonen ja auch, es gibt Kontinuität in der Entwicklung. Und es gibt auch Kontinuitäten über 1989/1990 hinweg. Wenn Sie dieses Beispiel Euro nehmen, darüber ist lange verhandelt worden. Da hat es lange Vorbereitungen gegeben. Und einige der Akteure, insbesondere der französische Präsident Mitterand hat gemeint, schon vor 1989, vor der deutschen Wiedervereinigung, jetzt ist der Zeitpunkt da, das zu verwirklichen.
Es ist nicht vorher verwirklicht worden, sondern erst im Zuge der deutschen Vereinigung. Da würde ich Ihnen zustimmen. Nur ohne die lange Vorgeschichte des Euro wäre es auch dann nicht verwirklicht worden.
Und das heißt auch, dass Sie meines Erachtens in Ihrer Darstellung die Dramatik von 1989/90 zu stark betonen. Ich stimme allem zu, was Sie gesagt haben, dass der Euro nur in dieser Situation der deutschen Vereinigung verwirklicht werden konnte. Wo ich nicht zustimme, ist bei Ihrem Ausgangspunkt. Sie haben argumentiert, die deutsche Teilung und der Kalte Krieg, das seien die Grundlagen der alten Geschichte der europäischen Einigung gewesen. Über den Wegfall des Kalten Krieges und der deutschen Teilung kommt jetzt eine neue Geschichte. – Nein. So sehe ich das nicht.
Das Projekt der europäischen Einigung ist älter als der Kalte Krieg. Das ist auch älter als die deutsche Teilung. Die deutsche Teilung und die Teilung der Welt, um das etwas großformatig zu formulieren, die Teilung der Welt war in gewisser Weise sogar ein Hemmnis gegen die Verwirklichung von europäischen Einigungsproblemen, weil nämlich ein ganz zentrales Motiv für europäische Einigung Friedenssicherung, Frieden in Europa...
Einwurf Bolaffi: Aber es war genau die deutsche Frage.
... in Zeiten des Kalten Krieges nicht zu lösen war mit der westeuropäischen Einigung.
Claus Leggewie: Die Intellektuellen, die das Europaprojekt schon vorher hatten, schon in der Zwischenkriegszeit, über den Krieg hinweg, zum Beispiel die Widerstandsbewegung, die so genannten Föderalisten, die es da gegeben hat, die spielen in Ihrer Darstellung eine große Rolle. Das heißt, Sie fangen an mit der Konferenz, die es 1948 gegeben hat auf Initiative oder jedenfalls unter der großen Schirmherrschaft von Churchill. Und Sie zeigen da, welche Akteure da eigentlich dabei waren.
Es ist vielleicht nicht schlecht, einfach daran nochmal zu erinnern, weil es ja auch an die Frage von Bolaffi anknüpft. Von wo kommen sozusagen die Energien her? Ist das eine Reaktion auf, wie viele gesagt haben, Stalin, auf die Bedrohung aus dem Osten? Ist es ein Produkt des Kalten Krieges? Wo sind sozusagen die Antriebe für Europa, die von den Konjunkturen unabhängig sind?
Wilfried Loth: Also, zunächst mal, es sind nicht nur die Intellektuellen oder Intellektuelle, es sind eine ganze Reihe von Politikern unterschiedlicher Couleur. Und es sind Wirtschaftsführer.
Einwurf Leggewie: Geld und Geist, würde ich sagen.
Erfahrung der Weltkriege, das Streben nach größeren Märkten
Wilfried Loth: Ja. Und die Antriebskräfte kommen aus zwei Richtungen. Das eine ist wirklich die Erfahrung der Weltkriege, die Erfahrung dieser Gewalteruptionen und die Sorge, dass das in Zukunft verhindert werden muss – in Europa, aber auch generell. Und das ist ein ganz zentrales Motiv für europäische Einigungsprobleme immer gewesen und auch über die Wende zum Kalten Krieg hinaus geblieben.
Das Zweite unabhängig davon ist das Streben nach größeren Märkten, in denen man rationaler produzieren kann. Eine ganz große Rolle hat dieses Argument etwa in der europäischen Linken gespielt bei Sozialdemokraten und Gewerkschaften, die argumentiert haben, und zwar schon vor dem Ersten Weltkrieg, aber auch in den Jahren nach 1918: Wir brauchen Märkte in der Größenordnung des amerikanischen Marktes. Dann können wir mehr Wohlstand produzieren. Das kommt den Arbeitern zugute. – Das heißt, die haben europäische Einigung als ein genuines Projekt der Arbeiterbewegung gesehen. Und das fließt genauso in die Diskussionen der Zeit nach 1945 oder nach 1948 ein wie das Friedensmotiv.
Dann kommt das deutsche Problem hinzu, das ein sehr spezifisches, sagen wir, geopolitisches Problem darstellt. Deutschland in der Mitte Europas in einer Größe, die nicht ausreicht zur Hegemonie, aber gleichzeitig Deutschland zu einem Land macht, das den Zusammenschluss der europäischen Nachbarn gegen eine potenzielle deutsche Hegemonie hervorruft.
Andreas Hillgruber hat das "die halbhegemoniale Stellung Deutschlands" genannt. Das kann man versuchen dadurch zu lösen, dass man dieses große Deutschland in seinen Möglichkeiten beschränkt. Das hat man nach 1918 versucht – mit dem kontraproduktiven Ergebnis, dass dann Revanchismus und Nationalismus in Deutschland hervorgerufen wurde.
Und um dies zu verhindern, ist dann immer wieder von Europäern argumentiert worden: Um eine erneute Wiederholung dieses Geschehens von 1919 ff. zu verhindern, muss man Deutschland in eine supranationale Struktur einbinden, genauso wie alle anderen europäischen Länder auch. Dann haben wir eine Situation der Gleichberechtigung, in der das deutsche Potenzial für Europa arbeiten kann und nicht gegen die europäischen Nachbarn.
Claus Leggewie: Angelo Bolaffi, Ihr Buch heißt ja "Deutsches Herz". War Deutschland immer schon das Herz, das heißt ja, die vitale Kammer, das, worum sich alles dreht, das, woran alles hängt in Europa?
Angelo Bolaffi: Es sollte auch eine Provokation sein, weil normalerweise die Europäer glauben, dass die Deutschen kein Herz haben und deshalb herzlos seien. Deshalb wollte ich zeigen, dass nicht nur das politische, sondern auch das normative Deutschland eine wichtige Rolle in der europäischen Einigung hatte.
Heute muss man einfach konstatieren, dass Deutschland der core stability Europas ist, demokratisch core stability Europas. Um es herum sind die Länder, die irgendwie wirtschaftliche Probleme, politische Probleme haben – Italien, Griechenland, Spanien, Frankreich, sogar Holland. In Deutschland gibt's Gott sei Dank keine fremdenfeindliche Partei, bis heute keine europafeindliche Partei im Parlament. Das ist immerhin was, ich meine, im Vergleich zu anderen Ländern.
Das Modell Deutschland bedeutet Föderalismus, Soziale Marktwirtschaft, Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung. Das sind die Errungenschaften, die normativ und sozial was bedeuten, sogar wie das Parlament funktioniert mit seinem konstruktiven Misstrauensvotum.
Übrigens, wenn man den Lissabon-Vertrag liest, da steht, dass die Soziale Marktwirtschaft die Richtlinie sein muss, um die herum Europa aufgebaut werden soll. Hinzu kommt eine große Debatte über so genannte Spar-, Austeritätspolitik und Keynesianische Politik. Das ist eine wichtige Diskussion, aber eine transatlantische Diskussion. Denn wenn man mit amerikanischen Ökonomen diskutiert, die gehen davon aus, dass das, was in Deutschland stattfindet, ein Raubvogelkapitalismus ist, wie Reagan oder Frau Thatcher, ohne zu wissen, dass die Lage ganz anders aussieht. Ich meine, das ist eine große interessante Diskussion.
Ich glaube, wenn wir Europa erreichen werden, muss dieses Deutschland selbstbewusst, weitsichtig, ruhig, aber dezidiert das Projekt Europa vorantreiben unter bestimmten normativen Bedingungen. Wenn das nicht klappt, haben wir ein Problem.
Claus Leggewie: Herr Loth, stimmen Sie zu?
Das Herz der EU hat sich von Frankreich nach Deutschland verschoben
Wilfried Loth: Also, da bin ich ganz auf Ihrer Seite, auch bei der Beobachtung, dass natürlich mit der Wiedervereinigung und dann vor allen Dingen der Osterweiterung der Europäischen Union das Herz, wie Sie es formuliert haben, der Europäischen Union sich von Frankreich nach Deutschland verlagert hat. Deutschland ist die gebende Führungsmacht der Europäischen Union aufgrund der stabilen und, wie ich auch denke, einigermaßen vernünftigen politischen und wirtschaftspolitischen Kultur.
Und ich habe Ihr Buch auch gelesen als eine Polemik gegen das Deutschland-Bashing und noch besser Merkel-Bashing, das nicht nur in Italien unter Intellektuellen und Politikern sehr verbreitet ist, sondern auch in Frankreich und selbst in den USA. Die Frage ist allerdings, und da bin ich mir nicht so sicher, was Sie meinen bzw. ob das, was Sie sich erhoffen, tatsächlich möglich ist, ob die Deutschen denn auch der Verantwortung, die da auf sie zugekommen ist, gerecht werden. Ich bin nicht ganz sicher, wie Sie die bisherige deutsche Europapolitik beurteilen. Ist, sagen wir, die Regierung Merkel dieser Verantwortung bisher gerecht geworden? Oder was müsste sie tun, um ihr in Zukunft gerecht zu werden?
Und eine andere Frage: Kann sie es überhaupt? Sie betonen in Ihrem Buch zurecht, dass es in der Europäischen Union unterschiedliche wirtschaftliche Modelle gibt, die eben nicht nur mit Wirtschaftslehren zu tun haben, sondern mit unterschiedlichen kulturellen Traditionen und mit unterschiedlichen Erfahrungen in der wirtschaftlichen Entwicklung. – Wie soll denn unter deutscher Führung jetzt dieser wirtschaftlich homogene Raum, diese wirtschaftlich homogene Region entstehen, die in globaler Perspektive wettbewerbsfähig ist?
Angelo Bolaffi: Ich bin mir nicht sicher, dass die deutsche Elite im Moment in der Lage ist, auf Sicht die Verantwortung zu übernehmen, die sie auf sich nehmen müsste. Das muss man sehen. Die Frau Merkel hat diese Position verteidigt und dabei durchgesetzt, heute wir wissen, dass die Peripherieländer schon besser sind. Das heißt, es könnte sein, dass diese Rezepte funktioniert haben.
Ob Deutschland in der Ukraine, in der ukrainischen Krise, das kann, das wird eine ganz gefährliche Frage. Weil, ich merke schon, dass alte Positionen wieder aufkommen, man müsse sozusagen gegen den Westen, gegen die Amerikaner die Russen verstehen. Die haben schon ihre Rechte verletzt. Ich meine, das sind schon gefährliche alte Positionen.
Wie kann man ein Wirtschaftsmodell ....? Richtige Frage, Gegenfrage: Sie haben selber gesagt, Europa kann nur funktionieren, wenn es sich auf der Weltebene, der globalen Welt durchsetzen kann. Moment! Entweder kann es sich durchsetzen und kann das nur, wenn sich ein europäisches Modell entwickelt. Oder müssten sich die verschiedenen Länder allein durchsetzen? Dann ist die europäische Idee kaputt gegangen. Ich glaube, wenn die Ferrari mit BMW konkurriert, die wollen beide ein gutes Auto bauen. Die wollen nicht die kulturellen Unterschiede verteidigen. Wenn ich einen Arbeiter in Italien frage, wo er am besten arbeiten würde, da sagt er, in Deutschland. Da fühle ich mich besser beschützt. Wenn ich die Politiker frage, wo die Parteien am besten funktionieren, ist das in Deutschland. Insofern kann man von einem Modell reden, ohne zu übertreiben.
Claus Leggewie: Eine der wichtigen Aufgaben der deutschen Politik wäre im Moment allerdings, da wir ja so was Ähnliches wie Wahlkampf haben gerade, das Projekt Europa einmal zu erklären. Das, was wir jetzt hier beschreiben, ist eben in vieler Hinsicht kein Projekt mehr für die Jüngeren, weder das Argument, das war die Friedensstiftung, noch das Argument, das ist eben das große erweiterte Europa, in dem ihr euch hin- und herbewegen könnt ohne jede Restriktion – vom Nordkap bis nach Cabo de São Vicente in Portugal und eben bis runter nach Griechenland.
Das ist so selbstverständlich, dass alle die Motive, die wir jetzt sozusagen historisch herausarbeiten, das schreiben Sie auch in Ihren Schlusskapiteln sehr genau auf, Herr Loth, dass die im Grunde genommen zwar das Funktionieren der Europäischen Union auch gerade in diesem Krisenmodus, sozusagen Krise auf Krise und die Krise ist eigentlich die Reproduktionsweise dieser Integration gewesen, dass das im Grunde genommen für jüngere Menschen auf diesem Kontinent entweder eine banale Selbstverständlichkeit ist oder etwas, was nicht mehr verstanden wird.
Angelo Bolaffi: Aber wenn wir, entschuldigen Sie mal, wenn die arbeitslos werden, da müssen Sie fragen, ob Europa funktioniert oder nicht, ob sie mögen oder lieben oder hassen. Und die Jugend fängt im Moment an, Europa zu hassen. Hassen ist besser als Selbstverständlichkeit.
Claus Leggewie: Schon mal ein gewichtiger Gewinn, weil ein großer Teil der französischen Euroskeptiker genau so reagieren würde: Weil ich hier arbeitslos werde, dann liegt das an Frau Merkel und Deutschland und deswegen bin ich erst Recht gegen Europa.
Wilfried Loth: Das heißt aber, Europa wird gehasst, weil man Europa nicht versteht. Da beißt sich die Katze sozusagen in den Schwanz, weil man glaubt, es sei Brüssel dafür verantwortlich. Für die Arbeitslosigkeit hasst man Europa. In Wirklichkeit ist es ja so: Wir wissen, wenn wir genauer hinschauen, dass die wirtschaftlichen Probleme der europäischen Gesellschaften noch unendlich viel größer wären ohne diese ganze europäische Konstruktion, ohne den europäischen Markt und die Einhegung des europäischen Marktes.
Warum wird das nicht verstanden? Es wird deswegen nicht verstanden, weil die Entscheidungen auf der europäischen Ebene, wie ich eingangs sagte, so im Halbdunkel der geschlossenen Ministerratssitzungen zustande kommen und viel zu wenig in öffentlicher Debatte. Wenn man diese ganze Konstruktion zur Überwindung der so genannten Eurokrise jetzt nicht lediglich im Europäischen Rat und im Rat der Finanzminister diskutiert und beschlossen hätte, sondern öffentlich im Europäischen Parlament, und über diese Diskussion Öffentlichkeit hergestellt hätte, auch Alternativen öffentlich gemacht hätte, dann wäre dieses Brüssel-Bashing, was wir heute erleben, so nicht möglich.
Die EU war seit Beginn ein Eliten-Projekt
Angelo Bolaffi: Ich bin etwas skeptischer. Ich meine, Sie haben Recht, dass sicher von Anfang an das europäische Projekt von Eliten war. Da gibt es ein Demokratiedefizit in diesem Projekt sicher. Aber wenn nur zu wählen wäre, dass eine öffentliche Debatte, sozusagen im Sinne von Jürgen Habermas, das europäische Problem lösen würde, dann können Sie mir nicht erklären, warum je mehr Macht das Parlament hat desto weniger Leute zur Wahl gehen. Das Europäische Parlament ist viel zu weit, viel zu unbekannt.
Man muss neue Beziehungen zwischen der nationalen Ebene und europäischer Ebene schaffen. Erstens versucht sich die politische Klasse der verschiedenen Länder vor den großen Problemen dadurch wegzudrücken, dass sie sagen, das ist Brüssel oder, noch schlimmer, Frau Merkel. – Erst einmal die große Verantwortung. Ich meine, diese Kritik ist einfach ein Vorwand, um eine dumme Politik auf nationaler Ebene zu verwischen.
Zweitens sind die Franzosen, die sozialistischen, einfach gelähmt. Sie sind nicht in der Lage, die Entscheidungen zu treffen, die nötig sind. Ich glaube, Diskussion ist gut, Diskussion muss es geben, aber man muss erst einmal eine neue Beziehung, ein Verhältnis zwischen der nationalen Diskussion in nationalen Parlamenten und im Europäischen Parlament finden. Und zweitens muss die politische Elite endlich mal zu großen Fragen Position beziehen, Stellung nehmen und sagen: Es geht nicht einfach so. Wir müssen die Reformen anpacken.
Wilfried Loth: Da sind wir uns schon wieder einig. Es reicht nicht, die Rechte des Europäischen Parlaments zu stärken. Man muss vielmehr Diskussion und europäische Öffentlichkeit erst einmal herstellen auf vielen Ebenen, damit Politiker nicht mehr einfach so durchkommen mit diesen plumpen Tricks.
Claus Leggewie: Der Punkt, der hier ganz interessant ist, weil Sie ja nun auch unter anderem als Leiter des Italienischen Kulturinstituts in Berlin unser Land sehr gut kennen, dieses Buch aber zunächst einmal vor einem Jahr in Italien veröffentlicht haben, wo es jetzt gerade in die zweite Auflage geht. Sie können doch vielleicht ein bisschen sagen, wie unterschiedlich eigentlich die Diskussionen laufen in Italien und in Deutschland – über ein und dasselbe Buch oder über ein und dasselbe Thema.
Angelo Bolaffi: Ich habe mich nicht sehr beliebt gemacht mit diesem Buch, nein. Aber interessanterweise haben die Leute das Buch gekauft. Der Leser ist nicht dumm. Der will einfach verstehen, worum es geht. Ja, jetzt redet man schlecht über Deutschland. Aber: Was ist das für ein Land? Ich habe versucht durch dieses Buch Deutschland darzustellen. Und die Leute fanden das gut, interessant, spannend. Alte gute Europäer wie der Staatspräsident Prodi haben das Buch sehr geschätzt. Aber die jetzigen Politiker, erst einmal lesen die nicht, und zweitens versuchen sie das Buch etwas schlecht zu reden.
Claus Leggewie: Warum sollen es die Deutschen lesen?
Angelo Bolaffi: Erst einmal, weil ich glaube, dass die Kapitel über Weimar, diese Selbstkritik nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht unbedingt so zu lesen sind, die Rolle der re-emigrierten Juden. Ohne diese klugen, heroischen Menschen, Ernst Fraenkel zum Beispiel, ohne solche Leute hätte es neben Adenauer keine Bundesrepublik gegeben. Und zweitens, weil, ich will einfach die Deutschen dazu ermuntern, ein bisschen selbstbewusst aufzutreten, ohne nie zu vergessen, was passiert ist, immer sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, aber endlich mal auch Richtung Zukunft zu schauen.
Claus Leggewie: Kriegt man das hin, Herr Loth, vom europäischen Deutschland zum deutschen Europa, so wie es gerade Herr Bolaffi geschildert hat?
Wilfried Loth: Ja, man muss aufpassen, dass man da nicht Missverständnisse hervorruft. Deswegen tue ich mich ein bisschen schwer mit dem Modell Deutschland, auch mit dem Begriff der deutschen Hegemonie, die da entsteht. Ich habe jetzt keine griffige Alternative. "Das deutsche Herz" ist vielleicht gar nicht so schlecht als mögliche Alternative. Es geht ja nicht darum, sozusagen am deutschen Wesen soll Europa genesen.
Nein, aber dieses Missverständnis könnte hervorgerufen werden, wenn man sich nur an diese Begrifflichkeiten an diesem deutschen Modell hält. Sondern es geht darum, und das, finde ich, wird in dem Buch sehr schön gezeigt, dass ein unterdessen verwestlichtes und europäisiertes Deutschland prädestiniert ist oder hervorragend in der Lage ist, bei der Bewältigung der gegenwärtigen Probleme der Europäer in der Globalisierung eine Führungsrolle wahrzunehmen. – Das ist die Botschaft, so wie ich sie wahrgenommen habe. Und die ist sehr überzeugend.
Herrschaft, Hegemonie, Leadership
Claus Leggewie: Es könnte ja auch sein, dass wir dauernd Missverständnisse nicht entstehen lassen wollen, aber über lauter Verhinderung von Missverständnissen das, was wir eigentlich tun könnten oder sollten, nicht tun.
Ich sage mal ein Beispiel: Bolaffi hat die Austeritätspolitik von Merkel eigentlich befürwortet. Ich glaube, das ist viel zu wenig. Das heißt, man müsste im Mittelmeerraum sehr viel aktiviere Politik machen, also nicht nur Austerity.
Einwurf Bolaffi: Aber Frau Merkel ... . Die Austerity ist ein Ergebnis von nicht gemachten Reformen.
Sehr wahr, aber man muss auch den Ländern des Südens bestimmte ökonomische Alternativen bieten, wie es denn nun weitergehen soll.
Einwurf Bolaffi: Die haben die. Die wollen sie nicht wahrhaben.
Ja, schön und gut, da wäre dann vielleicht die deutsche Aufgabe, das ein bisschen deutlicher zu machen. Der zweite Punkt ist, das haben Sie schon angesprochen, die Art und Weise, wie auf Krisen an der europäischen Peripherie reagiert wird. Also, da sind die Deutschen eben sehr stark dabei, dauernd Missverständnisse, dass man das als imperial oder als zu forsch missverstehen könnte, zu beseitigen, statt das Richtige zu tun. Ich bin sehr einverstanden mit dem "Deutschen Herz", aber ich denke mir, dass hier Deutschland auch zu viel Kredit bekommt. Es wäre schön, wenn wir das alles täten, was Bolaffi sagt, aber ich denke, wir tun es nicht.
Angelo Bolaffi: Nur zwei Anmerkungen: Wäre ich ein Sophist, na gut, wollen wir nicht das Wort Hegemonie benutzen. Ich benutze das Wort der Hegemonie im Sinne von Antonio Gramsci und zwar positiv. Der benutzte das Wort der Hegemonie gegen die Idee von Herrschaft, Hegemonie ist als ein Modell, ein Beispiel. Die Arbeiterklasse sollte die anderen überzeugen, nicht beherrschen erst einmal. Zweitens, okay, wollen wir ein anderes Wort haben? Leadership, okay. Dann sind wir alle ruhig damit.
Einwurf Loth: Es haben nicht alle Gramsci gelesen
Und zweitens, Sie haben Recht. Ich glaube, es wäre sehr schön, wenn ein deutscher Politiker dasselbe täte, was damals Willy Brandt in Warschau gemacht hat. Das heißt, er käme nach Rom, wo '57 die Verträge unterschrieben wurden, und er hält eine Rede an die europäischen Völker und sagt: Brüder, jetzt müssen wir zusammen was machen. – Das wäre sicher schön und das ist sozusagen die große Schwäche von Frau Merkel. Sie ist in dieser Hinsicht herzlos.
Claus Leggewie: Wir geben es ihr aber mit auf den Weg. Angelo Bolaffi hat das Buch geschrieben "Deutsches Herz, das Modell Deutschland und die europäische Krise", erschienen bei Klett-Cotta. Wilfried Loth hat geschrieben "Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, erschienen bei Campus.
Und am Ende unserer Lesart geben unsere Gäste immer noch einen Literaturtipp. Angelo Bolaffi, was haben Sie mitgebracht?
Und am Ende unserer Lesart geben unsere Gäste immer noch einen Literaturtipp. Angelo Bolaffi, was haben Sie mitgebracht?
Angelo Bolaffi: Ich habe ein Buch, was sonst, "Modell Deutschland" mitgebracht, herausgegeben von Tilman Meyer, Karl-Heinz Paqué, Andreas Apelt, erschienen bei Duncker & Humblot. Es sind sehr schöne Aufsätze. Aber warum ich das mitgebracht habe, kann ich vorlesen? "Modell Deutschland: Deutschland könnte wegen seines mittleren Weges zwischen dem skandinavischen Wohlfahrtsstaat und dem angelsächsischen Kapitalismus ein Modell sein."
Claus Leggewie: Erschienen bei Duncker & Humblot. Herr Loth, Sie haben uns auch ein Buch zu empfehlen.
Wilfried Loth: Ich habe mitgebracht Hans-Gert Pöttering "Wir sind zu unserem Glück vereint". Das sind die Erinnerungen des langjährigen Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament und zeitweiligen Präsidenten des Europäischen Parlaments. Und das ist ein Buch, das es ermöglicht, das, was ich getan habe, das ist seine Untersuchung, ein Stück vorzuführen, nämlich hinter die geschlossenen Türen zu schauen.
Und bei Pöttering kann man sehen, wie Vertrauensbildung zwischen Politikern unterschiedlicher Provenienz in Europa funktioniert, wie Vertrauensbildung unter den Politikern dazu führt, dass diese EVG-Fraktion eine starke politische Kraft wird und dann auch einiges bewirken kann. Zum Beispiel die Art und Weise der Ostererweiterung ist Hans-Gert Pöttering zu einem wesentlichen Teil zu verdanken. Das erfahren Sie nicht, wenn Sie mein Buch lesen, aber wenn Sie dieses dazu nehmen, dann können Sie das wahrnehmen.
Claus Leggewie: Ideale Ergänzung. Das war eine Lesart Spezial aus dem Grillo-Theater in Essen. Deutschlandradio Kultur und das Kulturwissenschaftliche Institut und die Buchhandlung "Proust" veranstalten das. – Ich wünsche noch einen schönen Sonntag.