Lesart Spezial - Wirtschaft ohne Moral

Christoph Keese im Gespräch mit Inge Kloepfer und Hans Kollhoff |
Der CDU-Politiker Friedrich Merz vertritt in seinem Buch "Mehr Kapitalismus wagen" die These, dass kein anderes System mehr Wohlstand und Gerechtigkeit schafft. Und Thomas McCraw hat eine Biographie des Ökonomen Joseph A. Schumpeter vorgelegt.
Christoph Keese: Herzlich willkommen zur Lesart, dem politischen Buchmagazin auf Deutschlandradio Kultur. Am Mikrofon begrüßt Sie heute Christoph Keese.

Die Wirtschaftskrise hängt dräuend über unseren Köpfen. Und so soll sie im weitesten Sinne auch Thema unserer heutigen Sendung sein. Zahlreiche Analysen und Ratgeber sind bereits zur Krise geschrieben worden. Doch was mag uns das angehen, mag manch einer sich fragen. Eine ganze Menge: Geld, Moral, Gier und Verantwortung, diese Themen ragen weit aus der Welt der Wirtschaft in die Kultur hinein. Fragen wir uns also, was die Krise auf einer höheren Ebene zu bedeuten hat.

Neben mir im Studio begrüße ich die Wirtschaftsjournalistin Inge Kloepfer und den international renommierten Architekten Prof. Hans Kollhoff. Mit den beiden will ich heute über folgende Bücher sprachen: Friedrich Merz "Mehr Kapitalismus wagen. Wege zu einer gerechten Gesellschaft", und Thomas McCraws Biographie des Ökonomen Joseph A. Schumpeter.

Inge Kloepfer ist Autorin bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntageszeitung und Wirtschaftsjournalistin des Jahres 2005. Für die Gesellschaft der Bundesrepublik zeichnet sie ein düsteres Bild. "Der Reichtum wird uns nicht ausgehen, wohl aber die Gerechtigkeit. Zwischen Arm und Reich klafft eine Kluft, die von Jahr zu Jahr größer wird." Herzlich willkommen Frau Kloepfer.

Und: Hans Kollhoff, er ist Architekt von internationalem Rang und Professor in Zürich. Das berühmte Hochhaus im Backsteinstil am Potsdamer Platz in Berlin hat er gebaut, ebenso Villen für die Reichen und Wohnblocks für den Mittelstand. Herzlich willkommen, Herr Kollhoff.

Frau Kloepfer, Friedrich Merz ist das scheidende Wirtschaftsgewissen der CDU. Er hat ein Plädoyer für den Kapitalismus vorgelegt. Seine These: "Kein anderes System schafft mehr Wohlstand und Gerechtigkeit." Nun erleben wir die Wirtschaftskrise. Halten Sie Friedrich Merz für naiv?

Inge Kloepfer: Friedrich Merz ist sicher nicht naiv, sondern er schreibt dieses Plädoyer nur in einer Zeit, in der Kapitalismus in Misskredit geraten ist. Ich finde, er hat Recht, dass er das jetzt so macht. Denn das ist das System, das uns bisher den größten Wohlstand gebracht hat. Wir vergessen das, weil wir uns daran gewöhnt haben. Aber in manchen Teilen ist er vielleicht ein bisschen zu - in Anführungszeichen - oberflächlich für den normalen Leser, der im Grunde nicht mehr begreift, warum er in diesen Zeiten noch an den Kapitalismus glauben soll.

Christoph Keese: Was meinen Sie mit "oberflächlich"?

Inge Kloepfer: Er setzt vieles voraus. Er setzt sozusagen den Systemgewinn voraus. Der Kapitalismus hat über den Sozialismus gesiegt. Er muss das Allheilmittel sein. Und er macht es eben nicht im Schumpeterschen Sinne: wir müssen noch mehr über den Kapitalismus lernen, sondern er setzt eben voraus, dass das Gewinnstreben den höchsten Wohlstand bringt. Und im Grunde nimmt er die Leute dabei nicht mit.

Christoph Keese: Wenn ich das richtig rausgehört habe, stimmen Sie seiner Hauptthese schon zu. Jetzt haben Sie, Frau Kloepfer, gerade selber ein Buch veröffentlicht. Das heißt "Aufstand der Unterschicht". Darin schreiben Sie: "Ein Großteil der Stadtbewohner ist ökonomisch entbehrlich geworden. Das Sedieren der Bevölkerung, das wir jahrzehntelang betrieben haben, wird auf Dauer nicht mehr funktionieren. Die Welt ist härter, unberechenbarer, unsicherer geworden."Sind Sie doch anderer Meinung?

Inge Kloepfer: Nein, das sind Erscheinungen des Kapitalismus, der ja kein gesunder Naturzustand ist, sondern den man im Schumpeterschen Sinne pflegen und entwickeln muss. In meinem Buch spreche ich nicht gegen den Kapitalismus, aber natürlich gegen Erscheinungen, die er auch mit sich bringt. Ich bin natürlich für einen Leistungswettbewerb in unserer Gesellschaft, allerdings auf der Basis von Chancengerechtigkeit. Und bei uns ist das System ein bisschen heruntergekommen, weil es Leute davon ausschließt. Das müssen wir wieder herstellen.

Christoph Keese: Herr Kollhoff, Sie haben auch Friedrich Merz gelesen. Halten Sie ihn für naiv angesichts der Wirtschaftskrise?

Hans Kollhoff: Nein, ganz und gar nicht naiv. Was er schreibt, ist durchaus aktuell. Nur die Entwicklungen der Wirtschaftskrise rücken das, was er sagt, in ein anderes Licht als das vielleicht von ihm beabsichtigt war. Dass er dennoch dieses Buch gerade jetzt herausbringt, finde ich sehr mutig. Das trägt auch zur Diskussion bei. Ich glaube, es wäre falsch gewesen, nun sozusagen ein neues Kapitel aufzuschlagen.

Christoph Keese: Dennoch zeigt die Statistik, dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer breiter wird. Kann man dann wirklich davon reden, dass der Kapitalismus nicht nur Wohlstand für alle schafft, sondern auch noch die Moral begünstigt?

Hans Kollhoff: Ja nun, wir haben ja eine Form des Kapitalismus als soziale Marktwirtschaft. Und das relativiert ja den Turbokapitalismus, der Herrn Merz auch hin und wieder vorgeworfen wird. Ich glaube, darüber müsste man reden. Man müsste ein differenzierteres Bild des Kapitalismus zeichnen, als es vielfach geschieht.

Christoph Keese: Als Merz das getan hat. Wie würden Sie das differenziertere Bild zeichnen?

Hans Kollhoff: Ich würde den Kapitalismus insofern relativieren, dass er eben ausschließlich - und das kommt mir eben bei Schumpeter wie auch bei Merz zu kurz - auf Profitmaximierung ausgerichtet ist. Da würde ich gerne einen Kapitalismus ins Blickfeld rücken, der bürgerlichen Charakter hat, der von einem Unternehmertum getragen wurde, wie es bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gang und gäbe war, wo der schöne Satz "Eigentum verpflichtet" eine Rolle gespielt hat und wo hinter den Kapitalströmen auch Personen standen. Ich glaube, bis zu einem gewissen Grad ist die Anonymisierung, die da stattgefunden hat im Interesse einer Profitmaximierung, koste es, was es wollte, die vor allem gar nicht mehr durchschaubar ist, wo derjenige, der sein Geld in irgendeine Sache steckt, gar nicht mehr wirklich kontrollieren kann, was damit geschieht, ein Problem. Das kommt mir in den beiden Büchern, um die es hier geht, zu kurz.

Christoph Keese: Frau Kloepfer, wenn wir die Menschen in den Blick nehmen und uns anschauen, wie die Schere zwischen Arm und Reich breiter wird, wenn schon in den Schulen zwischen Gewinnern und Verlierern aussortiert wird, ist es dann so, dass der Kapitalismus, die vorherrschende Marktform, dazu führt, dass zwischen Gewinnern und Verlierern schon im Kindesalter getrennt wird und man im Laufe seines Lebens aus diesen Rollen kaum noch ausbrechen kann?

Inge Kloepfer: Ich glaube, das ist nicht so eine Frage des Kapitalismus, sondern wie wir unser System als solches organisiert haben. Der Kapitalismus an sich musste im Grunde in theoretischer Form dazu führen, dass jeder nach mehr strebt und jeder aus seinen Leistungen und Fähigkeiten das Beste macht. Das, was bei uns in unserer Gesellschaft passiert, hat mit Kapitalismus nichts zu tun. Wir haben einfach viele Leute, die nicht mehr in der Lage sind, aus ihren Fähigkeiten das Beste zu machen, weil sie gar nicht dazu kommen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Ich würde das also ganz streng trennen, muss ich ehrlich sagen.

Hans Kollhoff: Aber könnte es nicht sein, dass das, was wir unter Fähigkeiten gegenwärtig gesellschaftlich sanktionieren, nur ein ganz marginaler Ausschnitt dessen ist, was Menschen an Fähigkeiten mitbringen und ausleben können? Wenn ich sehe, wie die Schulen immer mehr ausgerichtet werden, auch die Universitäten natürlich, da spreche ich aus eigener Erfahrung, auf für die gegenwärtige Wirtschaft "brauchbare" Fähigkeiten und es fällt alles unter den Tisch, was nicht gerade diesem Mainstream folgt, dann lassen wir natürlich viele junge Menschen mit ihren Begabungen zurück. Wo bleibt denn das ganze Handwerkliche beispielsweise in dieser Diskussion?

Das führt natürlich dazu, dass die Schulkinder schon all das, was mit dem Computer getan werden kann, als ihre Zukunft sehen und alles andere unter den Tisch fällt. Die Schüler, die im künstlerischen oder handwerklichen Bereich tätig sind, die vielleicht gar nicht nach einem Hochschulstudium streben, die bleiben zurück und die fehlen uns dann aber auch gesellschaftlich.

Christoph Keese: Frau Kloepfer, wo kommen die Talente rein? Wo können wir sie einbringen? Wo kann sich jeder mit seiner eigenen Fähigkeit in dem Gesellschaftssystem entfalten, das wir haben?

Inge Kloepfer: Im Grunde von Anfang an. Es fängt natürlich in den Familien an. Das geht dann über die Schulen in die Ausbildungen. Die Menschen müssen viel wissen. Vor allem müssen wir, und da stimme ich Herrn Kollhoff zu, überlegen, was sie wirklich wissen müssen, dass sie kreativ, vernetzt, innovativ denken. Und dann brauchen wir sie alle am Arbeitsmarkt. Wir brauchen sie alle mit dem Bedürfnis viel Geld zu verdienen, sich nützlich zu machen, dann am Ende natürlich auch über sich selbst zu entscheiden, über ihre eigene Altersvorsorge im besten Sinne, wie Herr Merz das gesagt hat, über ihre eigene Gesundheitsvorsorge. Also, Talente einbringen muss man an jeder Stelle, in der demographischen Lage, in der wir uns befinden, mehr denn je.

Christoph Keese: Es gibt einen wunderbaren Satz von Kurt Tucholsky. Der hat mal gesagt: "Nationalökonomie ist die Metaphysik des Pokerspielers." Dahinter steckt der Vorwurf, dass wir am Ende in einem Kasino-Kapitalismus leben. Wo bleibt die Moral, Frau Kloepfer?

Inge Kloepfer: Da möchte auch auf das zurückkommen, was Herr Kollhoff vorhin gesagt hat. Er sagte, Kapitalismus sehen wir nur noch als reine Profitgier und Gewinnstreben an und es fehlt so die andere Seite. Zuerst mal muss man sagen: Was wir in der Finanzkrise und der jetzt stattfindenden Wirtschaftskrise erlebt haben, sind natürlich Auswüchse. Das ist eine Entkoppelung von Gesellschaft und Moral. Es gibt unglaublich viele Kapitalisten im guten Sinne in unserer Gesellschaft, das heißt, Menschen, die ihr eigenes Kapital einsetzen, um daraus mehr zu machen oder Arbeitsplätze zu schaffen. Das sind viele der mittelständischen Unternehmer. Die Moral ist also noch da. Die Moral ist auch bei vielen Unternehmern da, die sich sehr wohl um ihre Angestellten kümmern, weil sie wissen, dass das neben dem Geld ihr größtes Kapital ist.

Christoph Keese: Sehen Sie das auch so, Herr Kollhoff? Ist die Moral noch da oder leben wir in einem unmoralischen System?

Hans Kollhoff: Auch darüber kann ich nicht befinden. Ich darf nur von mir selber ausgehen und sagen: Wenn ich irgendwo Geld rein stecke, dann möchte ich schon wissen, was damit passiert. Dann möchte ich schon sehr genau wissen, wo das hin fließt. Ich kann das bis zum Schluss natürlich nicht kontrollieren. Das geht ja vielleicht weiter und manche Situationen sind auch so komplex, dass man sie nicht überschauen kann. Nur dieser Aspekt scheint mir verloren gegangen zu sein. Da reden wir noch gar nicht über Moral. Wir reden einfach darüber: Was befördere ich mit meinem privaten Investment?

Und wenn wir in einer Situation leben, wo der Rentner seine Zukunft sichern möchte, indem er sein Erspartes in irgendeinen Fond steckt, von dem er erhofft, dass er einen Zugewinn abwirft, aber überhaupt nicht mehr kontrollieren kann, was damit passiert, wo das hingeht, dann entsteht für mich ein Problem. Das ist meines Erachtens das Grundübel dieses Debakels der Finanzmarktkrise.

Inge Kloepfer: Er hat jetzt über das Finanzsystem gesprochen, ich über die Realwirtschaft.

Christoph Keese: Das wollte ich Sie gerade fragen. Wenn wir uns mal kurz abkoppeln von dem Geld, was wir als Anleger mit unserem Geld machen, was ist für Sie persönlich, bei ihrer persönlichen Arbeit der wichtigste moralische Grundsatz, den Sie beachten?

Inge Kloepfer: Bei meiner persönlichen Arbeit ist eigentlich Transparenz und Wahrhaftigkeit der wichtigste moralische Grundsatz.

Christoph Keese: Herr Kollhoff, für Sie?

Hans Kollhoff: Wahrhaftigkeit, das ist es.

Christoph Keese: Das bedeutet was?

Hans Kollhoff: Das bedeutet, sich - soweit es irgend geht - über die Zusammenhänge klar zu werden und dann auch in persönlicher Verantwortung die entsprechenden Schlüsse daraus zu ziehen. Die persönliche Verantwortung scheint mir in den vergangenen Jahren gelitten zu haben.

Christoph Keese: Wofür arbeiten Sie persönlich? Geld ist sicherlich ein Faktor, mit Sicherheit nicht der wichtigste. Was ist für Sie der wichtigste Grund, warum Sie arbeiten?

Hans Kollhoff: Das ist eine möglichst gute, qualitativ gute, wenn es irgend geht, vollendete Sache abzuliefern - in persönlicher, aber auch gesellschaftlicher Verantwortung.

Christoph Keese: Das würden Sie wahrscheinlich ähnlich formulieren, Frau Kloepfer.

Inge Kloepfer: Genau, vor allen Dingen mit meinem jüngsten Buch war das so. Man muss einfach versuchen, den Menschen, seinen Lesern und Zuhörern ein authentisches Bild dessen zu vermitteln, wie man diese Welt selber sieht - mit vollem Gewissen und Verantwortung. Wenn einem das gelingt, dann kann man sich im Spiegel schauen und dann lohnt es sich, dafür auch zu arbeiten.

Christoph Keese: Das zweite Buch, über das wir heute sprechen wollen, ist eine Biographie Joseph Schumpeters. Joseph Schumpeter, der berühmte Ökonom, der inzwischen als noch bedeutender angesehen wird als Keynes, ist der Prophet der Innovation. "Die Zerstörung von Unternehmen", ist seine zentrale These, "von Vermögen, Produkten und Karrieren ist der Preis unseres materiellen Fortschritts".

Herr Kollhoff, Sie sind Architekt. Sie müssen berufsmäßig zerstören, um Neues bauen zu können. Leuchtet Ihnen das Konzept der schöpferischen Zerstörung ein?

Hans Kollhoff: Das leuchtet mir durchaus ein, nicht jetzt direkt bezogen auf das Bauen, dafür wäre mir die Schumpetersche Haltung etwas zu rigoros. Es geht beim Bauen nicht darum, etwas zu zerstören, um sich dann hinterher selber in Szene setzen zu können. Aber vielleicht ist der Vergleich gar nicht so schlecht, weil - wenn der Architekt etwas zerstört, um etwas Neues zu bauen -, dann muss er sich sehr genau darüber klar werden, ob das, was später kommt, besser ist. Denn sonst rechtfertigt sich keine Zerstörung. Und es kommt noch etwas hinzu, dass nämlich dieses Gebaute, was da möglicherweise zerstört werden soll, vielleicht nicht nur die Leistung eines Einzelnen ist, sondern die Leistung einer Gesellschaft. Und wieweit dann ein Einzelner an dieses Zerstörungswerk gehen kann von etwas, was gesellschaftlichen Charakter hat, historisch aufgeladen ist, ein Teil der kollektiven Erinnerung ist, das ist die große Frage. Und da wäre ich dann sehr vorsichtig. Da wäre interessant von den Wirtschaftsleuten zu hören, ob es so etwas da gibt oder ob es sozusagen historische Dimensionen wirtschaftlicher Haltungen gibt, die nicht einfach aus der Perspektive eines Einzelnen betrachtet werden können und nach Schumpeter locker zerstört werden.

Christoph Keese: Sie haben teilweise ganz neu gebaut, zum Beispiel Ihr Hochhaus am Potsdamer Platz. Da stand bekanntlich vorher gar nichts in Berlin. Aber Sie haben ebenfalls in Berlin einen neuen Platz geschaffen, den Walter-Benjamin-Platz. Dort ist ein ganz großer von Ihnen gebauter Block mit großen Kolonnaden mit einem neuen Platz entstanden. Da haben Sie in eine bestehende Stadtlandschaft eingegriffen.

Hans Kollhoff: Da hat keine Zerstörung stattgefunden.

Inge Kloepfer: Und wenn Sie was hätten zerstören müssen, wäre das ja im Schumpeterschen Sinne höchst ökonomisch sinnvoll gewesen. Denn Zerstörung gerade in der Architektur heißt ja nichts anderes als Abriss, Abbau und Neuaufbau. Das ist eine Form von Wertschöpfung, schafft Arbeitsplätze, schafft etwas zu tun. Insofern wäre auch das sozusagen ökonomisch gesehen hoch sinnvoll

Hans Kollhoff: So abstrakt gesehen schon. Ich würde immer architektonisch argumentieren und sagen: Wenn ich etwas abreißen möchte, dann muss - es gibt ja auch Institutionen, die dafür sorgen, dass das sehr komplex debattiert wird, es gibt die Denkmalpflege beispielsweise - ich von Vornherein sehr sicher sein, dass das, was hinterher kommt, besser ist, und zwar auf umfassende Weise, dass das, was später kommt, nicht nur mehr Profit bringt - da würde ich sehr differenzieren, denn das ist ja meistens der Grund für Abrisse. Es muss die gesellschaftliche Komponente, die in diesem zum Abriss anstehenden Haus steckt, mit berücksichtigt werden. Sie hat ein Kollektivgedächtnis.

Christoph Keese: Aber Frau Kloepfer, genau das wissen wir doch in der Wirtschaft nicht. In der Architektur kann man es vielleicht wissen, in der Städteplanung auch. Aber in der Wirtschaft, wenn ein neues Unternehmen startet und durch seine Erfindungsgabe etwas Altes zerstört, dann wissen wir ja nicht, ob das Neue besser sein wird als das Alte. Also ist jede Innovation, ist jede Zerstörung gut?

Inge Kloepfer: Ja, jede Zerstörung, die also nicht mutwillig passiert, sondern aufgrund von Gewinnstreben und Innovationsstreben und Kapitaleinsatzbereitschaft ist natürlich gut, weil der Markt so was braucht. Trial and Error, Versuch und Irrtum.

Hans Kollhoff: Der Markt ist nicht alles. Da würde ich ganz massiv meinen Einwand erheben. Es geht nicht nur um die Überlebensfähigkeit des Marktes, sondern jenseits des Marktes gibt es eine Existenz und ein Leben. Es gibt eine Historie, es gibt eine Überlieferung, die auf keinen Fall den Entscheidungen eines Einzelnen ausgeliefert sein dürfte.

Christoph Keese: Man hat Sie mal einen "konservativen Revolutionär" genannt. Warum? Wie Sie nach menschlichen Maßen bauen wollen und Bauwerke aus der Moderne und Postmoderne ablehnen, die sich nicht nach menschlichen Maßen richten. Ein Zitat von Ihnen: "Ein Architekt kann sich von den Konventionen seiner Zunft nur unter größten Schwierigkeiten befreien. Denn wir bauen Räume für Lebewesen, die nicht aufhören werden, auf zwei Beinen zu laufen und die Welt durch ihre fünf Sinne wahrzunehmen." Also ist man schon konservativ, wenn man sich nach Menschen richtet?

Hans Kollhoff: Das ist durchaus - gemessen am architektonischen Mainstream - konservativ.

Christoph Keese: Frau Kloepfer, was meinen Sie? Was ist konservativ? Ist auf den Menschen zu schauen konservativ?

Inge Kloepfer: Nein, das ist natürlich nicht konservativ. Das ist die Notwendigkeit, die man haben muss. Ich glaube, Herr Kollhoff und ich reden von relativ unterschiedlichen Dingen und sind gar nicht so wahnsinnig konträr. Ich rede von dem Innovationsprozess, der Ideen von Menschen in den Blick nimmt, der sie versucht umzusetzen, von denen auch andere Menschen wieder profitieren - im besten Schumpeterschen Sinne.

Herr Kollhoff redet von etwas anderem, denke ich. Ein Markt, der es ermöglicht, etwas zu produzieren und damit auch für Menschen ein neues Produkt zu schaffen und letztendlich dann auch Arbeitsplätze, ist natürlich hoch sinnvoll. Ich glaube, das würden Sie auch nicht infrage stellen.

Hans Kollhoff: Überhaupt nicht. Aber ich würde dafür plädieren, dass eine ökonomische Betrachtungsweise umfassender ist und da eben nicht nur das Schaffen von Arbeitsplätzen dazu gehört und Profitdenken.

Christoph Keese: Was ist mit der sozialen Gerechtigkeit, Frau Kloepfer? Ist das nur ein Schlagwort, ein modernes, populäres, politisch wirksames Schlagwort? Oder sollte man wirklich das Augenmerk auf soziale Gerechtigkeit richten?

Inge Kloepfer: Ja, das ist zum Schlagwort verkommen, weil wir ja nicht wissen, was wir darunter eigentlich verstehen. Für mich ist soziale Gerechtigkeit Chancengerechtigkeit. Für mich ist soziale Gerechtigkeit nicht eine Art von Umverteilungsgerechtigkeit, die dazu führt, dass wir möglichst Vermögens- oder Einkommensunterschiede haben. Das ist ganz wichtig. Insofern haben wir in den letzten Jahren natürlich diese Chancengerechtigkeit aus dem Blick verloren. Wir haben uns ja in unserer Gesellschaft auf eine Ständegesellschaft zu bewegt - oben, Mitte, unten. Das Ständische daran ist, in der Schicht, in die man hinein geboren wird, bleibt man dann auch. Das ist sozial vollkommen ungerecht. Unsere Gesellschaft ist ein bisschen verkommen, was die soziale Mobilität angeht. Da ist natürlich auch ein Teil dieser elitenorientierte Kapitalismus dran schuld, der Werte außer Acht lässt. Soziale Gerechtigkeit geht nur über Chancengerechtigkeit.

Christoph Keese: Es gibt ein mehrere hundert Jahre altes Konzept zur sozialen Gerechtigkeit, formuliert vom berühmten Ökonomen Adam Smith, das "Konzept der unsichtbaren Hand", dass nämlich - wenn der Einzelnen seinem Eigennutz folgt - damit automatisch, ohne weiteres Zutun durch die unsichtbare Hand Gemeinnutz entsteht. Sehen Sie das auch so?

Hans Kollhoff: Ich halte das für sehr theoretisch. Ich bin da nicht so optimistisch.

Inge Kloepfer: Da kann man eigentlich nur Schumpeter zitieren, über den wir ja hier auch reden, der eben sagt: "Kapitalismus ist kein Naturzustand. Das ist nicht wie bei Adam Smith, die unsichtbare Hand wird das alles regeln, sondern Kapitalismus ist ein hoch fragiles System, was gepflegt, entwickelt und vor allen Dingen verstanden werden muss, bearbeitet, immer weiter erforscht. Schumpeter hat ja mit unglaublicher Besessenheit sein ganzes Leben der Erforschung des Kapitalismus gewidmet. Insofern ist er heute aktueller denn je und könnte wahrscheinlich auch viele Fragen beantworten.

Ich habe übrigens gedacht, als ich das Buch gelesen habe, schade, dass wir ihn heute nicht fragen können, wie er das denn sieht.

Christoph Keese: Was hätte er denn gesagt?

Inge Kloepfer: Er hätte gesagt: Das ist alles nicht hinreichend erforscht. Wir müssen noch viel mehr über den Kapitalismus verstehen, wie er funktioniert, zu welchen Auswüchsen er führt.

Hans Kollhoff: Ich glaube, er hätte was anders gesagt. Er hätte gesagt: Wenn ich Risiken eingehe - und das muss ich, wenn ich mich im Kapitalismus verankert sehe, in jedem Fall -, dann ist auch der Absturz einprogrammiert. So konsequent war er ja selber. Und je größer das Risiko, desto größer die Gefahr des Absturzes. Insofern gibt’s da letztlich keine Möglichkeit, durch Forschung die Sache in den Griff zu bekommen, sondern das ist eine Frage des Einsatzes, hinter dem natürlich eine Gewinnerwartung steht.

Inge Kloepfer: Ja, aber ich denke, durch Forschung - das muss man ganz ehrlich sagen: Wir standen vor einer systemischen Krise, die man jetzt irgendwie vielleicht abgewendet hat. Viel davon haben wir noch nicht verstanden. So vermessen würde ich nicht sein. Und wir werden wahrscheinlich noch das eine oder andere Buch dazu lesen müssen.

Christoph Keese: Frau Kloepfer, einer, der versucht es zu verstehen, ist Horst Seehofer, Bayerns neuer Ministerpräsident. Er hat kürzlich gesagt: "Wir zahlen gerade die Zeche für den neoliberalen Marktradikalismus" - und das aus Bayern, aus der CSU. Hat er recht oder übertreibt er?

Hans Kollhoff: Es hört sich auf jeden Fall gut an.

Christoph Keese: Finden Sie, Herr Kollhoff? Stimmen Sie ihm inhaltlich zu?

Hans Kollhoff: Ja, aber es greift natürlich nirgends.

Inge Kloepfer: Es greift vor allen Dingen am Ende auch viel zu kurz. Die Zeche von Turbokapitalismus? Ich weiß es nicht, wir zahlen natürlich einen gewissen Preis dafür, dass wir ein bisschen vernachlässigt haben, dass der Staat stärker sein muss.

Christoph Keese: Wofür leben wir eigentlich, Frau Kloepfer? Nur für den persönlichen Wohlstand?

Inge Kloepfer: Das ist eine persönliche Frage. Sie müssten dann fragen: Wofür leben Sie eigentlich?

Christoph Keese: Gut, dann frage ich Sie das persönlich. Wofür leben Sie?

Inge Kloepfer: Ich dürfte dass dann aber auch gleich von Herrn Kollhoff hören, wofür er lebt. Also, ich lebe natürlich für meine Kinder, die nachwachsende Generation. Und ich lebe sehr dafür, dass meine Kinder es irgendwie nicht besser haben werden als ich, aber dass sie zumindest so rauskommen, dass sie auch so einen Lebensstandard halten können.

Christoph Keese: Das ist eine Menschheitskonstante. Man lebt dafür, dass es der nächsten Generation besser geht, die es dann wiederum genauso treibt. Herr Kollhoff, geht Ihnen das ähnlich?

Hans Kollhoff: Vielleicht bin ich davon nicht weit entfernt, aber ich lebe eigentlich dafür, dass wir mit den Möglichkeiten, die wir haben in unserer Zeit, auch mit den ökonomischen Möglichkeiten, die wir haben in unserer Zeit, nicht so miserabel gegenüber der Vergangenheit dastehen, wie wir es tun. Wenn wir die Natur nehmen, wenn wir die Städte nehmen, wenn wir unsere Gesellschaft nehmen - und da gehört die Erziehung der Kinder auch dazu -, dann muss man sich doch schon wundern, wie diese unglaublich reiche Gesellschaft auf all diesen Gebieten nur Mittelmäßiges oder Minderwertiges leistet.

Inge Kloepfer: Was man dann auch in die Zukunft projizieren könnte.

Christoph Keese: Ich würde Sie beide gern noch etwas anderes zu Schumpeter fragen. Schumpeter war ein Exzentriker, der so ziemlich jede soziale Norm und mit den Füßen betrampelt hat, die sich ihm bot. Unter anderem war er ein berüchtigter Lebemann und Frauenheld. Von ihm gibt es ein berühmtes Zitat: "Ich wollte immer der beste Ökonom der Welt, der beste Reiter Österreichs und der beste Liebhaber Wiens werden. Leider hat es mit dem Reiten nicht geklappt." Wie wichtig, Herr Kollhoff, ist Sinnlichkeit für Kreativität?

Hans Kollhoff: Es ist eminent wichtig. Es ist die Grundlage. Gut, natürlich können Sie kreativ sein ohne Sinnlichkeit, aber das Ergebnis wird niederschmetternd sein.

Christoph Keese: Muss man Exzentriker sein, um sinnlich zu sein?

Hans Kollhoff: Exzentriker müssen Sie nicht sein. Ich hielte das aber nicht für ein großes Problem.

Christoph Keese: Muss ein Architekt auch Visionär sein?

Hans Kollhoff: Natürlich muss er Visionär sein, aber dieses Visionäre wird sich von dem unterscheiden, was landläufig darunter verstanden wird. Heute geht man ja durch die Magazine und Zeitschriften und sieht, was unter Vision verstanden wird. Das halte ich weitgehend für infantil.

Christoph Keese: Frau Kloepfer, wenn Sie die Lebensläufe und -läufte des Schumpeter lesen, was empfinden Sie da?

Inge Kloepfer: Na, ich empfinde natürlich irgendwie großen Respekt vor diesem Mann, der vielleicht auch die eine oder andere Ausflucht gesucht hat. Denn ein kreativer Mensch ist eben oftmals dann auch außergewöhnlich. Die Sinnlichkeit und diese Exzentrik dieses Wissenschaftlers hat natürlich auch in seiner Forschung unheimlich große Vorteile gebracht. Der hat sich nämlich als Ökonom vor allen Dingen auch den sozialen Verhältnissen gewidmet. Er hat wahrscheinlich Empathie empfunden. Er hat genauer hingeguckt. Wer sehr sinnlich ist, wer sehr unkonventionell ist, der wagt natürlich auch einen unkonventionelleren, offenen, kreativeren, innovativeren Blick.

Hans Kollhoff: War er denn nicht vielmehr ein Spieler? Er war doch eine Spielernatur ohnegleichen und hat auch privat, wie in seinen Unternehmungen durchaus riskant gespielt. Ist er damit nicht eigentlich auch eine geradezu prototypische Figur für das, was momentan gerade in dieser Finanzwelt passiert? Zu diesem Spielerischen gehört natürlich, das Spielerische kann Grundlage jeder Kreativität sein oder ist es vielleicht sogar. Es gehört dazu diese Risikobereitschaft und durchaus auch die Erwartung des Scheiterns.

Christoph Keese: "Mensch ist der Mensch nur im Spiel" hat Friedrich Schiller gesagt. Ich glaube, Sie haben einen wichtigen Punkt getroffen.

Meine Damen und Herren, liebe Hörerinnen und Hörer, damit sind wir fast am Ende unserer Sendung angelangt. Doch bevor wir uns von Ihnen verabschieden, an dieser Stelle wie immer der ganz persönliche Buchtipp von Frau Kloepfer und Herrn Kollhoff. Welches Buch empfehlen Sie uns heute, Frau Kloepfer?

Inge Kloepfer: Ich würde für die Hörer der Sendung Lesart empfehlen: "Hammerstein oder der Eigensinn" von Hans-Magnus Enzensberger. Es ist wunderbar geschrieben, es ist auch sehr abwechslungsreich zu lesen, aber vor allen Dingen habe ich in diesem Buch persönlich zum ersten Mal eigentlich begriffen, wie schwierig die Weimarer Zeit gewesen ist und ich habe eine Ahnung davon erhalten, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass Hitler an die Macht kam, um dann in der Konsequenz diese Katastrophen in Deutschland anzurichten.

Christoph Keese: Und Ihr Buchtipp, Herr Kollhoff?

Hans Kollhoff: Den Lesart-Hörer könnte vielleicht "Global Player Faust" von Michael Jäger interessieren. Das hört sich erst mal etwas merkwürdig an. Ich hatte bei dem Titel auch erst mal Berührungsängste. In dem Buch geht es um ein neues Verständnis von Goethes "Faust", der ja geschrieben wurde über Zig Jahre. Im Grunde ist das ein biographisches Werk, wenn man so will. Und Jäger interpretiert es als Tragödie. Also, das, was wir unter dem Fortschrittsbegriff im "Faust" bisher gelesen haben, kehrt sich hier um und nimmt tragische Dimensionen an. Das rüttelt einen etwas durch.

Christoph Keese: Vielen Dank, Herr Kollhoff - zwei hochinteressante Bücher. Hier noch mal zum mitschreiben und vielleicht auch bestellen die Angaben:

Inge Kloepfer hat empfohlen: Hans Magnus Enzensberger, "Hammerstein oder der Eigensinn", erschienen bei Suhrkamp 2008. Und Prof. Kollhoff hat empfohlen: Michael Jäger "Global Player Faust oder das Verschwinden der Gegenwart", erschienen im WJS-Verlag ebenfalls 2008.

Gesprochen haben wir heute über zwei Bücher, einerseits Friedrich Merz "Mehr Kapitalismus wagen. Wege zu einer gerechten Gesellschaft" und Thomas McCraws "Biographie des Ökonomen Joseph A. Schumpeter". Das, liebe Hörerinnen und Hörer war die Spezialausgabe der "Lesart", unserem politischen Buchmagazin auf Deutschlandradio Kultur. Heute sind wir der Frage nachgegangen: Wirtschaft oder Moral?

Im Studio mit mir waren die Journalistin Inge Kloepfer und der Architekt Prof. Hans Kollhoff. Am Mikrophon verabschiedet sich Christoph Keese. Ihnen und uns allen noch einen schönen Tag.


Info: Inge Kloepfer: Aufstand der Unterschicht. Was auf uns zukommt.
Hoffmann und Campe, Hamburg, 2008