Leseförderung für jede neue Generation
Es sei egal, ob die Lust aufs Lesen durch digitale Formate oder Gedrucktes geweckt werde, sagt der Geschäftsführer der Stiftung Lesen im Vorfeld der Ehrung durch den Bundespräsidenten. E-Reader böten jedenfalls für die schwierige Zielgruppe der Jungs einen attraktiven Einstieg, so Jörg Maas.
Katrin Heise: Wenn Sie selbst als Kind eine begeisterte Leseratte waren, wenn Sie sich Nachmittage lang mithilfe dicker Wälzer in andere Welten träumen konnten, dann können Sie es wahrscheinlich gar nicht nachvollziehen, dass viele Kinder heute keinen Bezug zum Lesen zu finden scheinen. Eigentlich wird das Bücherlesen den Kindern ständig nahegelegt: In den Schulen gibt es Lesepaten, engagierte Erwachsene also, die den Kindern vorlesen oder andersherum ihren Leseversuchen lauschen; lesebegeisterte Mitschüler werden zu Lese-Scouts ausgebildet und werben für ihre Lieblingsbücher, und genau so etwas geschieht auch in Radio- und Fernsehsendungen für Kinder. Bestenfalls lesen auch noch die Eltern abends vor. Und trotz all dieser Bemühungen muss die Stiftung Lesen sich immer neue Methoden einfallen lassen, um Kinder fürs Bücherlesen zu begeistern. Für dieses Bemühen seit 25 Jahren wird die Stiftung heute vom Bundespräsidenten geehrt. Und ich begrüße den Geschäftsführer der Stiftung Lesen. Schönen guten Morgen, Jörg Maas!
Jörg Maas: Schönen guten Morgen, Frau Heise!
Heise: Eigentlich ist das ja irgendwie auch schade, dass sich eine Stiftung Lesen so intensiv ums Leseverhalten bemühen muss, und dass das nicht von alleine geht. Wie entwickelt sich das Leseverhalten der Kinder in den letzten 25 Jahren.
Maas: Na ja. Wenn man sich die aktuellen Zahlen anschaut, und in Deutschland leben im Moment 7,5 Millionen funktionale Analphabeten. Und wir wissen ja auch seit den PISA-Studien vor zweieinhalb Jahren, dass ungefähr jeder fünfte Fünfzehnjährige nicht richtig lesen und schreiben kann. Dann muss man natürlich sagen, dass sich das Leseverhalten nicht positiv entwickelt hat. Denn die Bildungszahlen sprechen sicherlich genau diese Sprache. Aber was wir natürlich auch sehen, ist, dass durch den Mix der Medien, sprich also nicht nur das Buch, sondern auch die Zeitungen, die Zeitschriften und zunehmend mehr auch die digitalen Formate natürlich heute so viel gelesen wird und auch gelesen werden muss wie niemals zuvor. Aber uns ist auch klar geworden in den letzten Jahren, dass allein auf Leseförderung in den Schulen nicht gesetzt werden kann, sondern dass im Grunde genommen auch bereits in den Familien angefangen werden muss, die Kinder dazu zu motivieren, zu lesen oder sich vorlesen zu lassen.
Heise: Jetzt haben Sie schon den Mix der Medien erwähnt, mit dem man ja lesen kann. Die Stiftung geht da zeitgemäße Wege, Sie setzen auf E-Reader und Lese-Apps. Was heißt denn das, werben Sie für diesen Gebrauch?
Maas: Nein, was wir tun, ist, dass wir noch mal sehr stark betonen, es geht nicht nur um das Lesen des guten Buches. Das ist sicherlich ein wichtiger Bestandteil im Bereich der Leseförderung, aber unsere Maxime lautet: Egal, welchen Zugang die Kinder finden, um Lust am Lesen zu entwickeln, denn die Freude am Lesen ist die Voraussetzung für die sich dann entwickelnde Lesekompetenz, das ist wichtig. Und es kann der "Kicker" sein als Zeitschrift, es kann auch die Zeitung sein, es können elektronische Formate sein. Und wir haben letztes Jahr eine Studie gemacht zum Thema, eignen sich Apps und digitale Formate auch zum Vorlesen? Und wir haben relativ schnell festgestellt: Abends, beim kuscheligen Vorlesen entweder im Bett oder auf dem Sofa wird immer noch das Buch genutzt, aber zunehmend mehr nutzt man eben oder nutzen Eltern auch die Wartezeit beim Friseur, beim Kinderarzt oder im öffentlichen Nahverkehr, eben auch mit ihren Smartphones oder ihren iPads, um den Kindern vorzulesen, und das ist genau der richtige Weg.
Heise: Wie muss eine Lese-App eigentlich aufgebaut sein, welche Verlinkung muss möglich sein, was muss da angeboten werden, dass sie zum Lesen animiert, dass sie dem Lesen zuträglich ist?
Maas: Das ist sehr unterschiedlich und hängt sicherlich auch von den Altersgruppen ab. Aber es sollte eine einfach verständliche Sprache sein. Es sollte nicht nur ein elektronisches Vorleseformat sein, sondern man sollte auch die Gelegenheit haben, den Ton auszuschalten, sodass dann halt das Elternteil oder der Erwachsene dem Kind dann auch entsprechend die Bilder so erläutern kann, wie es will. Also soll nicht einfach nur automatisch ablaufen, sondern soll eben auch gestaltbar sein.
Und da sehen wir im Moment, es gibt bereits einige interessante Apps, aber der Markt entwickelt sich sicherlich noch sehr stark. Und wie gesagt, uns geht es gar nicht so sehr um diese kulturelle Frage, was ist besser, das Buch oder das elektronische Format. Sondern uns geht es sehr pragmatisch um die Frage, wie kriegen wir für Kinder, Jugendliche und vor allen Dingen auch für junge Erwachsene den richtigen Zugang zum Lesen.
Heise: Es ist schön, dass sie das Wort pragmatisch jetzt schon selbst erwähnt haben. Ist das tatsächlich Pragmatismus oder fast schon ein bisschen Hilflosigkeit, so nach dem Motto, es geht ja sowieso nicht anders?
Maas: Na ja, also es ist eher Pragmatismus im Sinne von, wenn eine Generation oder eine Gesellschaft einmal liest, dann heißt das ja nicht, dass jeder nachwachsende Geburtsjahrgang auch lesen kann. Das heißt, aus der, wenn Sie so wollen, persönlichen Sicht der Kinder und der Jugendlichen brauchen wir aktuelle und aktualisierte Lesefördermaßnahmen für jede neue Generation, für jeden neuen Jahrgang. Und da sich eben die Welt, auch die Welt der Medien sehr stark verändert, muss eben auch die Leseförderung angepasst sein. Insofern glaube ich nicht, dass das eine Art von Hilflosigkeit ist, sondern ungeklärte Umstände, ich sage mal, in der Gesellschaft erfordern auch angepasste Mittel.
Heise: Die Stiftung Lesen bemüht sich seit 25 Jahren um das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen. Heute wird sie dafür geehrt. Im Radiofeuilleton hören wir den Geschäftsführer Jörg Maas. Sie haben eben gerade gesagt, man soll nicht immer diese Konkurrenz aufmachen, elektronische Medien gegen das Buch. Ich möchte die Konkurrenz jetzt aber doch mal ein bisschen aufmachen. Viele machen nämlich beim Gebrauch von digitalen Medien bei ihren Kindern oder Enkeln oder was weiß ich eher die Erfahrung, dass die vom Lesen ablenken. Ich meine, die Sätze, die da gelesen werden, gehen vielleicht höchstens über drei Zeilen, sind gespickt mit verschiedensten englischen Anweisungen – wer Kinder im Alter von meinetwegen zehn, zwölf Jahren beobachtet, der weiß doch, dass die elektronische Medien eher zum Spielen benutzen, zum Daddeln, nicht zum Lesen, zum Sich-Versenken in Bücher?
Maas: Also meine jüngste Tochter ist elf Jahre, insofern weiß ich ungefähr, wovon ich spreche, auch aus eigener Anschauung. Und was wir sehr stark beobachten können aber auch bei den anderen elf-, zwölf-, 13-jährigen Kindern und Jugendlichen in Deutschland, ist in der Tat: Die elektronischen Medien werden zum Teil zum Daddeln benutzt. Aber wir haben auch gerade vor zwei Jahren mit einer Studie auch gesehen, dass elektronische Formate, sprich E-Reader oder iPhones auch ein wunderbarer Zugang sein kann, um anschließend das Buch zu nehmen.
Also wir hatten mit mehreren Schulklassen an hessischen Schulklassen gesehen, dass der Einstieg, gerade auch für die Jungs, die auch eine besonders schwierige Zielgruppe sind, dass der Einstieg wunderbar über E-Reader funktionierte und E-Books. Aber dass anschließend, wenn man wirklich Lust, oder wenn die Kinder Lust und Liebe für das Buch oder für das Thema entwickelt hatten, dass sie dann gern auch zum Hardcover oder zum Print auch gewechselt sind.
Heise: Aber da muss doch dann wahrscheinlich noch irgendjemand dazu kommen, weil so einfach von diesem elektronischen Medium, wenn man da in dieser Kurzatmigkeit, in der die nun mal auch funktionieren, wenn man daran gewöhnt ist, wenn man dann alle, was weiß ich, zwei Absätze sich dann wieder irgendwo anders hin klickt, interaktiv – Sie haben ja auch gesagt, gestalterisch muss es ein bisschen ansprechend sein, wenn man dann interaktiv meinetwegen antworten kann – da muss man ja erst mal wieder auf dieses herkömmliche als vielleicht langweilig betrachtete Buch geführt werden. Das geht ja nicht so ohne Weiteres.
Maas: Sie haben recht. Also, es bedarf natürlich gerade bei Kindern sicherlich immer auch einer wichtigen Rolle der Erwachsenen, die dann halt sagen – ob es jetzt die Eltern sind oder die Lehrer, die Erzieher oder eben auch Verwandte, die dann eben auch sagen, schau mal, es gibt eben nicht nur die Alternative, sondern es gibt auch die Ergänzung. Es gibt auch die Möglichkeit, im Papierformat zu lesen, es gibt andere attraktive Dinge. Also insofern können wir nicht nur daran appellieren, dass die Kinder das Richtige tun sollten, wenn es die Erwachsenen nicht tun.
Und deswegen plädieren wir auch sehr stark dafür gerade auch, dass die Eltern von kleinen Kindern eben auch sich vorlesend mit ihren Kindern schon beschäftigen, was sie faktisch in Deutschland nicht tun. Wir wissen, dass 86 Prozent aller befragten Eltern sagen, ja, Vorlesen ist wichtig für die Entwicklung meines Kindes, aber nur die Hälfte von ihnen tut es, und nur acht Prozent der Väter. Also insofern sind hier auch ganz besonders männliche Rollenvorbilder gefragt.
Heise: Ich würde gern auch noch mal bei diesen Apps bleiben und bei diesem Interaktiven. Da wollte ich Sie nämlich auch mal nach Ihren Erfahrungen fragen. Ich zweifle nämlich immer daran, warum muss eigentlich alles immer neuerdings interaktiv sein. Ich meine, ein Buch ist ein Buch, und da muss nicht immer irgendwie eine kleine Lesemaus oder so was dabei sein, die uns begleitet, die uns irgendwas fragt, oder die Kinder irgendetwas fragt, dass die dann immer reagieren müssen – ich meine, beim Lesen ist ja eigentlich gerade das Besondere, dass man eben mal nicht kommuniziert, dass man mal alleine ist mit sich und seiner Fantasie, oder?
Maas: Da haben Sie vollkommen recht. Ich finde auch bestimmte Formate vollkommen enervierend und nervend, auf Deutsch gesagt. Und das ist wirklich überflüssig. Das heißt, fürs Lesen, egal auch, in welchem Format, ob es jetzt digital ist oder im Print, in einem Zeitungsartikel oder in einer Zeitschrift braucht man einfach auch Ruhe und Muße. Und wenn man immer abgelenkt wird durch irgendwelche Gadgets oder Features oder so was, ist es in der Tat ablenkend. Und das muss nicht sein. Und deswegen sagen wir auch, gute Leseförderung bedeutet nicht eben multimedial permanent zu stimulieren, sondern bedeutet eben auch Ruhe, Zeit und Gelegenheit zu lassen für die Kinder, sich in Ideen, in Geschichten, in Welten, in Charaktere reinzudenken.
Heise: Wir haben letztes Jahr ja diese Debatte um Manfred Spitzer, den Professor für Psychiatrie, sicherlich mitbekommen, der der jüngeren Generation generell schon eine digitale Demenz attestiert hat. Eben weil sie durch elektronische Medien so abgelenkt sind, dass sie sich gar nicht mehr konzentrieren können. Das würde ja auch eigentlich einem Ansatz widersprechen, sehr stark auf elektronische Medien zu setzen.
Maas: Also wie gesagt, wir glauben – man kann die Diskussion kulturell sicherlich genauso führen, wie Sie es gerade auch anregen, aber auf der anderen Seite aus Sicht der Leseförderung ist für uns eben die zentrale Frage, und sie wird es auch immer bleiben, wie kriegen wir junge Menschen und aber auch zunehmend mehr Erwachsene dazu, dass sie Lust und Spaß am Lesen entwickeln. Und wir wissen alle, und ich weiß es eben auch von meinen eigenen Kindern, es gibt eben auch die Konvergenz der Medien. Das heißt, man nutzt ja nicht nur ein Medium, sondern man nutzt und sozusagen, die mit allen Medien vertraut sind, nutzen idealerweise eben alle Medien gleichzeitig, aber sie brauchen, die Kinder vor allen Dingen brauchen eben auch Anleitung, Hinweis und auch Hilfestellung dabei. Und da spielen eben die Eltern eine ganz besonders wichtige Rolle.
Heise: Die Stiftung Lesen geht ungewöhnliche Wege, um den Lesehunger zu fördern. Heute wird sie für ihr bisher 25 Jahre langes Engagement geehrt. Jörg Maas, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!
Maas: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jörg Maas: Schönen guten Morgen, Frau Heise!
Heise: Eigentlich ist das ja irgendwie auch schade, dass sich eine Stiftung Lesen so intensiv ums Leseverhalten bemühen muss, und dass das nicht von alleine geht. Wie entwickelt sich das Leseverhalten der Kinder in den letzten 25 Jahren.
Maas: Na ja. Wenn man sich die aktuellen Zahlen anschaut, und in Deutschland leben im Moment 7,5 Millionen funktionale Analphabeten. Und wir wissen ja auch seit den PISA-Studien vor zweieinhalb Jahren, dass ungefähr jeder fünfte Fünfzehnjährige nicht richtig lesen und schreiben kann. Dann muss man natürlich sagen, dass sich das Leseverhalten nicht positiv entwickelt hat. Denn die Bildungszahlen sprechen sicherlich genau diese Sprache. Aber was wir natürlich auch sehen, ist, dass durch den Mix der Medien, sprich also nicht nur das Buch, sondern auch die Zeitungen, die Zeitschriften und zunehmend mehr auch die digitalen Formate natürlich heute so viel gelesen wird und auch gelesen werden muss wie niemals zuvor. Aber uns ist auch klar geworden in den letzten Jahren, dass allein auf Leseförderung in den Schulen nicht gesetzt werden kann, sondern dass im Grunde genommen auch bereits in den Familien angefangen werden muss, die Kinder dazu zu motivieren, zu lesen oder sich vorlesen zu lassen.
Heise: Jetzt haben Sie schon den Mix der Medien erwähnt, mit dem man ja lesen kann. Die Stiftung geht da zeitgemäße Wege, Sie setzen auf E-Reader und Lese-Apps. Was heißt denn das, werben Sie für diesen Gebrauch?
Maas: Nein, was wir tun, ist, dass wir noch mal sehr stark betonen, es geht nicht nur um das Lesen des guten Buches. Das ist sicherlich ein wichtiger Bestandteil im Bereich der Leseförderung, aber unsere Maxime lautet: Egal, welchen Zugang die Kinder finden, um Lust am Lesen zu entwickeln, denn die Freude am Lesen ist die Voraussetzung für die sich dann entwickelnde Lesekompetenz, das ist wichtig. Und es kann der "Kicker" sein als Zeitschrift, es kann auch die Zeitung sein, es können elektronische Formate sein. Und wir haben letztes Jahr eine Studie gemacht zum Thema, eignen sich Apps und digitale Formate auch zum Vorlesen? Und wir haben relativ schnell festgestellt: Abends, beim kuscheligen Vorlesen entweder im Bett oder auf dem Sofa wird immer noch das Buch genutzt, aber zunehmend mehr nutzt man eben oder nutzen Eltern auch die Wartezeit beim Friseur, beim Kinderarzt oder im öffentlichen Nahverkehr, eben auch mit ihren Smartphones oder ihren iPads, um den Kindern vorzulesen, und das ist genau der richtige Weg.
Heise: Wie muss eine Lese-App eigentlich aufgebaut sein, welche Verlinkung muss möglich sein, was muss da angeboten werden, dass sie zum Lesen animiert, dass sie dem Lesen zuträglich ist?
Maas: Das ist sehr unterschiedlich und hängt sicherlich auch von den Altersgruppen ab. Aber es sollte eine einfach verständliche Sprache sein. Es sollte nicht nur ein elektronisches Vorleseformat sein, sondern man sollte auch die Gelegenheit haben, den Ton auszuschalten, sodass dann halt das Elternteil oder der Erwachsene dem Kind dann auch entsprechend die Bilder so erläutern kann, wie es will. Also soll nicht einfach nur automatisch ablaufen, sondern soll eben auch gestaltbar sein.
Und da sehen wir im Moment, es gibt bereits einige interessante Apps, aber der Markt entwickelt sich sicherlich noch sehr stark. Und wie gesagt, uns geht es gar nicht so sehr um diese kulturelle Frage, was ist besser, das Buch oder das elektronische Format. Sondern uns geht es sehr pragmatisch um die Frage, wie kriegen wir für Kinder, Jugendliche und vor allen Dingen auch für junge Erwachsene den richtigen Zugang zum Lesen.
Heise: Es ist schön, dass sie das Wort pragmatisch jetzt schon selbst erwähnt haben. Ist das tatsächlich Pragmatismus oder fast schon ein bisschen Hilflosigkeit, so nach dem Motto, es geht ja sowieso nicht anders?
Maas: Na ja, also es ist eher Pragmatismus im Sinne von, wenn eine Generation oder eine Gesellschaft einmal liest, dann heißt das ja nicht, dass jeder nachwachsende Geburtsjahrgang auch lesen kann. Das heißt, aus der, wenn Sie so wollen, persönlichen Sicht der Kinder und der Jugendlichen brauchen wir aktuelle und aktualisierte Lesefördermaßnahmen für jede neue Generation, für jeden neuen Jahrgang. Und da sich eben die Welt, auch die Welt der Medien sehr stark verändert, muss eben auch die Leseförderung angepasst sein. Insofern glaube ich nicht, dass das eine Art von Hilflosigkeit ist, sondern ungeklärte Umstände, ich sage mal, in der Gesellschaft erfordern auch angepasste Mittel.
Heise: Die Stiftung Lesen bemüht sich seit 25 Jahren um das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen. Heute wird sie dafür geehrt. Im Radiofeuilleton hören wir den Geschäftsführer Jörg Maas. Sie haben eben gerade gesagt, man soll nicht immer diese Konkurrenz aufmachen, elektronische Medien gegen das Buch. Ich möchte die Konkurrenz jetzt aber doch mal ein bisschen aufmachen. Viele machen nämlich beim Gebrauch von digitalen Medien bei ihren Kindern oder Enkeln oder was weiß ich eher die Erfahrung, dass die vom Lesen ablenken. Ich meine, die Sätze, die da gelesen werden, gehen vielleicht höchstens über drei Zeilen, sind gespickt mit verschiedensten englischen Anweisungen – wer Kinder im Alter von meinetwegen zehn, zwölf Jahren beobachtet, der weiß doch, dass die elektronische Medien eher zum Spielen benutzen, zum Daddeln, nicht zum Lesen, zum Sich-Versenken in Bücher?
Maas: Also meine jüngste Tochter ist elf Jahre, insofern weiß ich ungefähr, wovon ich spreche, auch aus eigener Anschauung. Und was wir sehr stark beobachten können aber auch bei den anderen elf-, zwölf-, 13-jährigen Kindern und Jugendlichen in Deutschland, ist in der Tat: Die elektronischen Medien werden zum Teil zum Daddeln benutzt. Aber wir haben auch gerade vor zwei Jahren mit einer Studie auch gesehen, dass elektronische Formate, sprich E-Reader oder iPhones auch ein wunderbarer Zugang sein kann, um anschließend das Buch zu nehmen.
Also wir hatten mit mehreren Schulklassen an hessischen Schulklassen gesehen, dass der Einstieg, gerade auch für die Jungs, die auch eine besonders schwierige Zielgruppe sind, dass der Einstieg wunderbar über E-Reader funktionierte und E-Books. Aber dass anschließend, wenn man wirklich Lust, oder wenn die Kinder Lust und Liebe für das Buch oder für das Thema entwickelt hatten, dass sie dann gern auch zum Hardcover oder zum Print auch gewechselt sind.
Heise: Aber da muss doch dann wahrscheinlich noch irgendjemand dazu kommen, weil so einfach von diesem elektronischen Medium, wenn man da in dieser Kurzatmigkeit, in der die nun mal auch funktionieren, wenn man daran gewöhnt ist, wenn man dann alle, was weiß ich, zwei Absätze sich dann wieder irgendwo anders hin klickt, interaktiv – Sie haben ja auch gesagt, gestalterisch muss es ein bisschen ansprechend sein, wenn man dann interaktiv meinetwegen antworten kann – da muss man ja erst mal wieder auf dieses herkömmliche als vielleicht langweilig betrachtete Buch geführt werden. Das geht ja nicht so ohne Weiteres.
Maas: Sie haben recht. Also, es bedarf natürlich gerade bei Kindern sicherlich immer auch einer wichtigen Rolle der Erwachsenen, die dann halt sagen – ob es jetzt die Eltern sind oder die Lehrer, die Erzieher oder eben auch Verwandte, die dann eben auch sagen, schau mal, es gibt eben nicht nur die Alternative, sondern es gibt auch die Ergänzung. Es gibt auch die Möglichkeit, im Papierformat zu lesen, es gibt andere attraktive Dinge. Also insofern können wir nicht nur daran appellieren, dass die Kinder das Richtige tun sollten, wenn es die Erwachsenen nicht tun.
Und deswegen plädieren wir auch sehr stark dafür gerade auch, dass die Eltern von kleinen Kindern eben auch sich vorlesend mit ihren Kindern schon beschäftigen, was sie faktisch in Deutschland nicht tun. Wir wissen, dass 86 Prozent aller befragten Eltern sagen, ja, Vorlesen ist wichtig für die Entwicklung meines Kindes, aber nur die Hälfte von ihnen tut es, und nur acht Prozent der Väter. Also insofern sind hier auch ganz besonders männliche Rollenvorbilder gefragt.
Heise: Ich würde gern auch noch mal bei diesen Apps bleiben und bei diesem Interaktiven. Da wollte ich Sie nämlich auch mal nach Ihren Erfahrungen fragen. Ich zweifle nämlich immer daran, warum muss eigentlich alles immer neuerdings interaktiv sein. Ich meine, ein Buch ist ein Buch, und da muss nicht immer irgendwie eine kleine Lesemaus oder so was dabei sein, die uns begleitet, die uns irgendwas fragt, oder die Kinder irgendetwas fragt, dass die dann immer reagieren müssen – ich meine, beim Lesen ist ja eigentlich gerade das Besondere, dass man eben mal nicht kommuniziert, dass man mal alleine ist mit sich und seiner Fantasie, oder?
Maas: Da haben Sie vollkommen recht. Ich finde auch bestimmte Formate vollkommen enervierend und nervend, auf Deutsch gesagt. Und das ist wirklich überflüssig. Das heißt, fürs Lesen, egal auch, in welchem Format, ob es jetzt digital ist oder im Print, in einem Zeitungsartikel oder in einer Zeitschrift braucht man einfach auch Ruhe und Muße. Und wenn man immer abgelenkt wird durch irgendwelche Gadgets oder Features oder so was, ist es in der Tat ablenkend. Und das muss nicht sein. Und deswegen sagen wir auch, gute Leseförderung bedeutet nicht eben multimedial permanent zu stimulieren, sondern bedeutet eben auch Ruhe, Zeit und Gelegenheit zu lassen für die Kinder, sich in Ideen, in Geschichten, in Welten, in Charaktere reinzudenken.
Heise: Wir haben letztes Jahr ja diese Debatte um Manfred Spitzer, den Professor für Psychiatrie, sicherlich mitbekommen, der der jüngeren Generation generell schon eine digitale Demenz attestiert hat. Eben weil sie durch elektronische Medien so abgelenkt sind, dass sie sich gar nicht mehr konzentrieren können. Das würde ja auch eigentlich einem Ansatz widersprechen, sehr stark auf elektronische Medien zu setzen.
Maas: Also wie gesagt, wir glauben – man kann die Diskussion kulturell sicherlich genauso führen, wie Sie es gerade auch anregen, aber auf der anderen Seite aus Sicht der Leseförderung ist für uns eben die zentrale Frage, und sie wird es auch immer bleiben, wie kriegen wir junge Menschen und aber auch zunehmend mehr Erwachsene dazu, dass sie Lust und Spaß am Lesen entwickeln. Und wir wissen alle, und ich weiß es eben auch von meinen eigenen Kindern, es gibt eben auch die Konvergenz der Medien. Das heißt, man nutzt ja nicht nur ein Medium, sondern man nutzt und sozusagen, die mit allen Medien vertraut sind, nutzen idealerweise eben alle Medien gleichzeitig, aber sie brauchen, die Kinder vor allen Dingen brauchen eben auch Anleitung, Hinweis und auch Hilfestellung dabei. Und da spielen eben die Eltern eine ganz besonders wichtige Rolle.
Heise: Die Stiftung Lesen geht ungewöhnliche Wege, um den Lesehunger zu fördern. Heute wird sie für ihr bisher 25 Jahre langes Engagement geehrt. Jörg Maas, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!
Maas: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.