Autorin: Hanna Ender
Sprecherinnen und Sprecher: Marian Funk, Inka Löwendorf, Christiane Guth, Olaf Ölstrom
Regie: Giuseppe Maio
Technik: Martin Eichberg
Redaktion: Martin Mair
Buch oder Bildschirm?
33:43 Minuten
Wenn immer mehr Texte digital gelesen werden, hat das Auswirkungen auf unsere gesamte Lesefähigkeit: von der Konzentration bis zum Textverständnis. Also zurück zum Papier? Nicht unbedingt, sagen Forscher. Auch das digitale Lesen habe Vorteile.
"Ich habe so bis zum Alter von Anfang 20 wirklich wahnsinnig viel gelesen und war auch ein ganz, ganz frequenter Bücherei-Besucher", sagt Joseph Bolz.
Wenn er Mitte der 90er-Jahre die Stadtbücherei Waldbröl im Bergischen Land verlässt, hat er jedes Mal einen Jutebeutel mit mindestens sechs Büchern bei sich: Lesestoff für eine Woche. Geschichten wie Astrid Lindgrens "Ronja Räubertochter" oder "Die drei Fragezeichen". Später als Teenager sind es Bücher von Science-Fiction-Autor Philip K. Dick oder dem Meister des Grauens, Stephen King. Stundenlang vergäbt er sich damals in seinem Kinderzimmer und verschlingt die Bücher Seite für Seite.
"Ich glaube, es hat sich mit dem Auszug von zu Hause geändert – und mit dem Anfangen zu Arbeiten und dem 'Erwachsenenleben', dem richtigen."
Irgendwann schleppt Joseph keine Bücher mehr mit sich rum, sondern nur noch einen kleinen Bildschirm, den wir Schätzungen zufolge 2617 Mal pro Tag berühren.
"Bei mir ist es definitiv so, dass mein Smartphone mich ganz stark vom Lesen abgehalten hat – weil es immer eine Ablenkung gibt, die mich irgendwie schneller befriedigt und einfacher ist als ein Buch."
Joseph Bolz ist Mitte 30 und lebt in Köln. Als Drehbuchautor liest er in seinem Job-Alltag unheimlich viel.
"Also, tatsächlich sehr viel E-Mails und sehr viel Drehbücher natürlich. Aber auch für die Recherche dann sehr, sehr viele Internetseiten und viel Wikipedia. Es ist halt nicht der Input, der tolle Bilder im Kopf entstehen lässt, sondern es ist eher so ein Überfliegen."
Ständiges Querlesen verändert den Lesestil
Die Informationsflut, die täglich auf ihn einprasselt, scheint dem Autor manchmal gar keine Wahl zu lassen: Er liest quer, hastet den Worten hinterher, anstatt sie auf sich wirken zu lassen. Das Eintauchen in eine fremde Welt, wie es Joseph als Kind liebte, fehlt dem Erwachsenen. Irgendwann habe er ein Buch in der Hand gehabt und gemerkt: Es fällt ihm schwer, eine Seite zu lesen, ohne zum Handy zu greifen.
"Dieses 'Snacken' von Nachrichten hat mein Lesen so kaputt gemacht. Dieses Swipen und Scrollen und dass man mit dem Handy auch interaktiv und aktiv ist, ist ein ganz anderes – ich glaube, auch für das Gehirn ein ganz anderes Verhalten, als wenn man wirklich ein Buch in der Hand hat, ein stummes Stück Papier, in das man sich auch hineinarbeiten muss."
Haben wir das Lesen verlernt? Haben wir in einer informationsüberfrachteten Umwelt, in der im Minutentakt Nachrichten auf uns einprasseln, die Geduld verloren, in Geschichten einzutauchen? In Geschichten, die länger sind als ein Tweet, eine E-Mail oder eine Bildunterschrift auf Instagram?
Ja, sagt die Kognitions- und Literaturwissenschaftlerin Maryanne Wolf. Und beschreibt den Leser des 21. Jahrhunderts als flatterhaften Gesellen:
"Sein Geist wird wie ein vom Nektar angelockter Kolibri von einem Reiz zum nächsten schwirren, seine Aufmerksamkeit wird sich in ihrer Beschaffenheit ganz allmählich verändern, und das mit Folgen, die niemand bisher vorhersagen kann."
Maryanne Wolf forscht an der Universität von Kalifornien in Los Angeles darüber, was beim Lesen im Gehirn passiert. Und sie sagt, dass die Art und Weise, wie wir heute Texte und Nachrichten überfliegen, mittlerweile unser Leseverhalten beeinflusst:
"Ich habe immer wieder von Leuten gehört, dass sie nicht mehr so lesen wie früher. Sie hatten nicht mehr dieses Gefühl, in einen Text einzutauchen, beim Lesen zu sich selbst zu finden und dadurch Platz für neue Gedanken zu schaffen. Und ich glaube, dass dies einer der traurigsten Aspekte unserer digitalen Welt ist: Bildschirme haben uns tatsächlich verändert. Aber ich hätte nie gedacht, dass mir das mal passieren würde."
Hermann Hesse lässt sich nicht durch Überfliegen lesen
Der Literaturwissenschaftlerin erging es ähnlich wie Joseph Bolz: Sie, die Bücherliebhaberin, die in ihrer Heimatstadt in Illinois quasi in einer Bibliothek aufwuchs, weil sie dort so viel Zeit verbrachte, die in Harvard studierte, und in L.A. das Zentrum für Legasthenie leitet, hatte verlernt zu lesen.
"Ich griff nach dem Buch 'Glasperlenspiel' von Hermann Hesse, das mir früher an der Uni so viel bedeutet hat. Und ich fing an, es mit viel Freude zu lesen – und es endete mit dem furchtbaren Entsetzen, dass ich es nicht lesen KONNTE! Es las sich zu schwer, es war zu langatmig! Es war das Gegenteil von der Art des Lesens, an das ich mich gewöhnt hatte. Ich habe versucht, es zu überfliegen, ohne es zu merken."
Maryanne Wolf las Hermann Hesse mit derselben Ungeduld, mit der sie tagtäglich E-Mails oder Internet-Artikel überflog. Sie hatte sich zu sehr an dieses schnelle Überfliegen von Texten gewöhnt. Und hatte jetzt bei der anspruchsvollen Lektüre Probleme, den Hebel im Kopf umzulegen und sich auf ein langsames und vertiefendes Lesen einzulassen.
"Aber diese Geschichte hat ein gutes Ende. Erst stellte ich das Buch zurück ins Bücherregal, aber dann dachte mir: Das kann nicht wahr sein! Und ich nahm mir dann vor, jeden Abend 15 bis 20 Minuten lang in dem Buch zu lesen – und dabei den Prozess des Lesens zu verlangsamen, damit ich mich auf den Inhalt von Hermann Hesse einlassen konnte. Es hat zwei Wochen gedauert. Aber nach diesen zwei Wochen war ich dort angekommen, wo ich hinwollte: Ich hatte endlich wieder mein lesendes Ich gefunden."
Langsames Lesen lässt sich wieder lernen
In ihrem Buch "Schnelles Lesen, langsames Lesen - Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen" appelliert Wolf, unser Gehirn wieder für das intensive, das langsame Lesen zu trainieren. Wie die Literaturwissenschaftlerin startete auch Drehbuchautor Joseph Bolz ein Experiment, um das Lesen wieder zu "lernen".
"Also, man fängt ja immer mit sehr großer Motivation an und denkt sich, komm, drei Bücher in einer Woche ist ja kein Problem. Ich habe mir meinen Kindle gegriffen und dachte, jetzt schaffe ich es locker, in einer Woche die drei Bücher auf dem Kindle zu lesen. Aber das hat tatsächlich auch so gar nicht geklappt. Ich finde die Idee von einem Kindle so toll, dass man wirklich sagt, man hat eine ganze Bibliothek in der Tasche, aber für mich persönlich funktioniert dieses ‚Auf dem Bildschirm’-Lesen nicht."
So sehr er sich Mühe gab und versuchte, sich auf die Geschichte zu konzentrieren: Das Eintauchen in den Thriller "Das Joshua-Profil" von Sebastian Fitzek klappte auf dem E-Reader nicht.
"Ich weiß nicht, ob das mit Nostalgie zu tun hat, dass man früher wirklich durch diese Seiten geblättert hat und dass so ein haptisches Buch in der Hand nochmal was anderes ist – oder ob es so ist, weil ich sehr viel an Bildschirmen arbeite, dass es sich irgendwie nach Arbeit angefühlt hat."
Das Textverständnis ist beim Gedruckten besser
"Wir neigen dazu, schneller ungeduldig zu werden, und es fällt uns schwerer, die nötige kognitive Ausdauer und Geduld aufzubringen. Das bestätigen viele Menschen, wenn wir sie nach ihrer Vorliebe für das Lesen auf Papier oder Bildschirmen fragen. Je länger und je komplexer der Text wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass Sie ihn lieber ausdrucken und ihn auch besser verstehen, wenn Sie ihn auf Papier lesen."
Anne Mangen ist Professorin am Lesezentrum der Universität im norwegischen Stavanger. Sie will wissen, wie sich das klassische Lesen auf Papier vom Lesen auf Bildschirmen unterscheidet. In einem Experiment teilte sie Schülerinnen und Schüler in zwei Gruppen. Die eine bekam einen Text ausgedruckt in die Hand, die andere denselben Text auf einem Laptop zum Lesen – anschließend mussten beide Gruppen verschiedene Fragen zum Inhalt beantworten. Mit dem Ergebnis, dass diejenigen, die den ausgedruckten Text gelesen hatten, besser abschnitten.
Anne Mangen hat mit dem niederländischen Buchwissenschaftler Adriaan van der Weel die Initiative "E-Read" ins Leben gerufen, der sich mehr als hundertfünfzig Wissenschaftler aus Dutzenden Ländern angeschlossen haben. Forschende aus verschiedenen Disziplinen untersuchen, wie sich das Lesen im Zeitalter der Digitalisierung verändert. In einer großen Analyse haben sie über 50 Studien ausgewertet, an denen insgesamt mehr als 170.000 Menschen beteiligt waren.
"Diese Metaanalysen, die in den Jahren 2018 und 2019 veröffentlicht wurden, weisen alle in dieselbe Richtung: Sie zeigen, dass der Bildschirm beim Lesen von Informationstexten dem Buch unterlegen ist. Die Leser verstehen Sachtexte besser, wenn es keine Links, keine Multimedia-Inhalte, keine Animationen gibt, sondern nur den gedruckten Text. Wenn es sich um reine Informationstexte handelt, dann führt das gedruckte Wort auf Papier zu einem besseren Textverständnis als das Lesen auf einem Bildschirm."
Scannen statt lesen
Am Bildschirm neigen Leserinnen und Leser dazu, oberflächlicher und schneller zu lesen und die Texte zu überfliegen, anstatt fortlaufend Zeile für Zeile zu lesen. Dieses Scannen führt auch zu dem Gefühl, das sowohl Maryanne Wolf als auch Joseph Bolz hatten: dass sie nicht mehr imstande waren, tiefer in eine Geschichte einzutauchen.
"Je mehr wir auf Bildschirmen lesen, desto mehr beeinflusst das unsere Art des Lesens auf Papier", erklärt Mangen. "Und dabei haben viele das Gefühl: 'Oh, wir haben nicht mehr die Fähigkeit, uns über lange Zeit zu konzentrieren’. Und es wird kognitiv viel schwieriger für uns, einen Roman mit 550 Seiten aufzunehmen, weil uns Geduld und Ausdauer fehlen. Oder weil wir zumindest härter dafür arbeiten müssen, beides aufzubringen."
Die vielen Links im World Wide Web belasten das Arbeitsgedächtnis, so Mangen. Es ist der Teil unseres Erinnerungsvermögens im Gehirn, das Informationen kurzfristig speichert und zugleich verarbeitet. Wenn Informationstexte von Links durchzogen sind, müssen wir den Impuls, darauf zu klicken, permanent unterdrücken und verbrauchen dabei Ressourcen.
Die Studien zeigen aber auch: Bei narrativen Texten scheint es keinen Unterschied zu machen, welches Medium zur Lektüre genutzt wird.
"Deswegen wäre es wichtig, empirische Studien mit E-Readern zu machen, die keinen Internetzugang haben, sondern wirklich nur zum Lesen dienen. Um dann zu erforschen, ob es beim Leseverständnis einen Unterschied gibt, wenn man einen längeren erzählenden Text auf einem Kindle liest oder auf Papier."
Lesen heißt in eine Geschichte eintauchen
Vertieftes Lesen ist entscheidend, um narrative Texte zu verstehen. Es geht dabei auch um das Gefühl, als Leser tief in eine Handlung hineingezogen zu werden. Genau das ist dem Drehbuchautor Joseph Bolz mit seinem E-Reader nicht gelungen – ihm fehlte der "Flow", wie Birte Thissen es nennt:
"Im Flow ist man, wenn man quasi das Gefühl hat, dass man gerade völlig in dem aufgeht, was man tut."
Die Psychologin erforscht am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main Flow-Zustände bei Lesern.
"Wenn man das jetzt aufs Lesen überträgt, dann ist die eigentliche Aktivität, bei der der Flow entstehen kann, das Konstruieren eines mentalen Modells von der Geschichte, also dass ich die Geschichte sozusagen in meinem Kopf zum Leben erwecke und mir das alles vorstelle: die Figuren, die Schauplätze, die Handlung und so weiter. Dann sollte der Leser in den Flow kommen. Und die eigentliche Welt, in der man sich gerade befindet, die blendet man aus. Man merkt gar nicht, was um einen herum passiert, weil man so in der Geschichte drin ist."
Umso mehr Flow, desto mehr Textverständnis und umso mehr bleibt die Geschichte hängen. Nur: Braucht es dafür ein gedrucktes Buch? Bedeutet ein E-Reader automatisch, dass wir weniger tief in einen Text eintauchen?
"Man hat Hinweise darauf gefunden, dass beim Lesen von digitalen Medien oder vom Bildschirm einfach die Textverarbeitung oberflächlicher ist. Und die Erklärung dafür nennt sich ‚Shallowing hypothesis’, das ist eigentlich, dass wir quasi daran gewöhnt sind, wenn wir ein digitales Medium vor uns haben, dass wir unsere Aufmerksamkeit dann gar nicht so stark fokussieren müssen. Also, wir konzentrieren uns sozusagen schon weniger, wenn wir einen Bildschirm vor uns sehen anstelle von einem Buch."
Einen Roman zu lesen, braucht Ruhe
"Nachdem ich gemerkt habe, dass ich nicht wirklich in die Welt eintauche, warum auch immer, habe ich gesagt, ich gehe jetzt wirklich ganz klassisch zurück zum Buch", sagt Joseph Bolz. "Und ich habe mir von Kathrin Weßling ‚Super, und Dir?’ besorgt, weil ich schon gehört habe, dass das ein gutes Buch ist, weil’s darin auch um meine Generation geht."
In dem Buch tritt Marlene ihren ersten Job als Social-Media-Managerin bei einem Internetkonzern an, ist busy mit einer 70-Stunden-Woche, Fitnessstudio, Beziehung und nachts Party machen. Und während Marlene an dem Druck langsam zerbricht, postet sie weiter fröhliche Selfies auf Instagram und zieht schon morgens eine Line Koks, um den Tag zu überleben. Der Roman erzählt vom Druck permanenter Selbstoptimierung einer Generation – ein Thema, das Joseph Bolz gepackt hat. Der 35-Jährige kam endlich in den lang ersehnten Lese-Flow.
"Das hat mich dann so reingezogen, dass ich dann tatsächlich in einem Tag dieses Buch durchgelesen habe, weil es halt sofort genau das gemacht hat, was ich früher von Büchern kannte: Es hat mich eingeladen in eine eigene Welt und ich habe das Buch wie einen Film gesehen."
Vielleicht hat es auch deswegen geklappt, weil sich Joseph Bolz mit seinem Buch die Ruhe zum Lesen genommen hat, während er vorher auf seinem E-Reader permanent unterwegs gelesen hat. Auch Unruhe und Stress wirken sich negativ auf den Lese-Flow aus, sagt Birte Thissen. Für einen Versuch dazu gab sie zwei Gruppen unterschiedlich schwere Texte.
"Und grob gesagt: Was da rausgekommen ist, war, dass Leute, die einen schwereren Text gelesen haben, die also quasi höhere Textanforderungen zu bewältigen hatten, trotzdem in den Flow gekommen sind, wenn sie in einem entspannten Zustand waren. Also diese innere Entspannung scheint eine der Leserfähigkeiten zu sein, die Flow begünstigen."
Welches Medium eignet sich für welche Texte?
Vielleicht spielen somit eher die äußeren Umstände eine Rolle statt das Medium, das wir zum Lesen benutzen? Fest steht: Die Frage, ob Buch oder Bildschirm besser für unser Textverständnis ist, hängt von mehreren Faktoren ab.
"Ich denke nicht, dass die Debatte Sinn hat, was ist besser – entweder-oder, Buch oder Bildschirm – sondern, dass es immer ein sowohl-als-auch sein sollte. Beides ist wichtig. Und ich denke, genauso ist es wichtig, beides, also das Lesen auf Papier und das Lesen digital, zu fördern und zu unterstützen", sagt Yvonne Kammerer, die am Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen zu digitalen Texten forscht.
Sie ist Teil des Netzwerks E-Read, das die Forschungsergebnisse über die Folgen der Digitalisierung des Lesens gebündelt hat. In der Stavanger-Erklärung kommen die Forschenden zum Schluss, dass Bildschirme und bedrucktes Papier nicht gleichwertig sind:
"Die Forschung zeigt, dass Papier weiterhin das bevorzugte Lesemedium für einzelne längere Texte bleiben wird, vor allem, wenn es um ein tieferes Verständnis der Texte und um das Behalten geht. Außerdem ist Papier der beste Träger für das Lesen langer informativer Texte."
Trotzdem lesen selbst Forschende einen Großteil der Papers, also wissenschaftliche Veröffentlichungen, auf dem Bildschirm. Und wo kämen etwa Journalisten hin, wenn sie jeden Text, den sie für ihre Recherche lesen, einzeln ausdrucken würden? Auch wenn die Forschung beim Papier Vorteile sieht, wenn es um das Verständnis des Inhalts geht: Auch digitale Texte haben ihre Berechtigung.
"Speziell, was das Lesen auf den digitalen Geräten angeht, würde ich sagen, ist ein Vorteil, dass man normalerweise in Browsern oder auch in PDF-Dokumenten eine Suchfunktion hat. Das heißt also, dass man in Texten, in Webseiten ganz gezielt nach bestimmten Wörtern suchen kann. Ein zweiter Vorteil, denke ich, ist, dass man in einem Browser oder auch wieder in PDF-Readern mehrere Dokumente parallel öffnen kann, um so sozusagen auch lateral zu lesen, das heißt, mehrere verschiedene Texte parallel miteinander abzugleichen. Und nicht nur eins nach dem anderen lesen zu müssen."
Kritik am digitalen Lesen - einfach nur ein Vorurteil?
Dieses Querlesen, also ein schnelles Überliegen, muss nicht zwangsläufig schlecht sein. Viele Berufsgruppen, wie etwa Fact-Checker, nutzen es im Alltag, um die Flut an Informationen zu verarbeiten. Noch wissen wir wenig darüber, wie digitales Lesen das Gehirn und seine Aktivität verändert. Auf diesem Gebiet gibt es kaum wenig Forschung. Das ist etwas, was der Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer kritisiert.
"Unser Fach kommt sehr stark aus der Tradition der Auslegung der großen Autoren, der großen Werke", sagt er. "Wie zum Beispiel Thomas Mann, das ist so ein ganz wichtiger Gegenstand. Aber sich so mit dem Alltag der Leserinnen und Leser auseinanderzusetzen oder mit dem Lesen von Kindern oder älteren Menschen, alles das gehört nicht zu unserem doch sehr stark bildungsbürgerlich geprägten Begriff von dem, was Fächer wie die Germanistik oder Romanistik oder Slawistik eigentlich tun sollten. Und unter dieser Bildungslast leidet dann vielleicht auch, dass es in den deutschsprachigen Ländern viel weniger Leseforschung gibt als etwa in den skandinavischen oder in den angelsächsischen Ländern."
Gerhard Lauer ist Professor für Digital Humanities an der Universität Basel und beschäftigt sich mit dem Einfluss der Digitalisierung auf die Geistes- und Kulturwissenschaften. Er bezweifelt, dass allein die Digitalisierung Lesen und Verständnis fundamental ändert:
"Mein erstes Gegenargument wäre, dass schon vor mehr als hundert Jahren genau dieselben Argumente mit Blick auf die Jugend gemacht worden sind: Nämlich, dass die in der Informationsflut ohne Anhalt lesen würden. Ohne Anhalt heißt: Ohne Kontrolle, völlig wirr, nur oberflächlich. Und das hat dazu geführt, dass man zum Beispiel im 19. Jahrhundert die Einrichtung von Jugendbibliotheken bekämpft hat. Weil man geglaubt hat, dass Jugendliche – und übrigens auch Frauen! – einfach nicht ohne männliche, wohlgebildete Anleitung lesen können. Also, das 'angeleitete Lesen' ist immer irgendwie so eine Fantasie, besonders unter Professoren."
Lauer erkennt die immer gleichen Abwehrmechanismen, wenn Menschen mit etwas Neuem konfrontiert werden. Im 19. Jahrhundert fürchtete man, die "exzessive Romanleserey" würde Frauen und jungen Menschen schaden – heute macht sich die Gesellschaft Sorgen, dass der Bildschirm unsere Lesefähigkeit einschränkt.
"Die Frage, ob es physiologisch einen Unterschied macht, da haben wir bislang in unserer europäischen Forschergruppe nur sehr kleine Unterschiede gefunden. Und die haben wesentlich damit zu tun, wie vertraut jemand mit den verschiedenen Lesemöglichkeiten ist. Und die starken Leser sind eigentlich diejenigen, die in allen möglichen Formaten, auch in allen möglichen Lebenssituationen lesen. Für die ist das gar kein großer Unterschied."
Mehr noch: Für leseschwache Menschen kann das E-Book ein guter Einstieg sein. Eine Studie der "Stiftung Lesen" kam 2011 zu dem Schluss, dass elektronische Bücher für leseferne Schülerinnen und Schüler attraktiver sind als das herkömmliche Bücherregal. Eine vorhandene Hemmschwelle zum Erstkontakt mit Büchern kann durch die Verwendung von E-Readern gesenkt werden – insbesondere für dicke Schmöker, die in Druckform einschüchternd wirken.
Und trotzdem: Aktuelle Studien zeigen, dass sich E-Books nicht im Medienalltag von Jugendlichen durchsetzen. Ausgerechnet die Digital Natives, die permanent am Smartphone kleben, greifen beim Lesen lieber zu Papier. Acht von zehn Deutschen lesen dem Branchenverband Bitkom zufolge hin und wieder ein Buch. Doch gerade einmal jeder Vierte greift zum E-Book. Der Anteil stagniert seit Jahren.
Johannes Klaus ist Reiseblogger und Verleger. In seiner Wohnung in Berlin-Schöneberg gehen die Bücherregale bis an die Decke. Sie stecken voller Erinnerungen:
"Es gibt zum Beispiel hier eine englische Ausgabe von Lord of the Rings, ein ganz hässliches Taschenbuch. Den hab ich in Indien in so einem Buchladen gekauft und dann, ja, ich war da so am Fuße des Himalayas in Darjeeling und hab dann da sehr viel Tee getrunken und gelesen."
Der 39-Jährige ging vor zehn Jahren auf Weltreise und startete einen Reiseblog. Für seine Berichte gewann Johannes Klaus ein Jahr später den Grimme Online Award. Irgendwann merkte er: Ein tolles Buch hat trotz des Booms der Reiseblogs nicht an Wert verloren. 2018 gründete er seinen eigenen Buchverlag "Reisedepeschen". Zwar sind zwei Titel aus dem Sortiment auch als E-Book erhältlich. Viel begehrter sind aber die gedruckten Ausgaben.
"Bei den E-Books gab es schon ein Wachstum über einige Jahre. Das hat sich aber auf einem gewissen, relativ niedrigen Niveau stabilisiert. Und da findet gar nicht mehr das statt, was ich vor einigen Jahren noch prognostiziert hatte: Dass das E-Book irgendwann die gedruckten Bücher einfach übernimmt. Das findet überhaupt nicht statt. Die meisten Menschen kaufen nach wie vor und relativ gleichbleibend gedruckte Bücher."
Viele Geschichten gewinnen ungemein, wenn sie gedruckt sind, findet der Verleger. Deswegen begann er vor vier Jahren, die Geschichten aus seinem Reiseblog als Buch herauszubringen. Eine davon ist ‚Roadtrip’. Die Geschichte eines Paars, das zweieinhalb Jahre durch die Welt gefahren ist, wurde von zahlreichen Blog-Artikeln zu einem Lese-Bildband umgestaltet.
"Und ich habe, als ich den ersten Band dieser Serie gemacht habe, gemerkt, dass einige der Geschichten – oder fast alle Geschichten – im Buch einfach viel besser funktioniert haben als online. Obwohl die Videos gefehlt haben, die meisten Fotos gefehlt haben, aber trotzdem war es ein viel schöneres Lesen. Und da habe ich gemerkt, ja, ein Buch, das ist einfach weiterhin das ideale Medium für längere Geschichten, für etwas, das nicht nur einen praktischen Wert haben muss", sagt Klaus.
"Wenn ich ein Buch vor mir habe, dann habe ich da das Papier, was ich anfassen kann. Ich kann umblättern, ich muss mich um sonst nichts kümmern. Es sind keine Anzeigen, die irgendwie aufploppen, oder eine E-Mail kommt. Ich kann mich wirklich auf das Buch konzentrieren und muss eigentlich nur lesen, schauen und umblättern. Und das ist etwas, was an einem Computer oder Laptop oder Handy eigentlich nie passiert. Und ich habe auch das Gefühl, dass ich mich deutlich besser an die Inhalte erinnern kann, als wenn ich das auf einem Bildschirm gelesen habe."
Ein Blogger, der keine E-Books mag
Und auch wenn Johannes Klaus als Reiseblogger normalerweise viel unterwegs ist: Um möglichst viele Bücher mitzunehmen, packt er auch gerne mal ein paar Klamotten weniger ein.
"Ich habe gar keinen E-Book-Reader. Und ich möchte auch gar keinen haben. Das ist zwar praktisch, aber für mich bedeuten gedruckte Bücher einfach etwas anderes, sodass ich mir gern das zusätzliche Gepäck in den Koffer packe."
Die vergilbten Seiten und der Sand, der aus den Seiten rieselt, wenn er das Buch nach einer langen Reise wieder zu Hause aufschlägt, geben ihm das Gefühl, mit dem Lesen auch immer eine Erinnerung zu verbinden.
"Bücher riechen… Bücher leben in irgendeiner Form. Man sieht, was mit ihnen passiert. Sie dürfen gerne auch Schrammen kriegen und Eselsohren. Und ein Buch darf ruhig zeigen, dass es gelesen wurde, es ist viel lebendiger als ein technisches Gerät."
Dabei benutzt selbst Maryanne Wolf, die Kognitions- und Leseforscherin aus den USA, einen E-Reader, wenn sie auf Reisen ist. Denn auch wenn die 70-Jährige ein Faible für das gedruckte Buch hat, will sie die digitale Revolution nicht verteufeln:
"Ich spreche nicht von einer Entweder-oder-Situation, in der nur das Gedruckte oder nur das Digitale existieren. Ich glaube, wir befinden uns jetzt zweifellos in einer digitalen Welt. Wichtig ist es zu verstehen, was der Vorteil eines Mediums ist und was die Nachteile sind."
"Wenn es eine E-Mail ist, überfliegen Sie sie!"
Maryanne Wolf plädiert dafür, dass wir uns eine duale Lesestrategie zu eigen machen: einen Wechsel zwischen dem schnellen Lesen von digitalen Informationstexten und dem gründlichen, langsamen Lesen des gedruckten Buches:
"Wenn es eine E-Mail ist, überfliegen Sie sie! Aber wenn es sich um ein ernstes Stück Literatur oder Poesie handelt, bei dem wir sowohl den Inhalt als auch die Schönheit tiefer erleben möchten, geht die Wahrnehmung der Schönheit verloren, wenn wir den Text überfliegen. Der Kern der Handlung, die die treibende Kraft beim Schreiben ist, wird vom Leser übersehen."
Diese duale Lesestrategie sollte schon an Schulen gelehrt werden. Lesen lernen sollten Kinder ausschließlich mit gedruckten Büchern, empfiehlt Maryanne Wolf. Für diesen Ansatz plädiert auch Anne Mangen vom Zentrum für Leseerziehung und -forschung an der Universität in Stavanger.
"Wenn wir wollen, dass zukünftige Generationen sich mit komplexen, dichten und längeren Texten auseinandersetzen können, dann müssen wir dafür sorgen, dass im Unterricht genügend Zeit für das Lesen von längeren Büchern vorhanden ist. Das müssen die Schulen ernst nehmen, denn die Lektüre von narrativen Erzählungen in Büchern ist – das wissen wir aus der Leseforschung – eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung des Leseverständnisses und anderer akademischer Fähigkeiten."
Gerhard Lauer von der Universität Basel sieht das ein bisschen anders. Der Literaturwissenschaftler stimmt zwar zu, dass das Lesen von längeren Texten an Schulen wichtig ist, hält das Medium aber für weitgehend irrelevant:
"Wir führen die Debatte im Sinne von analog versus digital und erst müssen die Schüler die 'richtigen' Bücher lernen und dann können sie das digitale Buch auch noch ergänzend dazu nehmen. Das ist also eine sehr bildungsbürgerliche Vorstellung, dass es da eine moralisch richtigere Abfolge gäbe. Das Entscheidende ist aber eben wiederum nicht das Medium, sondern das Entscheidende ist: Erleben die Kinder – und dann vor allem die Jugendlichen – eine Umwelt, in der Lesen zählt. Das ist das eigentliche Problem, und nicht digital – analog."
Einem Nicht-Leser wie Trump fehlt die Empathie
Buch oder Bildschirm? Wo liest es sich besser? Womit lernen die Kinder am besten lesen? Viele dieser Fragen kann die Forschung noch nicht eindeutig beantworten. Worin sich aber alle Wissenschaftler und Leseforscherinnen einig sind: Das tiefgründige Lesen ist eine wichtige Fähigkeit. Denn es hilft uns dabei, zu empathischen Menschen zu werden, sagt die Psychologin Birte Thissen:
"In der Psychologie nennt man das Ganze 'Theory of mind' – das bezeichnet sozusagen diese ganzen Denkprozesse, die ich brauche, um mich in mein Gegenüber hineinversetzen zu können. Und da gibt es erste Studien, die darauf hinweisen, dass Leute, die viel lesen, quasi bessere 'Theory of mind' haben. Also, die können sich besser in ihr Gegenüber hineinversetzen, was ja auch irgendwie ganz sinnvoll wäre, weil was in Geschichten oder Romanen beschrieben wird, ist ja im Grunde so eine Art Simulation von sozialen Handlungen. Meistens liest man ja über Leute, die miteinander interagieren oder liest über den inneren Zustand einer Figur und so weiter. Und das sind natürlich alles Sachen, die diese Denkprozesse anstoßen sollten, dass ich mich da reinversetze."
Das prominenteste Negativbeispiel eines Menschen, der das nicht kann, ist für Maryanne Wolf der US-amerikanische Präsident. Die Kognitions- und Literaturwissenschaftlerin sieht einen Zusammenhang zwischen der Politik von Donald Trump, seiner Obsession für den Kurznachrichtendienst Twitter und den Berichten von Mitarbeitern im Weißen Haus, dass er Protokolle, politische Briefings und Geheimdienstberichte nur überfliegt und selten liest. Ein Buch nimmt der Präsident höchstens für ein Fotoshooting in die Hand.
"Trump liest nicht. Er ist ein Nicht-Leser. Und ich glaube, das hat seine Fähigkeit sehr beeinflusst, mit Komplexität, Wissen und Empathie umzugehen", sagt Wolf. "Er hat kein Einfühlungsvermögen. Er ist nicht in der Lage, die Vielschichtigkeit von Themen zu beurteilen. Seine Entscheidungen werden ausschließlich auf primitivste, egozentrischste Weise getroffen."
Der Kölner Drehbuchautor Joseph Bolz wollte sich mit dem Nicht-Lesen nicht abfinden und hat sein Experiment – drei Bücher in einer Woche – erfolgreich durchgezogen. Und nebenbei die Leselust, die er aus seiner Kindheit kannte, wiederentdeckt.
"Ich glaube, diese wahnsinnige Lust und dieser Effekt, den Lesen hat, den habe ich so wieder erfahren – und den will man dann auch nicht wieder loslassen. Und ich habe jetzt aktuell schon wieder fünf Bücher hier liegen, auf die ich warten muss, weil ich gerade eine Augen-OP hatte, das heißt, ich darf gerade nicht lesen. Aber ich freu mich schon sehr drauf, wenn ich wieder kann, weil es mir wirklich fehlt", sagt Bolz.
"Was hat das Lesen mit mir gemacht? Also, seit ich wieder so viel lese, ist mein kreativer Output viel größer geworden, wahrscheinlich auch, weil ich durch die vielen Bücher einen neuen Input habe. Das heißt, es ist mir viel leichter gefallen, seitdem in einer hohen Frequenz neue Ideen zu entwickeln, um die bei Produktionsfirmen vorzustellen oder auch einfach in meinen Job einzubauen. Das heißt, es hat meine Arbeit tatsächlich auch leichter gemacht."
Wir zehren vom Lesen. Wir tauchen in fremde Welten ein, lernen andere Blickwinkel kennen. Wir können tausend Leben führen, ohne mehr als einen Tod sterben zu müssen, sagt der Literaturkritiker Dennis Scheck. Und die Literaturwissenschaftlerin Maryanne Wolf ergänzt: Wir sollten uns wieder mehr Zeit dafür nehmen.
"Ich weiß jetzt, dass mir zu viel Bildschirm schadet. Und am Ende des Tages schalte ich diesen verdammten Bildschirm ab und lese. Es beruhigt meine Gedanken. Für mich hat das Lesen etwas sehr Meditatives."
Es müssen nicht gleich drei Bücher in einer Woche sein. Und auch nicht der 600 Seiten dicke Schmöker von Hermann Hesse. Wir dürfen klein anfangen: Step by Step, Seite für Seite.
"Denken Sie mal drüber nach: Es reichen schon 15 Minuten. Ich habe morgens wahrscheinlich mehr Zeit als Sie, aber ich mache es so: Ich meditiere erst 20 Minuten und lese dann 20 Minuten. Es beruhigt mich – und dann bin ich den Rest des Tages für den Bildschirm bereit."
Dieser Beitrag ist eine Wiederholung vom 23.07.2020.