Vorlesen als Therapie
Meistens liest ja jeder für sich allein. Doch das Kopfkino lässt sich auch wunderbar mit anderen teilen, wie das Projekt "The Reader" im nordenglischen Liverpool beweist. Gemeinsames Laut-Vorlesen kann erstaunliche Wirkungen haben.
Die Entstehungsgeschichte von "The Reader" klingt wie ein modernes Dickens-Märchen. Jane Davis war alleinerziehende Mutter und lebte von Sozialhilfe, als sie Doris Lessings Science-Fiction Roman "Shikasta" in die Hände bekam. Beunruhigt von den metaphysischen Fragen, die diese Geschichte aufwirft, schrieb sie der Autorin einen Brief. Die Nobelpreisträgerin antwortete und riet ihr, dringend mehr zu lesen. Und das tat die charismatische, herzliche Jane Davis. Sie promovierte in Literaturwissenschaften und gründete noch an der Universität eine erste Lesegruppe.
Inzwischen sind rund 500 daraus geworden und "The Reader" hat Partnerorganisationen in Amerika, Südafrika, Belgien. Wäre die Welt eine bessere, wenn wir alle mehr lesen würden?
"Ich denke schon, dass die Leute, wenn sie regelmäßig lesen würden, gedankenvoller wären und mehr Verständnis für die Situation anderer aufbringen würden. Sie hätten mehr Einsicht und wären empathischer mit anderen."
Lautes Lesen auch für Analphabeten
Die Lesegruppen von "The Reader" sind keine akademischen Literaturzirkel und auch mit den in England weit verbreiteten Leseclubs, bei denen jeder sein Buch zu Hause liest und man sich trifft, um über seine Lektüreeindrücke zu debattieren, hat das Get-into-Reading-Projekt wenig zu tun. Hier wird gemeinsam, unter Anleitung von ausgebildeten Projektmitarbeitern, laut gelesen, das heißt auch Menschen, die nicht in der Lage sind selbst zu lesen, können und sollen an diesem literarischen Austausch teilnehmen.
Jane Davis ist davon überzeugt, dass das "Schatzhaus der Literatur", wie es Doris Lessing nannte, für jeden offen sein sollte. Ihre Mutter war Alkoholikerin, Jane ist in Pubs aufgewachsen und hat selbst als Barfrau gearbeitet. Sie hat keine Berührungsängste mit den Randfiguren unserer Gesellschaft:
"Als ich noch dabei war, Gruppen aufzubauen, schaltete ich oft in meinen alten Bar-Frauen-Modus um. Im Stadtteil Birkenhead gibt es ein Obdachlosenheim für junge Männer und da tauchte ich dann mit Kuchen auf und organisierte einen Wettbewerb, bei dem die Jungs die beste heiße Schokolade prämieren sollten – und dann las ich ihnen etwas vor!"
Arbeit an einem internationalen Zentrum der Leselust
Seit 2013 residiert "The Reader" im Calderstones Mansion House, einem einst herrschaftlichen Haus in einem idyllischen Park. Neben einer kleinen Galerie und einem gut besuchten Reader-Cafe, sollen hier einmal Stipendiaten beherbergt und das ganze Anwesen zu seinem internationalen Zentrum der Leselust werden.
Bei meinem Besuch in Calderstones begleiten zwei junge Frauen, Siobhan und Judith, eine Kindergruppe, die Caldies Creatives, durch das Land der Literatur. Engagiert und voller Humor manövrieren sie die 15 Kinder durch die Grünanlagen und durch Geschichten wie "Shark in the park". Zum krönenden Abschluss basteln sich alle noch eine bunte Tiermaske, die sie mit nach Hause nehmen dürfen.
Im Anschluss lerne ich Jean, Maureen, Linette und Justina kennen. Die passionierten Gruppen-Leserinnen sind zwischen 52 und 63 Jahre alt. Gemeinsam lesen wir ein Gedicht von Robert Frost und kommen erstaunlich schnell ins Gespräch miteinander – und mit uns selbst.
Beim gemeinsamen Laut-Lesen nimmt man sich mehr Zeit, seinen Gedanken und Gefühlen nachzuspüren, lobt Justina.
Heilende Wirkung des Gruppenlesens
Tatsächlich sind die Effekte des gemeinsamen Lesens erstaunlich. Auf einem Wandzettel entdecke ich die Geschichte von Louise Jones, die an Asperger und Diabetes leidet, und im Jahr 2009 in Downing Street Nr.10 vom Premierminister ein Auszeichnung als "Leseheldin" überreicht bekam. Jahrelang verbrachte sie die meiste Zeit in Krankenhäusern, doch seit sie regelmäßig an einer der Get-into-reading-Gruppen in ihrer Bibliothek teilnimmt, musste sie kein einziges Mal mehr stationär behandelt werden.
Aus einer Lesegruppe für Patienten mit chronischen Schmerzen ist von einer Teilnehmerin, die seit dreißig Jahren an rheumatischer Arthrose leidet, zu hören, dass Lesen die Schmerzen an einen anderen Ort versetzen kann, irgendwohin, wo sie nicht mehr wichtig erscheinen.
"Eine Lesegruppe ist wie ein Spiegelkabinett: Man erkennt sich selbst darin, aber auch die Perspektiven der anderen auf den Text. Ich denke, das lieben die Leute so sehr an unserer Arbeit. Ich kann sehen, wie sehr sie es genießen, mit anderen verbunden zu sein. Denn tatsächlich gibt es nicht viele Dinge in unserer Welt, die es Menschen ermöglichen, sich mit anderen in so einer Weise zu verbinden."