Der Bücher-Retter von Kairo
In Ägypten verschwinden immer mehr private Bibliotheken. Alte Sammlungen, oft über Generationen zusammengetragen, landen auf dem Müll. Mit der Initiative "The Vanished Library" will Omar Amin diese Bücher retten und an neue Leser verteilen.
Die Wohnung links in der ersten Etage: Hier muss es sein. Omar Amin ist bei der richtigen Adresse. Eine Frau im langen schwarzen Gewand bittet ihn freundlich herein: Doktora Mona, eine Kairoer Universitätsdozentin. Sie hat ihn vor zwei Tagen angerufen. Bei ihr sei etwas abzuholen.
Im Wohnzimmer deutet die Ägypterin auf den großen Bücherschrank. Eine lange Reihe mit gut zwei Dutzend großformatigen Bänden springt einem dort als erstes ins Auge. Sie sind mit goldfarbenen arabischen Lettern beschriftet.
"Das ist eine Serie juristischer Fachliteratur … Und hier stehen noch religiöse Werke … Bücher über Kultur und Geschichte … Die sind alle sehr wertvoll. Manche sind mehr als 80 Jahre alt. Wir sind eine Familie, die ihre Bücher in Ehren hält."
Doktora Mona schwelgt in Erinnerungen. Aber irgendwann gebe es nun mal keinen Platz mehr, sagt sie schließlich entschlossen. Sie will die Bücher spenden:
"Ich habe Omar im Fernsehen gesehen. Seine Idee hat mir sehr gefallen. Ich mag es nicht, wenn Bücher herumliegen, während andere Leute Bücher suchen und nicht finden."
Bücher im Müll: "Das hat weh getan"
Alte Bücher zu neuen Lesern bringen, das ist Omar Amins Idee. Ihm wird gespendet, er spendet weiter an Schulen, Waisenheime und wissenschaftliche Institute. Private Bücherfreunde können mit dem 32-Jährigen tauschen. Und besonders ausgefallene Literatur bietet der Ägypter zum Verkauf.
"The Vanished Library" (Die verschwundene Bibliothek) heißt Omar Amins Initiative, die er vor zwei Jahren gegründet hat. Ein unglückliches Missverständnis mit einem Freund gab den Anstoß:
"Er hatte ein Familienmitglied, das gestorben war, und sie wussten nicht, was sie mit dessen Bücherei machen sollten."
Omar Amin fuhr vorbei, nahm spontan Hunderte Bücher mit. Zuhause sortierte er und schnürte Bücherpakete für den gesamten Bekanntenkreis:
"Nach einer Woche fuhr ich dann zurück, um die restlichen Bücher abzuholen. Aber da hatte die Familie meines Freundes sie inzwischen weggeworfen, einfach so auf den Müll! Das hat mir regelrecht weh getan. Seither sage ich: Wer seine Bücher nicht mehr will, ich nehme und verteile sie. Um wieder für die Kultur des Lesens zu werben."
Lesen ist zum Luxus geworden
Doktora Monas Bücherschrank leert sich. Sorgsam stapelt Omar Amin den Inhalt in mitgebrachte Plastikboxen. Zwischendurch blättert er immer wieder neugierig in einzelnen Exemplaren:
"Wenn früher jemand juristische Bücher hatte, dann besaß er meist auch Bücher von Camus und Baudelaire. Die Ägypter waren einmal sehr gebildet. Jetzt sieht es damit eher düster aus."
Das Interesse an Literatur habe abgenommen, klagt Omar Amin. Einer der Gründe ist Ägyptens anhaltende Wirtschaftskrise. Lesen sei zum Luxus geworden:
"Neue Bücher, ja, die sind sehr teuer. Viele Leute haben deshalb aufgehört, Bücher zu kaufen. Und eigene Büchereien richtet heutzutage niemand mehr ein. Deshalb heißt mein Projekt ja 'Die verschwundene Bibliothek'."
Im Kairoer Bardo-Clubhaus, einem Treffpunkt für junge Leute, hat Omar Amin vor einem Jahr selbst eine kleine Bücherei eröffnet, mit all seinen gesammelten Schätzen: In den Regalen stehen Romane, Kinderbücher und Cartoons, Henrik Ibsen auf Englisch und Franz Kafka auf Deutsch. Der Ägypter hat die Regale nach seinen eigenen Kategorien beschriftet:
"Hier stehen die Klassiker, die Sachen, die noch bei Kerzenlicht geschrieben wurden. 'El Macho': Das ist alles mit Action, Bomben und Waffen."
Wertvolles und Heikles befindet sich in abschließbaren Schränken, mit dabei George Orwells Science-Fiction-Klassiker:
"'1984'. Es ist hier nicht verboten, aber da gab es eine Geschichte von jemandem, der festgenommen wurde und er hatte dieses Buch dabei …"
Das Vermächtnis der Buchbesitzer
Hier in Omar Amins Bücherei kann ganz entspannt gelesen werden. Zum Beispiel auch das englischsprachige Original der Erotik-Trilogie "Shades of Grey".
"Ich sehe sehr viele Leute, die sich vor dem Regal hinsetzen. Die bewegen sich stundenlang nicht, wenn sie lesen. Aber kaufen wollte die Bände bisher noch niemand. Jaaaa, das hab ich auch gespendet bekommen."
Der Blick in die privaten Büchersammlungen der Ägypter verrate viel über seine Besitzer, so Omar Amin:
"Ich denke, das ist ihr Vermächtnis, das sie hinterlassen haben. Sie waren es ja auch gewohnt, ihren Namen in die Bücher zu schreiben. Und egal, wo das Buch heute ist, ihre Namen sind geblieben. Es ist immer noch ihr Erbe."