Lesen als psychosomatische Krankheit
Warum lieben wir Reime? Und was am Wort "Libelle" klingt für die meisten Menschen "schön"? Der Literaturwissenschaftler Raoul Schrott und der Kognitionsforscher Arthur Jacobs zeigen, wie sich in elementaren literarischen Stilmitteln neuronale Prozesse erkennen lassen.
In dem Buch "Gehirn und Gedicht" umkreisen die beiden Wissenschaftler auf über fünfhundert Seiten den biologischen Rahmen ästhetischer Phänomene. Von "Relationen und Intuitionen" bis "Verslänge und Strophenkombinatorik" arbeiten sich die beiden durch ein opulentes Programm - und das ist streckenweise hochinteressant zu lesen.
Als "milde Form psychosomatischer Krankheit" diagnostizieren die Autoren das Lesen, denn es zieht uns so stark in Bann, dass sich die Wirkungen tief bis in den Körper messen lassen - Milz, Lymphknoten und Knochenmark sind daran beteiligt. Auch die formale Widersprüchlichkeit der Poesie – sie tendiert zur metrischen Norm wie zum Regelbruch – lässt sich aus unserer evolutionären Herkunft begreifen. Unser Denken ist darauf angelegt, aus dem Chaos der Wirklichkeit Ordnung zu extrahieren. Auf der anderen Seite versetzen uns Abweichungen vom gewohnten Muster in Alarmbereitschaft, verheißen sie in freier Wildbahn doch Gefahr. Im Gedicht oder in der Musik mit ihrem Wechsel zwischen rhythmischer Ordnung und überraschender Wendung vollziehen wir den Spagat lustvoll nach.
Während Raoul Schrott sich in die Feinheiten von Metaphern, optischen Täuschungen und synästhetischen Phänomenen zoomt, immer die Parallelisierung zu einer evolutionsbiologisch reflektierten Neurowissenschaft suchend, präsentiert Arthur Jacobs in knapp vierzig, in der Gestaltung unterschiedenen "Boxen" empirische Studien zu Sprachererwerb, logischem Denken und musikalischem Talent.
Leider verliert sich das Buch allzu häufig in Detailwissen, und der avisierte Dialog zwischen Kognitionsforschung und Poesie gerät zum sperrigen Nebeneinandertürmen lexikalischen Wissens. Auch wird die philosophische Grundfrage, die den Dialog zwischen Geistes- und empirischen Kognitionswissenschaften mit einem prinzipiellen Fragezeichen markiert, nur im Vorwort angedeutet und danach gleich wieder vergessen: Wie lässt sich mit einer Naturwissenschaft kommunizieren, die das Metaphorische ihrer Erkenntnisse ignoriert und trotz ihres blinden Flecks weitreichende Wahrheitsansprüche anmeldet?
Raoul Schrott und Arthur Jacobs haben ein sperriges, monumentales, lückenhaftes und aufschlussreiches Buch geschrieben, das man als fortlaufende Lektüre weniger, als Steinbruch und Fundgrube aber umso mehr genießen kann. Eines machen die Texte eindrücklich klar: Mit ihrem Methodenarsenal des Zerteilens und Zerlegens ist die moderne Hirnforschung mittlerweile doch wieder beim ganzen Menschen gelandet - bei einem Menschen, der nur mit seinen Händen im Raum sprechen und nur mit Milz und Knochen lesen kann. Das Fazit, das sich aus der Lektüre ergibt, ist im Grunde ziemlich simpel: Wir sind so, wie wir sind – darum singen wir Lieder und schreiben Gedichte.
Besprochen von Susanne Billig
Raoul Schrott / Arthur Jacobs: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren Hanser Verlag, München 2011
528 Seiten, 29,90 Euro
Als "milde Form psychosomatischer Krankheit" diagnostizieren die Autoren das Lesen, denn es zieht uns so stark in Bann, dass sich die Wirkungen tief bis in den Körper messen lassen - Milz, Lymphknoten und Knochenmark sind daran beteiligt. Auch die formale Widersprüchlichkeit der Poesie – sie tendiert zur metrischen Norm wie zum Regelbruch – lässt sich aus unserer evolutionären Herkunft begreifen. Unser Denken ist darauf angelegt, aus dem Chaos der Wirklichkeit Ordnung zu extrahieren. Auf der anderen Seite versetzen uns Abweichungen vom gewohnten Muster in Alarmbereitschaft, verheißen sie in freier Wildbahn doch Gefahr. Im Gedicht oder in der Musik mit ihrem Wechsel zwischen rhythmischer Ordnung und überraschender Wendung vollziehen wir den Spagat lustvoll nach.
Während Raoul Schrott sich in die Feinheiten von Metaphern, optischen Täuschungen und synästhetischen Phänomenen zoomt, immer die Parallelisierung zu einer evolutionsbiologisch reflektierten Neurowissenschaft suchend, präsentiert Arthur Jacobs in knapp vierzig, in der Gestaltung unterschiedenen "Boxen" empirische Studien zu Sprachererwerb, logischem Denken und musikalischem Talent.
Leider verliert sich das Buch allzu häufig in Detailwissen, und der avisierte Dialog zwischen Kognitionsforschung und Poesie gerät zum sperrigen Nebeneinandertürmen lexikalischen Wissens. Auch wird die philosophische Grundfrage, die den Dialog zwischen Geistes- und empirischen Kognitionswissenschaften mit einem prinzipiellen Fragezeichen markiert, nur im Vorwort angedeutet und danach gleich wieder vergessen: Wie lässt sich mit einer Naturwissenschaft kommunizieren, die das Metaphorische ihrer Erkenntnisse ignoriert und trotz ihres blinden Flecks weitreichende Wahrheitsansprüche anmeldet?
Raoul Schrott und Arthur Jacobs haben ein sperriges, monumentales, lückenhaftes und aufschlussreiches Buch geschrieben, das man als fortlaufende Lektüre weniger, als Steinbruch und Fundgrube aber umso mehr genießen kann. Eines machen die Texte eindrücklich klar: Mit ihrem Methodenarsenal des Zerteilens und Zerlegens ist die moderne Hirnforschung mittlerweile doch wieder beim ganzen Menschen gelandet - bei einem Menschen, der nur mit seinen Händen im Raum sprechen und nur mit Milz und Knochen lesen kann. Das Fazit, das sich aus der Lektüre ergibt, ist im Grunde ziemlich simpel: Wir sind so, wie wir sind – darum singen wir Lieder und schreiben Gedichte.
Besprochen von Susanne Billig
Raoul Schrott / Arthur Jacobs: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren Hanser Verlag, München 2011
528 Seiten, 29,90 Euro