Lesen als Therapie

Shakespeare fürs Hirn

Lesegruppe bei "The Reader" in Liverpool
Lesegruppe bei "The Reader" in Liverpool © Deutschlandradio / A. Faber
Von Annegret Faber |
Laut lesen macht frei und glücklich, behauptet Jane Davis. Sie hat vor über zehn Jahren "The Reader" in Liverpool gegründet. Frauen und Männer mit Traumata, Alkohol- oder Familienproblemen kommen zum Lese-Treff. Zwei Literaturagenten haben in Berlin eine eigene Gruppe gegründet.
Nur noch 40 Seiten, und die Geschichte ist zu Ende. Heute sind alle sehr gespannt, sagt Craig. Denn es geht auf das Ende einer Geschichte zu, die hier seit einem Jahr gemeinsam gelesen wird. Jeden Mittwochmorgen, drei Seiten in eineinhalb Stunden.
Craig hat die volle Aufmerksamkeit. Fast alle lesen den Text mit, den Blick auf die Buchseite geheftet. Nur ein Mann schaut versonnen aus dem Fenster. Als Craig aufhört zu lesen, ist es eine Weile still. Danach beginnen die Gespräche. Die werden im Laufe der nächsten 90 Minuten immer offener und intensiver. Das ist die Idee hinter dem Treffen. Hinter dem Projekt, das sich schlicht "The Reader" nennt.

Niemand kennt Marcs Geschichte

Marc ist ein stattlicher Mann mit kurzem Haar, Brille und blau, grün kariertem, kurzärmeligen Hemd. Er ist 63 Jahre alt und hat offenbar schlimme Jahre hinter sich. Er erzählt, dass er nach dem Tod seiner Angehörigen lange nicht das Haus verlassen hat. Wer aus seiner Familie gestorben ist, sagt er nicht. Niemand hier in der Gruppe weiß es, obwohl Marc schon ein Jahr lang hierher kommt. Er wusste aber, dass es wichtig für ihn ist, wieder mit Menschen zu reden, sagt er. Und dafür sei "The Reader" ideal.
"I've always enjoyed reading. It’s something I used to keep myself occupied. And now I'm doing something which I've always enjoyed, but I'm doing it in company. So I'm getting the both benefits."

Lesen als fester Termin

Nach dem ersten Besuch kam er immer wieder. Heute ist das Lesen für ihn ein fester und wichtiger Termin. Jeden Mittwochmorgen eineinhalb Stunden über Literatur sprechen. Für mich genau das Richtige, sagt Marc. Er genießt es. Auch wenn er anfangs sehr nervös war und lange gebraucht hat, bis er überhaupt etwas sagte.
Die Villa im Calderstones Park in Liverpool
Die Villa im Calderstones Park in Liverpool© Deutschlandradio / A. Faber
Er mag es, hier dabei zu sein, er mag es zu lesen, zu diskutieren. Marc überträgt die Geschichten aus den Büchern in die Realität und spricht so über seine eigenen Gefühle. Er lernt hier, auf sich zu achten, überhaupt über Gefühle zu sprechen.

Lesegruppen zu jeder Tageszeit

Viele hier sind schon in Rente, sagt Craig, nachdem schon beinahe alle gegangen sind. Früher sehr beschäftigt, sind sie jetzt allein zu Hause und suchen Kontakte. Sie können immer kommen. Am Morgen, am Nachmittag oder auch abends. Es gibt zu allen Tageszeiten Lesegruppen. Anmelden muss sich niemand. Das alles ausgedacht hat sich Jane Davis, die Initiatorin des Projekts. Ihr Mann Phil, ein Literaturprofessor, unterstützt sie.
Vier Wochen vorher: Jane Davis ist zur Leipziger Buchmesse geflogen, um "The Reader" erstmals in Deutschland vorzustellen. Auf der Leipziger Buchmesse.

"So first I want to tell you what Shared Reading is not. It is not a book club. It is not a literature project. It is not a book promotion project. What we do is put books in to the hands of people how may never held them before."

Wir legen Bücher in die Hände derer, die vorher vielleicht nie ein Buch in der Hand gehalten haben, sagt Jane und spricht vor allem von den Emotionen, die beim Lesen frei werden und verdeutlicht das anhand der Geschichte einer älteren Dame, die während einer Lesung in der Calderstones Villa hemmungslos zu weinen begann.

"And a lady in the group began to cry, she is a lady in the seventies, and she couldn’t stop. And after twenty years at university I have never seen anybody moved to tears by literature like that and I didn’t want to and said let’s stop, let’s stop, and she said, no carry on, carry on and so we were carrying on reading and talking and she did not carry on crying."
Stopp, stopp, hört auf zu lesen, sagte Jane, aber die Dame bestand darauf, dass weiter gelesen wird. Am Ende der zwei Stunden entschuldigte sie sich bei allen und sagte: Meine Tochter ist gestorben und ich bin zum ersten Mal seitdem wieder unter Menschen.

Ein Orden von der Queen

Als die Frau dann ihre Hand nahm, spürte Jane: Das ist es, was ich machen möchte, machen muss - Menschen helfen durch Literatur, durch Poesie. Und das tut sie. 140 Arbeitsplätze hat sie mit "The Reader" geschaffen, 300 ehrenamtliche Mitarbeiter unterstützen sie. Die Queen hat ihr für ihr Engagement 2011 persönlich einen Orden angesteckt.
"The Reader"-Gründerin Jane Davis
"The Reader"-Gründerin Jane Davis© Deutschlandradio / A. Faber
"The Reader" lesen mit Menschen in Gefängnissen, Krankenhäusern, Altenheimen, Kindergärten. Und egal wo, sie tun immer dasselbe: Lesen und über die Geschichten sprechen. Über die Menschen darin, mit ihren Problemen, Sorgen, Emotionen.
Und jetzt hat das simple Konzept andere angesteckt. Carsten Sommerfeldt und Thomas Böhm zum Beispiel, zwei Literaturagenten aus Berlin. Beide haben Jane Davis zur Buchmesse nach Leipzig eingeladen. Beide haben vorher zusammen Liverpool besucht. Nachdem sie zurückkamen, war völlig klar, dass sie in Berlin eine eigene Lesegruppe gründen werden.

Bei Shakespeare steigt die Hirnaktivität

Lesen und darüber mit anderen sprechen hilft gegen Einsamkeit, Depressionen, schlechte Laune und es steigert das Selbstbewusstsein, sagt Janes Mann Phil Davis. Gemeinsam mit Kollegen aus der Neurologie ist der Literatur-Professor der Frage nachgegangen: Was macht lautes Lesen mit dem menschlichen Gehirn?

"Für die Tests haben die Probanden Texte von Shakespeare gelesen. Weil es dort Irritationen gibt, Worte, die anders als üblich genutzt werden. Grammatik, Orthografie und Aussprache waren zu seiner Zeit noch nicht so standardisiert. Dann haben wir mit einem EEG gemessen, was passiert mit dem Hirn des Lesers, und wir konnten sehen, dass die Hirnaktivität gestiegen ist. Das Wort hat das Hirn aktiviert und es kann danach komplizierter denken, ist beweglicher. Poesie macht die Menschen also lebendiger, selbstbewusster und auch die Herzrate verändert sich, die Hautspannung, und das sieht man, auch wenn man in den Gruppen sitzt."
Der Süßigkeitenladen für die Lesepausen
Der Süßigkeitenladen für die Lesepausen© Deutschlandradio / A. Faber
Die Lesegruppe von Carsten Sommerfeldt und Thomas Böhm trifft sich in der Berliner Friedrichstraße. Keine Villa mit Park, sondern erster Stock Neubau. Die Teilnehmer der Berliner Gruppe sind Projektmanager, Verleger, Übersetzer und Literaten. Auf den ersten Blick keine Biografien mit großen Brüchen. Und doch kommen auch sie aus demselben Grund, wie die Menschen in Liverpool. Sie wollen zuhören, reden, lesen, sich verstanden fühlen, andere verstehen und Zeit haben für ein paar Zeilen Literatur. Die Jüngste ist 27. Der älteste 68. Die Gruppe gibt es seit gut einem halben Jahr.
"Alles, was man findet in der Sprache in dem Sprechen, ist ja Ausdruck - und man ist ständig zwischen Bewusstheit und Unbewusstheit und das wechselt in so einer Gruppe in so einem Raum, dass man sich getragen fühlt, und sich auch in so einer Gruppe vorstellen kann, über Persönliches zu spreche, und das verstärkt sich nach unserer Erfahrung, je öfter man zusammen sitzt."

Zuhören, reden, lesen - oder einfach nur Schweigen

Thomas Böhm leitet heute die Gruppe an. Er hat den Text ausgewählt und verteilt Kopien. Es ist ein Gedicht von Gottfried Benn.
"Nur zwei Dinge.
Durch so viele Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewusst,
es gibt nur eines: ertrage -
ob Sinn ob Sucht ob Sage -
dein fernbestimmtes: Du musst.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, vergeblich,
es gibt nur zwei Dinge:
die Leere und das gezeichnete Ich."
Augenblicklich kehrt Ruhe ein. Alle schauen auf ihr Blatt mit der Kopie des Gedichtes und lesen in Gedanken jedes Wort mit. Zuhören, Reden, Lesen, achtsam sein. Manchmal auch einfach nur Schweigen.
"Das gehört auch dazu, dass es ein bisschen still ist und dann sagt jemand was. Ja, dieses innere Nachschaffen, wie es der gute alte Goethe genannt hat. Es braucht eben manchmal Zeit, gerade wenn man sich so einen Text zum ersten Mal liest, ja. Und dieses Aushalten von Stille, das kommt ja zunehmend aus der Mode."

Das Manuskript der vollständigen Sendung im PDF-Format und barrierefreien txt-Format zum Herunterladen


Reporterin Annegret Faber
Reporterin Annegret Faber© Quelle: privat
Feature-Autorin Annegret Faber: "Ich lese gern, ich lese auch gerne vor und fand die Vorstellung sehr schön, durch Lesen näher an Menschen und ihre Seele heranzukommen."