Lesen in der Generation Smartphone

Wenn der Wortschatz viel zu klein ist

Ein Junge sitzt mit seinem Schulranzen auf einer Tischtennisplatte und spielt auf einem Smartphone.
Ein Junge sitzt mit seinem Schulranzen auf einer Tischtennisplatte und spielt auf einem Smartphone. © picture alliance / ZB / Jens Kalaene
Kathrin Buchmann im Gespräch mit Ute Welty |
Können Kinder und Jugendliche heute schlechter lesen als vor der Smartphone-Ära? Das komme sehr auf das Kind an, sagt Kathrin Buchmann vom Berliner Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur. Für den Wortschatz brauche es vor allem Vorbilder. Und Apps spielen eine wichtige Rolle.
Ute Welty: Jede Twitter-Nachricht hat maximal 140 Zeichen. Goethes "Faust" hat im Ersten Teil schon fast 31.000 Wörter, im zweiten sogar mehr als 45.000. Das klingt schon sehr danach, als ob es zwischen 1808 und 2017 einen erheblichen Verlust an Komplexität gegeben hat. Der Sprachwissenschaftler Henning Lobin ist aber gar nicht so pessimistisch, wenn es um die Zukunft des Lesens geht. So jedenfalls positioniert sich der Professor aus Gießen hier im "Studio 9"-Gespräch:
O-Ton Henning Lobin: Die Smartphone-Generation, die gehen ja zur Schule, werden dort auch mit Literatur konfrontiert. Und wir dürfen eins nicht vergessen: Die Generation, die heute immer mit dem Smartphone in der Hand herumläuft, ist die Generation, die mit "Harry Potter" aufgewachsen ist und sieben, acht Bände verschlungen hat, was eine Lesesozialisation darstellt, die, glaube ich, viele, die ein bisschen älter sind, in der Form vielleicht gar nicht mitgemacht haben. Das ist tatsächlich etwas, was auch anstrengend ist zu erlernen, diese Fähigkeit werden sie auch weiterhin erwerben, denn wir schaffen das ja auch in der Schule nicht ab.
Welty: Eine durchaus optimistische Einschätzung von Henning Lobin, die wir jetzt nachfragen bei Kathrin Buchmann. Sie arbeitet beim Berliner Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur, das nennt sich LesArt. Guten Morgen, Frau Buchmann!
Kathrin Buchmann: Guten Morgen!
Welty: Kann Harry Potter tatsächlich zaubern und Smartphone-Kids in Leseratten verwandeln?
Buchmann: Harry Potter kann das sicher! Ich denke schon, dass Smartphone-Kinder auch "Harry Potter" lesen, aber auch andere Bücher lesen und dass Lesen eine große Rolle spielt. Aber für mich ist die Smartphone-Generation sehr differenziert zu betrachten, also die Kinder und Jugendlichen, die ein Smartphone haben. Natürlich spielt das Lesen dort schon eine Rolle und die Komplexität kann gar nicht gegeben sein auf so einem Smartphone. Aber uns bei LesArt liegt es ja am Herzen, Kinder mit Literatur vertraut zu machen, also mit der Komplexität der Darstellung von Welt. Und das haben wir uns zur Aufgabe gemacht. Wir versuchen, Kindern und Jugendlichen Lust darauf zu machen, sich mit Literatur, mit Büchern und anderen Medien – literarischen Medien – zu beschäftigen, sich damit auseinanderzusetzen.
Welty: Was macht den Unterschied aus zur Begegnung von Literatur und Kindern von vor zehn Jahren?
Buchmann: In unserem Falle ist es so, dass wir schon immer bildgestützt gearbeitet haben, aber auch jetzt verstärkt, gerade mit den älteren Kindern und den Jugendlichen auch verstärkter bildgestützt arbeiten, also auf Bildmedien zurückgreifen, Bilderbücher, Graphic Novels und natürlich auch Medien wie Filme, Hörbücher und auch Apps zum Beispiel oder Computerprogramme.
Welty: Und das ist auch notwendig heutzutage? Also eben mit so einer bildgestützten Variante an Kinder und Jugendliche heranzutreten? Das bloße gedruckte Wort funktioniert nicht mehr?

Bildmedien helfen der Vorstellungskraft auf die Sprünge

Buchmann: Kommt darauf an, wie jemand das Lesen erlernt hat oder auf welchem Stand er ist. Das funktioniert auch noch ohne, aber das hängt wirklich davon ab, wie ein Kind, wie ein Jugendlicher lesesozialisiert ist oder mit Literatur schon in Kontakt getreten ist, also von der Leseerfahrung, von der literarischen Bildung oder kulturellen Bildung eines Kindes oder eines Jugendlichen. Und wir machen die Erfahrung, dass es helfen kann, der Vorstellungskraft, der Fantasie auf die Sprünge helfen kann, wenn wir mit Medien arbeiten. Oder wir arbeiten vergleichend: Wir haben einen Text und vergleichen diesen Text dann mit einer Umsetzung zum Beispiel im Film, sodass die Kinder sich sowohl genau auseinandersetzen mit einer Textstruktur, mit einer Situation im Text, was längere Zeit dauert, als dann einen vielleicht zweiminütigen Filmausschnitt zu sehen. Das ist auch etwas …
Welty: Sagen Sie denn, die Lesefähigkeit hat sich verändert? Oder sagen Sie, die Lesefähigkeit ist inzwischen eingeschränkt?
Buchmann: Kommt auch wieder auf das Kind, auf den Jugendlichen drauf an. Was wir beobachten, ist, dass wir uns nicht mehr sicher darauf verlassen können, dass Kinder in einer dritten oder vierten Klasse einen vielleicht dreizeiligen Text vorlesen können und auch verstehen, was sie dort lesen. Kommt auch wieder auf die Kinder drauf an, aber das ist etwas, was uns sehr auffällt. Das war vor zehn Jahren noch besser möglich. Und wir …
Welty: Also ist sie doch eingeschränkt, die Lesefähigkeit?
Buchmann: Ja, das hat sich verändert. Ja, bei Kindern hat … Bei bestimmten Kindern oder bestimmten Jugendlichen, ja. Es gibt natürlich auch die anderen Beispiele, wo es nicht so ist …
Welty: Welche Kinder sind das denn, wo Sie sagen, das ist besonders problematisch?
Buchmann: Ich glaube, das sind die Kinder, die zu Hause keinerlei Vorbilder haben oder keine literarische Bildung oder kulturelle Bildung genießen oder wenig davon genießen können, also wenig Kontakt haben zu Kunst, zu Literatur, und wo es auch wenige Vorbilder gibt. Und wo eventuell die Sprachfähigkeit erst später erlernt wird, oder eine differenzierte Sprachfähigkeit, wo es ein Grundvokabular gibt oder einen Grundwortschatz, mit dem man sich verständigen kann, aber wo die Sprachfähigkeit, um Literatur zu verstehen, noch nicht so weit ausgebildet ist.
Welty: Das klingt aber fast schon so, als ob Sie nicht nur Kurse oder Anregungen für Kinder und Jugendliche geben müssten, sondern eben auch vor allen Dingen Kurse und Anregungen für die Eltern!

"Wir bereiten die Brücken zu den Büchern hin"

Buchmann: Ja. Also, diese Vorbilder sind sehr wichtig. Und wir machen ja auch Familienveranstaltungen, wo wir eben gemeinsam mit Kindern und Erwachsenen auf den Weg von Literatur gehen, also in literarische Texte, in Geschichten eintauchen. Und die Lust an den Geschichten ist das eigentlich, die wir vermitteln wollen und mit denen wir auch Nichtleser oder Kinder oder Jugendliche, die nicht sehr gern lesen, trotzdem erreichen und die wir trotzdem begeistern können für eine Geschichte, für ein Buch, für einen Text, sodass ein Jugendlicher … Mir fällt gleich ein Beispiel ein, der zu einer Tschick-Veranstaltung kam, und sagte: Guten Morgen, mit Lesen habe ich nichts am Hut …, das Haus betrat. Dann am Ende sagte er: Sie werden es nicht glauben, aber dieses Buch werde ich mir auch mal ausleihen. Also, ich glaube, der Reiz liegt darin, Kinder und Jugendliche für Geschichten zu begeistern. Und die literarische Fähigkeit oder die Lesefähigkeit ist natürlich eine Voraussetzung dafür, wenn das ausschließlich mit Büchern erfolgt. Aber wir bereiten die Brücken zu den Büchern hin.
Welty: Welche Geschichten kommen besonders gut an? Was war Ihre vielleicht erfolgreichste Veranstaltung?
Buchmann: Das kann ich nicht sagen, weil wir sehr viele verschiedene Dinge machen. Sehr erfolgreich sind immer unsere Ausstellungen und die damit verbundenen Ausstellungsworkshops und Ausstellungsführungen. Wir haben eine sehr interessante Veranstaltung zum Bilderbuch "Akim rennt" durchgeführt mit einer 8. Klasse, wo ich glaube, dass die Motivation darin bestand, dass dieses Buch wenig Text hatte. Das hatte sich eine 8. Klasse selbst ausgewählt und die dreieinhalbstündige Veranstaltung, die wir dann durchgeführt haben, war eine, die sehr stark darum ging, Bilder zu entschlüsseln und auch den Text in Bezug zu diesen Bildern zu setzen. Das ist ein wirklich sehr dichter Text und das war für uns eine große Überraschung, mit welcher Intensität, Aufmerksamkeit sich diese Schüler sich diesem Text und diesen Bildern gewidmet haben.
Welty: Was planen Sie als nächstes?
Buchmann: Als nächstes planen wir unser 25-jähriges Jubiläum. LesArt wird nächstes Jahr 25 und wir möchten ein Festivalprogramm durchführen mit 25 Veranstaltungen aus 25 Jahren, die wir in unserem Haus durchführen. Aber wir wollen mit diesen Veranstaltungen auch an 25 neue Orte in Berlin und diese dorthin transferieren. Diese Orte haben auch mit dem zu tun, was in der Literatur passiert. Wir werden vom Planetarium bis zur BSR, vom Abgeordnetenhaus bis zum Botanischen Garten LesArt-Veranstaltungen durchführen, die immer mit Büchern und Literatur im Zusammenhang stehen.
Welty: LesArt in Berlin will Kinder fürs Lesen begeistern. Und Kathrin Buchmann trägt ihren Teil dazu bei, auch mit diesem Gespräch in "Studio 9". Danke dafür!
Buchmann: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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