Was Leser wirklich lesen wollen
Leserplattformen wie "Goodreads" machen das, was das seriöse Feuilleton verabscheut: Sie beurteilen Bücher mit einem bis fünf Sternchen. Wo manch einer Verflachung fürchtet, sieht unser Kritiker Stefan Mesch vor allem: unzählige Leseempfehlungen.
Bücher bewerten, mit einem bis fünf Sternen? Platz, eigene Lese- und Geschmacksurteile zu teilen? Das geht in Blogs oder Online-Läden – und viele, die das reizt, entschieden sich schon für eine der vielen Plattformen: Wozu noch Goodreads?
Tumblr, Twitter, Facebook erlauben Diskussionen, schnelle Kommentare. Blogs bieten Platz für längere, von Suchmaschinen auffindbare Texte. Auf Instagram treffen Buchfotos auf Schlagworte und Hashtags: Wer "Essay" klickt, sieht schön drapierte Sammelbände.
Portale wie "Lovelybooks" und "Literaturschock" bieten "Leserunden": Wer sich anmeldet, gewinnt Gratis-Bücher, liest sie zeitgleich mit anderen und darf in Foren abschnittweise Fragen an Autorin oder Autor stellen.
"Skoobe" bietet eine Lese-Flatrate. Und "Netgalley" schickt Gratis-Ebooks, im Tausch gegen Rezensionen.
Die eigene Bibliothek online stellen
"Goodreads" ging 2006 online. Ein Social-Cataloging-Dienst, der einlädt, Bücher neu zu verschlagworten und auf eines oder mehrere virtuelle "Regale" zu ordnen. Wer will, kann das komplette bisherige Lese-Leben abbilden, alle Bücher bewerten, die eigene Bibliothek als Liste oder Mosaik öffentlich teilen. Hinzu kommt ein (mittelmäßiger) Buchempfehlungs-Algorithmus, Foren, Newsletter und die Wahl zu den Büchern des Jahres.
"Was habe ich gelesen, wie hat es mir gefallen?": Die Plattform hilft, das der Welt zu präsentieren. Erst ein paar Tausend Lesende in Deutschland hatten bisher Lust. Weniger bekannt und diskutiert, doch für viele interessanter ist die verwandte Frage "Was lese ich als nächstes?". Wem Werten, Sternchen-Geben und das öffentliche Sortieren von bereits Gelesenem egal ist, sollte trotzdem nochmal durch Goodreads stöbern. Nirgendwo lässt sich gerade schneller, präziser sehen, welche Bücher Menschen zufrieden stellen.
Auf Lovelybooks, dem deutschen Goodreads-Gegenpart des Holtzbrinck-Konzerns, wird jedem Buch eine Durchschnittswertung zwischen einem und fünf Sternen berechnet – und als Grafik angezeigt: Fast alle Bücher haben rund vier Sterne. Manche dreineinhalb. Manche viereinhalb. Man muss die Augen zusammenkneifen: vier Sterne – Pi mal Daumen.
Goodreads ist technokratischer: "Owen Meany" ist der beliebteste John-Irving-Roman, mit 4.22 von 5 Sternen. Der aktuelle Irving, "Straße der Wunder", dagegen einer der unbeliebtesten: 3.22 von 5. Die Knausgaard-Bände mit den höchsten Wertungen sind "Lieben" und "Träumen". Band 6, "Kämpfen", fällt ab.
Man muss die Wertungen interpretieren
Wer Goodreads-Wertungen und ihre vielen Macken und Idiosynkrasien kennt, findet bald populäre, vergessene oder überraschende Bücher. Schullektüren haben oft schlechte Wertungen – weil zu viele Menschen sie gegen ihren Willen lasen.
Erotik, Liebesromane, Fantasy und christliche Bücher sind oft übertrieben hoch bewertet: Sie haben eine euphorisierte Fangemeinde. Gehobene Belletristik ist ab 3.70 von 5 Sternen einen Blick wert, ab 4.00 oft spektakulär.
2013 wurde Goodreads von Amazon übernommen. Vielleicht, weil nirgendwo so schnell sichtbar wird, welche Bücher Menschen weltweit als "will ich lesen" markieren. Ob sie diese Bücher tatsächlich kaufen, lesen, und mögen. Ein Datenreichtum, der das Verlegen und Verkaufen ändern kann.
Ich selbst nutze die Plattform als Sortier- und Anlese-Zettelkasten: Ich lese durch die vielen spezifischen, teils absurden Listen, die Goodreads-Mitglieder aus aller Welt anlegten: "Liebesromane, in denen Obstanbau eine Rolle spielt", "Aktuelle Jugendbücher, die in den 50er-Jahren spielen".
Schwarmintelligenz macht Lust aufs Lesen
Ich markiere Bücher mit hoher Punktzahl oder sympathischen Rezensionen, stöbere durch virtuelle Regale von Vertrauten und suche dann Online-Leseproben: Seit 2011 blätterte ich durch 13.000 Bücher. Bei 2.500 davon wusste ich: Das will ich bald komplett lesen!
Goodreads ist kalt, kommerziell, optisch nicht sonderlich schön und nur bei deutschsprachigen Büchern oder Ausgaben deutschsprachig. Doch wenn 50, 500, 5000 Menschen gefragt werden "Los! Gib diesem Buch zwischen einem und fünf Sternen!", überrascht die Schwarmintelligenz beglückend oft mit Stimmungsbildern und Urteilen, die Lust aufs Lesen machen.
Mein Buch-Wunschzettel wächst. Und niemand zwingt mich, diese Bücher später ausgerechnet bei Amazon zu ordern.