Frustschutzmittel im Horror des Alltags
Bei der Langen Nacht der Weltreligionen bei den Lessingtagen in Hamburg gab es keine scharfen Diskussionen - und so sorgten die Gespräche auf dem Podium eher für gegenseitige Entspannung in Zeiten von abgeschlagenen Köpfen und rassistischen Parolen. Aber zum Finale der Nacht gab es dann doch ein bisschen Aufruhr.
Die Parabel vom Ring, den ein Vater vererbt (und dafür zunächst mal kopieren lässt, damit er jedem Sohn den Eindruck vermitteln kann, er hätte den schönsten und sei darum Vaters Liebster), erzählt bekanntlich der weise Nathan in Lessings ewigem Klassiker, um die Erkenntnis zu bebildern, dass es mit diesem Ring so sei wie mit den Religionen: jeder Gläubige möge gern die eigene für die bedeutendste halten, aber letztlich seien alle gleich.
Und nah bei Gott möge der sich fühlen, der sich "den Menschen angenehm" mache, also alle Welt und gerade die konkurrierenden Religionen achte, ehre und schütze. "Die Lange Nacht der Weltreligionen" ist so gesehen eine Art von abendfüllender Ring-Parabel im Programm der Lessingtage, scharfe Diskussionen sind hier rar – die Gespräche auf dem Bühnenpodium sind eine Art Vademecum, ein Frustschutzmittel im Horror des Alltags, den abgeschlagene Köpfe und rassistische Parolen prägen und im seltensten Fall der Dialog.
Ruf zur Schlacht und Ruf zur Versöhnung
So besteht der Koran auf reiner Wahrheit, so beschwört die Christen-Bibel den kämpferischen Gott, so wendet sich derweil die jüdische Tora gegen Hass und Gewalt. In fast allen heiligen Büchern monotheistischer Glaubensrichtungen gibt es aber das eine und das andere – den Ruf zur Schlacht und zur Versöhnung. Ulrich Dehn von der Akademie der Weltreligionen an der Uni Hamburg formuliert die Fragen, auf die kaum Antwort zu haben ist:
"Wo wird Gewalt begründet, wo wird sie kritisiert, welche Traditionen gibt es zu Gewaltfreiheit?"
Im Hamburger Festival werden die Horizonte der Religionen vermessen; und so gut verstehen alle einander, dass zuweilen schon die Frage aufkommen mag, warum eigentlich draußen, außerhalb der beschützten Werkstatt, derart viel Weltuntergang ist. Gemeinhin weiß nicht mal das Theater, dieser Raum der grenzenlosen Phantasie, Antwort darauf.
Aber manchmal benennt es ja das Unüberbrückbare, die unaushaltbaren Differenzen: in kleinen Geschichten.
Das ist Afrika, wir lieben unsere Frauen; und zwar möglichst viele auf einmal... So machomäßig, aus tiefster traditioneller Überzeugung, klingt es dem belgischen Schauspieler Oscar Rompay in den Ohren, seit er in Kenia Fuß zu fassen begann. Und wie sehr er sich auch öffnete für "das Fremde" des neuen Kontinents, wie sehr er suchte nach dem Miteinander – er weiß doch heute, dass wirklich alles anders ist: Essen, Liebe, Sex, alles eben.
Viel freche Kritik
Zu den fremdesten Momenten im internationalen Theater-Austausch gehören noch immer Gastspiele aus China, selbst wenn sie so spürbar auch für den Rest der Welt kreiert sind wie "Bernstein", das Stück von Liao Yimei in der Pekinger Inszenierung von Meng Jinghui. Im Zentrum steht da ein Herz – einem präpotenten Kleinkriminellen und geckenhaften Großmaul wird es implantiert, aber die Geliebte des Vorbesitzers überträgt nun die alte Liebe auf den neuen Besitzer.
Viel freche Kritik üben Stück und Inszenierung an der fortschreitenden Verwestlichung des kommerz-verseuchten Alltags, auch der latenten Sexualisierung, und der Kern ist romantisch: "Bernstein" reist mit Lizenz des chinesischen Kulturministeriums. Vom "Aufruhr" weltweit (den die Lessingtage so gern dokumentieren würden) ist nichts zu sehen.
Zum Finale am nächsten Wochenende allerdings meldet sich der Vorjahres-Aufruhr von Kiew zu Wort – "Majdan-Tagebücher" heißt ein Stück von Natalja Voroshbit und Andriy May.
Sie hatten kaum begonnen, erzählt Andriy May, Stimmen zu sammeln am Rand der Demonstrationen gegen die alten Mächte, da hatten sie schon 18 Stunden Video und Interview beisammen. Und hier immerhin ging es mal (wie im Titel der Lessingtage) "um alles in der Welt".