Wie viel Fremdheit wir noch zu begreifen haben
Bereits zum fünften Mal veranstaltet das Thalia Theater in Hamburg seine Lessingtage. Welche Aufführungen bislang überraschen konnten, verraten wir in einer Zwischenbilanz.
"Wie viel Antigone mag wohl stecken in jeder von ihnen? Wie viel Mut und Wut, Widerstand und Ausdauer; aber auch wie viel Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ..."
Von Ismene, der hilflosen, und von Antigone, der unaufhaltsamen Schwester, sprechen hier neun Frauen, die im Beiruter Flüchtlingslager Schatila für ein Theater-Projekt gewonnen werden konnten von den Theatermachern Mohammad al-Attar und Omar Abusaada. Jede für sich hat den Mythos erkundet mit Blick auf den Alltag, auf Krieg und Tod, Erniedrigung und Unterdrückung.
Mit der alten Fabel im Kopf erzählen sie die eigenen Geschichten: von toten Vätern und verschleppten Brüdern, Warlords im Bürgerkrieg und Patriarchen im eigenen Haushalt. Und bald ist die alte Geschichte vom Widerstand bis zum Letzten, bis in den eigenen Tod, nur noch ein Zitat: gerade weil sich die Frauen dem antiken Vorbild immer bloß schrittweise nähern (und sich selber durchaus die Frage stellen, wie weit sie gehen könnten), bleibt Antigone präsent.
Ihre Geschichte hat Wiedergängerinnen hervorgebracht, gerade heute und gerade im arabischen Raum; im vorigen Sommer zeigte das Edinburgh Festival eine Version aus Dubai, die die Fabel im europäischen Mittelalter spiegelte. Darum geht's beim Gastspiel im Rahmen der Lessingtage nicht – diese Dokumentation hat keine Erlösung im Angebot, kein glückliches Ende in Sicht.
Ein ganzes Dorf singt und betet hier um Erlösung
Schneller Szenenwechsel ins belgische Antwerpen – ein ganzes Dorf singt und betet hier um Erlösung von Schrecken und Angst. Das junge Kollektiv, das diese sonderbar finstre Messe kreiert hat, nennt sich "FC Bergman"; und tritt so wie ein Fußball-Team auf im Namen des großen schwedischen Regisseurs. Damit aber noch nicht genug an Ambition – die bedrohliche Fabel um dieses Bühnendorf trägt im Titel auch die noch biblischen Ellen-Maße für Länge, Breite und Höhe von Noahs Arche. So viel Ambition kann sich nur übernehmen – der eigentliche Reiz dieser Theater-Entdeckung ist im Grunde viel schlichter.
Auf Schienen umkreist ein Kamera-Wagen sieben ärmliche Hütten (mit einem Wald dahinter und vorn einem stoischen Angler am Wasserloch); die Kamera schaut von hinten in alle Häuschen hinein – und zeigt (poetisch überhöht) den schmerzlich-abstrusen Alltag.
Dem alten Mann sieht sie zu, der das Krankenbett verlässt und im Wald verschwindet – ein Junge nimmt seinen Platz ein; und gibt sich viel Mühe, die Taube des Alten um die Ecke zu bringen. Ein junger Mann inszeniert im Wohnzimmer harmlose kleine Explosionen – wenn er fliehen will aus dem Dorf gegen Ende (und die Gemeinschaft ihn daran hindert), sprengt er sich in die Luft.
Fliehen wollte er mit der Klavierschülerin von gegenüber, in deren Donauwellenwalzer immer wieder die Pistolen von vier Ballermännern nebenan hinein kartätschen ...
Es wird telefoniert und onaniert
Eine Hütte weiter wird telefoniert und onaniert, und die Dame des Hauses findet nach ganz viel Drücken eine Riesenmuschel in der Kloschüssel; da nimmt sich das exzessive Fischessen zwei Hütten weiter eher harmlos aus.
Sie alle sind "besorgte Bürger", irgendein Weltuntergang spukt durch ihre religiös vernebelten Hirne – aber wenn den jemand herbei beschwört, dann sind es sie selber. Die Performance vom FC Bergmann beunruhigt – auch wenn sie für's Theater nicht viel mehr zu bieten als die grandios verwirrende Szenerie. Das hat sie mit der estnischen Produktion des Regie-Teams von Eneliis Semper und Tiit Ojasoo gemein – deren Ritual vom "Abschaum" aus Tallinn war das erste und prägende internationale Gastspiel-Ereignis.
Hier trampeln sechs junge Leute rhythmisch sehr präzis arrangiert durch Matsch und Pampe, suchen die Begegnung mit- und finden den Kampf gegeneinander. Gewalt zwischen Mann und Frau wird ebenso spürbar wie die Sehnsucht nach dem Heiland, dem Erlöser aus all diesem Dreck. Einer endet irgendwann in einer Pose wie Christus am Kreuz in dieser sehr düsteren Beschwörung zeitgenössischer Hoffnungslosigkeit.
Drama um Rache und Versöhnung aus Shanghai
Ausgerechnet aus Shanghai kam die am wenigste abstrakte Betrachtung der Welt – "Die Masse", geschrieben von Nick Yu Rongjun und inszeniert von Tang Wai-Kit, ist ein Drama um Rache und Versöhnung: Ein Junge will für die 1967 in den Wirren der Kulturrevolution erschossene Mutter nicht nur beim Täter von damals, sondern auch von dessen Sohn die Schuld einfordern. Auge um Auge, Leben um Leben. Am Schluss vergibt der Rache-Engel, denn auch der Täter nahm sich schuldbewusst das Leben.
"Die Masse" heißt das Stück, und immer wieder klagt es an, wie fatal die Menge den Einzelnen konditioniert, politisch und menschlich. Wie bei den Krähen, die einander eben doch bekriegen ...
Nicht allzu realistisch will die Aufführung sein – so verzichtet sie auf jedes Requisit. Besonders "modern" im westlichen Sinne ist sie sicher auch nicht – dafür sehr intensiv. Das gilt für alle Bilder dieser Tage: aus Shanghai und Shatila, Antwerpen und Tallinn. Wie viel Fremdheit wir noch zu begreifen haben – auch dafür stehen die Lessingtage in Hamburg.