Grau war gestern
Riga, Europas Metropole des Jugendstils, leuchtet wieder - spätestens Ende des Jahres, wenn sich zum Lichtfest alle Scheinwerfer auf die berühmten Fassaden der lettischen Hauptstadt richten.
Kaum etwas lieben die Letten so sehr wie das Singen, vielleicht noch Blumen, deswegen tragen Laiensängerinnen gern Blumenkränze auf dem Kopf. Lettland wurde berühmt für seine singende Revolution von 1988 bis 1991.
Die Menschen erinnerten sich an die Dainas, ihre lettischen Volkslieder, die zu Sowjetzeiten streng verboten waren und mit Deportation bestraft wurden. Diese Lieder auf Lettisch erzählen von ihrer Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit. Wer in diesem Jahr Riga besucht, sollte deshalb ein Chorkonzert erleben. Nicht umsonst war Aiva Rozenberga, die Sprecherin des Organisationskomitees Kulturhauptstadt zuvor für ein Chorfestival tätig.
Liebe zum Lied
"Die Leute gehen zum Chor oder zur Tanzgruppe - drei Mal pro Woche. Sie nehmen das sehr ernst. Uns als Nation hilft das sehr. Ganz gleich, ob jemand in der Landwirtschaft oder in einer Bank arbeitet, ganz gleich, mit welchen Problemen er sich herumschlägt, wenn er abends zum Singen oder Tanzen geht, ist das wie eine Therapie. Es geht mir nicht um eine romantische Verklärung. Singen und Tanzen wirkt wie Medizin, es ist gut für die Gesundheit, gut für uns als Nation."
Aiva Rozenberga singt ebenfalls in einem Chor und hier als Kostprobe kurzerhand die inoffizielle Nationalhymne.
Ob jung oder alt, die Liebe zum Lied verbindet die Generationen. Die Letten stecken bereits mitten in den Vorbereitungen für einen der Höhepunkte des Jahres: das Welt-Chortreffen im Juli mit 20.000 Teilnehmern aus 80 Ländern.
Zu Beginn des Kulturjahres steht jedoch klassische Musik. "Rienzi. Aufstieg und Fall", eine Wagner-Oper, die zwar in Riga entstand, dort aber nie aufgeführt wurde. Somit erlebt die lettische Hauptstadt am Eröffnungswochenende gleich eine zweifache Premiere. Richard Wagner komponierte von 1837 bis 1839 in Riga, das damals wie heute eine multikulturelle Stadt war: geprägt von lettischer, deutscher, russischer und jüdischer Kultur.
Letzterer fühlte sich Wagner, wie man weiß, nicht eben verbunden. Weitgehend ausgelöscht wurde sie später von den Nazis - mit lettischer Hilfe. Die Legende vom jüdischen Bolschewismus war die Ideologie, die die Nazis und so manchen Letten verband. Wer das Ende der sowjetischen Okkupation von 1940 herbeisehnte, unterstützte nicht selten die deutschen Besatzer. Eine große Zahl antisemitisch eingestellter Letten machte sich zu Handlangern der deutschen Judenmörder. Auf dem Gelände des ehemaligen Rigaer Ghettos sind die Namen der 70.000 jüdischen Opfer verzeichnet.
Der Besucher wird durch eine Gasse unter freiem Himmel vorbeigeführt an Stellwänden, die daran erinnern, mit welcher antisemitischen Hetze die Bürger von den Medien systematisch desensibilisiert, an Verbrechen gegen Juden gewöhnt werden sollten. Rechtzeitig zum Kulturjahr ist die Ausstellung fertig geworden.
50 Jahre Fremdherrschaft
Die über 50-jährige Besatzungsgeschichte von 1940, 41 bis 1991 ist ein zentrales Thema der Kulturhauptstadt Riga. Gezeigt wird sie normalerweise im Okkupationsmuseum in der Altstadt. Ein mattschwarzer Würfel, klobig überdimensioniert, der so gar nicht zu den Bürgerhäusern aus roten Klinkern passen will.
"Das soll ein Stachel im Fleisch bleiben, um zu zeigen, wie die Geschichte im 20. Jahrhundert war."
Sagt Detlef Henning, Lettland-Experte vom Nordost-Institut der Universität Hamburg. Er hat noch zu Sowjetzeiten in Lettland studiert.
Das Okkupationsmuseum wird gegenwärtig renoviert und erweitert, die Ausstellung zog deshalb an einen Ort, an dem sich ein Teil der Schreckensgeschichte abspielte: in das ehemalige KGB-Gebäude. Auf den sieben Etagen werden gleich mehrere Expositionen dem Thema Repression gewidmet. Zudem können erstmals sämtliche Räume des Gebäudes, dem keiner freiwillig zu nahe kam, besichtigt werden.
"Es wird geführte Touren im Erdgeschoss und Keller geben, dort, wo die Zimmer liegen, in denen Menschen erschossen oder verhört wurden. Das wird ein wichtiger Bestandteil sein - die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu zeigen."
Aiva Rozenberga vom Organisationskomitee der Europäischen Kulturhauptstadt 2014 sagt, dass es außerdem eine Ausstellung von Naiver Kunst geben wird, für die man zu Sowjetzeiten nach Sibirien verbannt wurde, eine Fotoschau, die den Kalten Krieg dokumentiert und eine Sammlung der Exil-Letten, die ihre Koffer zur Verfügung stellen, in denen sie damals ihre Habseligkeiten auf der Flucht vor den Besatzern retteten.
"Wer sich damals an die erste Okkupation erinnerte, als Bauern oder auch Angehörige der Intelligenz samt ihren Familien nach Sibirien deportiert wurden, wollte das kein zweites Mal erleben. Vor allem diejenigen, die kleine Kinder hatten. Sie flohen. Meist nur mit einem Koffer pro Familie. Und diese Ausstellung soll zeigen, was die Menschen damals von ihrem Zuhause, ihrem Land mitgenommen haben."
Innerhalb von fünf Jahren besetzten die Sowjets, dann die Nazis und schließlich wieder die Sowjets Lettland. Auch Anna Mukhas Familie floh.
"Meine Eltern waren Flüchtlinge, ich bin in Schweden geboren und aufgewachsen, habe später in Deutschland gelebt. Es war bei uns zu Hause immer klar: Wenn Lettland mal frei wird, ziehen wir nach Hause. Aber dann kam es zu den praktischen Problemen, denn das haben ja viele gesagt. Aber dass wir nach Hause ziehen, das war klar."
Der Lettin, die die Kulturhauptstadt mitorganisiert, gefällt die Koffer-Ausstellung, weil sie ein Teil ihrer eigenen Geschichte ist. Alle Ausstellungen im Haus des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstes werden erst ab Mai zugänglich sein, denn der düstere Bau ist so groß, dass es zu teuer wird, ihn zu beheizen.
"Natürlich ist das ein grausamer Ort mit einer negativen Aura. Der Umgang mit diesem grausamen Ort ist schwierig. Aber ich habe Angst, dass wir einfach zu viel diese negativen Informationen, diesen schwarzen Teil in unserer Geschichte betonen und auf diese Art und Weise eine gewisse Opfer-Mentalität fördern. Es ist die Frage: Woran erinnern und wozu erinnern? Unsere Stärke besteht nicht nur darin, dass wir Opfer gewesen sind."
Unter den einstigen Sowjetrepubliken galten die drei baltischen als Vorkämpfer der Unabhängigkeitsbewegung. Im August 1989 demonstrierten sie ihren Wunsch nach Souveränität mit einer Aufsehen erregenden Aktion. Am 23. August, dem 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Paktes, der die Aufteilung Europas zwischen Hitler und Stalin festschrieb, bildeten sie eine Menschenkette von der estnischen Hauptstadt Tallin über Riga bis ins benachbarte litauische Vilnius.
Eine Menschenkette wird sich erneut am Eröffnungswochenende des Kulturjahres durch die Europäische Kulturhauptstadt ziehen. Keine 600 Kilometer lang wie damals, nur 2,5. Einwohner und Gäste reichen dann Bücher von Hand zu Hand - Werke aus der Alten Nationalbibliothek, die in die neue sollen. Außerdem kann jeder sein Lieblingsbuch mitbringen.
Das neue Domizil der Bibliothek ragt am Ufer des Daugava-Flusses empor. Es erinnert an eine Düne oder Welle und wird von den Erbauern pathetisch "Palast des Lichtes" genannt, auf den die Letten freilich 20 Jahre warten mussten. Im sogenannten "Regal des Volkes" bekommen die mitgebrachten Bücher einen Ehrenplatz.
Die Skepsis gegenüber Russland sitzt tief
Auch an der Zahl der Bände in Kyrillisch wird man ablesen können, ob sich die russischstämmige Minderheit vom Programm des Kulturmarathons angesprochen fühlt. Seit der Unabhängigkeit bilden Letten und Russen Parallelgesellschaften, glücklicherweise nur partiell, sagt Anna Mukha.
"Es sind verschiedene Feiertage, es sind verschiedene Traditionen, dann haben sie auch den russisch-orthodoxen Glauben. Letten sind katholisch oder evangelisch. Aber dann wiederum ist man an der Arbeitsstelle, da gibt es alles. Dann sitzt man in der Kneipe oder im Restaurant, da sitzen auch alle."
Jeder vierte Lette hat russische Wurzeln. Das Land soll zusammenwachsen, was mit der neuen Generation, die die Sowjetunion nicht mehr erlebt hat, vielleicht leichter gelingt. Das hofft jedenfalls Thomas Taterka, der derzeit für den Deutschen Akademischen Austauschdienst als Germanist an der Universität Riga lehrt. Er stellt immer wieder fest, dass die alte Abneigung gegenüber der Sowjetunion umzuschlagen droht in eine allgemein antirussische Stimmung.
"Das wird verwechselt, Sowjetunion, Russland ist dann immer irgendwie eins. Und die Russen, die hier herumlaufen, sind alles Okkupanten, obwohl die hier auch geboren worden sind. Man kann es sich da sehr leicht machen, sich da herauszuholen, aus unangenehmen Situationen."
Der Lettland-Spezialist Detlef Henning kennt die Empfindlichkeit der Letten. Die sowjetischen Besatzer haben mit harter Hand regiert und sich um die Gefühle der unterworfenen Menschen wenig geschert. In der Hauptstadt Riga zeigt Detlef Henning auf ein Denkmal, das heute Symbol ist für die andauernden Spannungen zu dem übermächtigen östlichen Nachbarn Russland.
"Da hinten neben der Nationalbibliothek sehen sie eine lange hohe Stele, drei Finger, die in den Himmel gucken. Das ist das sogenannte Siegesdenkmal der Sowjetarmee über den Hitlerfaschismus, und da feiern die Russen am 9. Mai ihr großes Volksfest, mit roten Fahnen und den alten Orden. Eine Zeitlang dachte man, diese Sowjet-Nostalgie stirbt aus, aber seit Putin nimmt das wieder zu und wird von russischer Seite bewusst gefördert."
Ab dem 1. Januar wird mit Euro bezahlt
In Riga, der Europäische Kulturhauptstadt 2014, hat - wie in ganz Lettland - mit Jahresbeginn der Euro Einzug gehalten. Was die Touristen freut, beäugen die Letten eher skeptisch, wissen sie doch, dass mit der Einführung der Einheitswährung häufig eine Teuerung einhergeht. Die Politiker wollten den Euro, auch als Zeichen der Zugehörigkeit zur europäischen Gemeinschaft, die noch immer zugleich auch als Abgrenzung von Russland begriffen wird. Ein Schwarz-Weiß-Denken, das Nils Saks unzeitgemäß findet. Der Spitzenbeamte, der im lettischen Finanzministerium für die Euro-Einführung verantwortlich war, erkennt vielmehr die Vorteile, die Lettland wie kein anderes EU-Land wegen seiner engen Verbindung zu Russland hat.
"Derzeit geht von Russland keine Bedrohung aus, so, wie wir sie in den Jahrzehnten zuvor erlebt haben. Aber Russland hat wirtschaftliche Interessen im Baltikum und wir können davon profitieren, quasi als Brücke von Russland in die EU. Denn bei uns hat jeder Dritte Russisch als Muttersprache. Ein Unternehmer sagte mir: Wenn man der Euro-Zone angehört, befindet man sich in einem zivilisierten Land und genießt mehr Vertrauen. Die Älteren erinnern sich an wirklich schwere Zeiten. Verglichen damit geschieht derzeit nichts furchtbar Schreckliches. Diese historischen Erfahrungen spielen natürlich eine Rolle."
Markas Palubenka wirbt schon jetzt akustisch für die Europäische Kulturhauptstadt Riga, die nah der Ostsee gelegen auch wegen des Bernsteins Berühmtheit erlangte. Er rückte das Baltikum als Kulturregion überhaupt erst ins europäische Bewusstsein. Deshalb werden gleich mehrere Museen und Galerien Bernstein-Artefakte und Kunstwerke präsentieren, die spektakulärsten sind vermutlich die Textilarbeiten lettischer Künstler aus Bernsteinfäden.
Ein echtes Juwel ist die Altstadt von Riga mit ihren 800 Jugendstilbauten, soviel wie in keiner anderen europäischen Stadt. Wohin man schaut, überladene Fassaden mit Ornamenten geschmückt, mit Fabelwesen und Frauenbüsten, die überdimensionierte Blumenkübel auf ihren Häuptern balancieren. Zeugnisse der wirtschaftlichen Blüte Ende des 19. Jahrhunderts. Viele, aber längst nicht alle, erstrahlen in neuem Glanz.
"Es ist heute wieder so, dass diese Häuser den Eigentümern eher Probleme bereiten, weil sie unter Denkmalschutz stehen und sehr hohe Auflagen haben. Das kostet zwei, drei, vier Millionen, sie fit zu machen. Die haben sie nicht. Deswegen - das haben sie gesehen - sind auch nur zwei, drei Fassaden restauriert. Und die anderen sind immer noch in einem schlechten Zustand."
Grund ist die Obergrenze für Mieten, die den Eigentümern Einnahmen verwehrt, die eine Restauration ermöglichen. In der Alberta- und Elisabethstraße finden sich dennoch Schmuckkästen, von Michael Eisenstein zum Beispiel, dem Architekten und Vater des berühmten sowjetischen Regisseurs Sergej Eisenstein. Manch Anwohner reagiert genervt auf die begeisterten Besucher, doch im Jugendstilmuseum sind sie willkommen.
"So, dann gehen wir mal in eines dieser Jugendstilhäuser hinein. Dieses Haus war das erste in Riga mit einer Zentralheizung, weil der Besitzer einer der führenden Bauingenieure damals war. Das war eine deutsche Familie. Die Enkelin hat dieses Haus vor einigen Jahren zurückbekommen und hat es dann der Stadt Riga geschenkt ..."
Weit improvisierter leben Künstler heute. Survival kits - Überlebenspakete - heißt nicht ohne Grund eine Initiative, zu der sich während der Wirtschaftskrise 2008 vor allem junge arbeitslose kreative Akademiker zusammenfanden. Ihre Galerien, Werkstätten oder Cafes in ehemaligen Fabrikgebäuden stehen Touristen offen, die sich für diese Seite von Riga interessieren, auch wenn die auf den ersten Blick nicht so attraktiv wirkt.
Glänzend schön wird aber die Stadt zum Ausklang des Kulturjahres werden, wenn beim Lichtfest im November tausende Scheinwerfer alles bunt anstrahlen.