Lettlands Antwort auf Jacques Brel

Von Agnes Bührig · 12.01.2006
Seit fast einem halben Jahrhundert komponiert der lettische Jazzpianist Raimonds Pauls äußerst erfolgreich Unterhaltungsmusik - manche seiner Stücke sind den Letten so ins Blut gegangen, dass sie sie für Volkslieder halten und auf Festen und bei Familienfeiern singen. Jetzt feiert Pauls selbst: am 12. Januar wird er 70. Agnes Bührig hat ihn in Riga getroffen und ein ausverkauftes Konzert besucht:
Auftritt im russischen Theater von Riga. Raimonds Pauls macht nicht viel Wesen um seine Person. Fast unbemerkt ist er an den schwarzen Flügel getreten, begrüßt mit ein paar Worten auf Lettisch charmant das Publikum, dann greift der Gentleman mit dem schütteren Haar und der Brille mit den dicken Gläsern in die Tasten.

Mehr als 300 Titel hat Raimonds Pauls seit den 50er Jahren geschrieben. In Lettland kennt sie jedes Kind. Doch das ist dem 70-jährigen nicht wichtig. Er sei kein Star, sagt er bescheiden. Wenn einige seiner Lieder wie Volkslieder gesungen werden, ist das für ihn ein Zeichen der Achtung und Ehre. Mehr nicht. Dass er einmal Musiker werden würde, war nicht selbstverständlich, erzählt der 70-Jährige nach der Vorstellung im Café:

"Eigentlich muss ich mich selber wundern, denn meine Eltern waren einfache Menschen, Arbeiter. Aber sie haben Musik gemocht und wollten, dass ich das mache. Jazz war in der Sowjetzeit ja überhaupt nicht erwünscht. Das lief im Verborgenen. Wir haben heimlich Radio gehört. Da gab es eine Sendung, die verbotene Musik aus den USA spielte. Da haben wir uns viel abgelauscht."

Es sind die 50er Jahre. Im Radio laufen Glenn Miller und Ella Fitzgerald, die Raimonds Pauls zu Vorbildern für seine eigene Musik werden. 1958 schließt er sein Klavierstudium am nationalen Musikkonservatorium ab. Lettland ist seit 1940 zum zweiten Mal von den Russen okkupiert. Wer etwas werden will, muss Russisch sprechen, sich dem sowjetischen System unterwerfen. Anfang der 60er Jahre setzt der junge lettische Pianist Raimonds Pauls noch ein Kompositionsstudium drauf. In seiner Musik fühlte er sich frei, die Zensur traf eher den Text, erinnert sich Pauls:

"Bei unseren besten Dichtern war die Freiheit immer ein Thema, wenn auch versteckt. Aber irgendwo zwischen den Zeilen kam es vor. Man musste aber sehr aufpassen wegen der Zensur. Da wurde alles Politische weg gestrichen. Im Rundfunk wurde jede Zeile geprüft, dafür gab es einen eigenen Ausschuss. Das kennen Sie sicher aus der DDR. Die Systeme waren ja ähnlich."

Während in Westdeutschland Studentenunruhen tobten, komponierte Pauls im fernen Lettland Liebeslieder. Zum Beispiel den Hit "Wildrose" - reine Lyrik, wie er heute über den Klassiker aus dem Jahre 1968 sagt.

1975 landet Raimonds Pauls seinen ersten Hit, der im gesamten Ostblock ankommt. Danach schreibt er die Musik zu einigen Filmen, Musicals und Theaterrevuen. Daran kann sich der Schauspieler Imants Skrastiņš noch gut erinnern, der Pauls in den 80ern auf eine Tournee begleitete. Die Zusammenarbeit mit ihm war immer sehr spontan, sagt Skrastiņš:

"Es war sehr, sehr angenehm, mit ihm zusammen zu arbeiten. Er war sehr, sehr kreativ. Und je mehr er improvisierte, desto mehr Spaß machte der Auftritt. Er ist sich da immer treu geblieben, nie aus dem Rahmen gefallen."

Das kann auch das Publikum im Russischen Theater in Riga beobachten, als Pauls einen russischen Klassiker anspielt. Die drei Backgroundsängerinnen sind in Petticoats aus den 50er Jahren geschlüpft. Ihre männlichen Kollegen haben eine große Balalaika auf die Bühne gezerrt. Als der Rhythmus dann immer schneller wird, zeigt Pauls jedoch auch noch eine andere Seite, improvisiert, geht musikalisch aus sich heraus: Der sonst so zurückhaltende ältere Herr am Flügel wird munter:

Das Publikum klatscht begeistert mit. Pauls ist bei den russischen und lettischen Einwohnern gleichermaßen beliebt. Eine Mittfünfzigerin aus der dritten Reihe muss nicht lange überlegen, warum sie seine Musik mag:

"Das ist die Musik meiner Jugendzeit. Seine Lieder haben wir früher auf Familienfesten gesungen. Das ist Nostalgie, Herzenswärme, etwas, womit wir unsere Jugend verbinden. Dem Text schenke ich heute nicht mehr so viel Bedeutung. Das haben wir am Anfang der Unabhängigkeitszeiten gemacht, heute nicht mehr."

Heute ist auch für Raimonds Pauls vieles anders geworden. Die staatliche Künstlerförderung, die in der Sowjetzeit Sicherheit vermittelte, ist weggebrochen. Dafür können die Letten reisen und international tätig werden. Das beobachtet er bei seinen zwei Enkelinnen, die in Moskau aufgewachsen sind. Er selbst reist nicht mehr so gerne. Er ist lieber in Riga und setzt sich hier für die Kultur ein. Anfang der 90er Jahre als Kultusminister, heute als Abgeordneter des lettischen Parlaments - keine ganz leichte Aufgabe.
"Meine Ziele sind ganz einfach: Die Kultur braucht mehr finanzielle Unterstützung. Die Parteistreitigkeiten über diese Frage gehen mir richtig auf die Nerven. Da kann ein guter Sänger mehr bewirken als fünf Parteien."

Service:
Raimonds Pauls denkt noch keinesfalls ans Aufhören. Sein Plattenverlag bereitet derzeit eine CD für den internationalen Markt vor: Raimonds Pauls goes English - so der einfach Titel. Anfang Februar erscheint sie in Lettland, im Herbst soll sie in Europa auf den Markt kommen.