Reif für die Insel
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Jedes Jahr werden 350 Jugendliche ins Ausland geschickt, um sich in Einzelbetreuung auf ihren Schulabschluss vorzubereiten. Diese Maßnahme des Jugendamtes wird oft als Urlaub unter Palmen geschmäht. Aber ist es das wirklich?
Das Küstendorf Porto Colom liegt im Südosten von Mallorca. Statt großer Jachten schaukeln im Hafen kleine Sportboote, vor allem aber Fischkutter. Die Restaurants am Wasser sind kaum besucht oder wegen Corona ganz geschlossen, teure Geschäfte sowie Hotels sucht man vergeblich. Keine 5000 Einwohner leben in dem Örtchen und auf den Fincas in den Hügeln rings um Porto Colom.
Zur Finca Sa Clova führt ein kilometerlanger Schotterweg. Sa Clova ist mallorquinisch und bedeutet paradiesischer Fleck. Durch den Bastzaun schimmern die Konturen riesiger Kakteen und Agaven. Der Bauernhof liegt auf einer Anhöhe, in der Ferne rauscht das Meer, das man hört, wenn der Wind günstig steht und mal keiner der fünf Hunde bellt.
Sa Clova war zwei zweieinhalb Jahre das Zuhause von Natascha, einer blonden Teenagerin mit kräftiger Statur. Zum ersten Mal haben wir uns getroffen, als die damals 17-jährige Berlinerin gerade ein Vierteljahr in dieser Auslandsmaßnahme des Jugendamtes verbracht hatte.
Dass Nataschas Mallorca-Aufenthalt kein Spaziergang werden würde, war vorher klar. Die Schulabbrecherin, die noch nicht einmal einen Hauptschulabschluss hatte, sollte eine allerletzte Chance bekommen. In ihrer Wohngruppe in einem Heim bei Berlin fühlte sie sich nicht wohl, obwohl der Verein, der das Heim betreibt, auf tierpädagogische Methoden setzte und auf einen Bauernhof lag.
Menschen und Tiere bilden ein Team
Die Eltern baten das Jugendamt Berlin erneut um Hilfe, gemeinsam entschied man sich für das letzte Mittel: die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung im Ausland. Wie schon der deutsche Hilfsverein setzt auch die Betreuerin auf Mallorca auf Tierpädagogik. Nataschas Mallorca-Alltag findet fernab von Ballermann und Touristen-Rummel statt.
Trubel hatte sie, die in Berlin aufgewachsen ist, bisher mehr als genug. An die Ruhe auf der abgelegenen Finca musste sie sich erst einmal gewöhnen, auch, dass ihre Gesellschaft hauptsächlich aus neun Pferden und den fünf Hunden besteht sowie einer Mitbewohnerin und Astrid Uster, ihrer Betreuerin.
Die 47-Jährige hatte in ihrem Leben deutlich mehr mit Pferden als mit Kindern und Jugendlichen zu tun, aber sie hält die Vierbeiner für ideale Partner bei der Erziehung. Auf ihrer Finca seien die Menschen und die Tiere ein Team.
"Die Pferde leben im Hier und Jetzt. Sie reagieren auf den Moment. Die sind so, wie sie sind. Und wenn sie es richtig macht, dann schließen sie sich ihr an. Und wenn sie es halt eben falsch macht, dann gehen sie von ihr weg, und das hat sie relativ schnell gemerkt. Und wenn sie auf einem Pferd sitzt, kriegt sie Körpergefühl. Sie muss eine gewisse Grundspannung, Körperspannung aufbauen. Das wertet wieder ihr Selbstwertgefühl auf. Und sie merkt auch, dass die weiterkommt."
Mit 17 in Deutschland die Schule geschmissen
Natascha, die ihren Nachnamen nicht öffentlich nennen will, hat mehrere Schulwechsel hinter sich, kam nicht mehr regelmäßig nach Hause, nahm Drogen, trank Alkohol. Die Eltern, beide mit Hochschulabschluss und leistungsorientiert, verzweifelten. Ihre Tochter, die sie als Baby in der Ukraine adoptiert hatten, entglitt ihnen immer mehr. Schmiss mit 17 die Schule. Pferde waren zuletzt in Deutschland das einzige, wofür sie sich überhaupt noch interessierte. Immerhin ein Ansatzpunkt für die Sozialpädagogen und für Astrid Uster, mit der ich mich in einem Café in Porto Colom treffe.
"Sie hat mir gesagt, dass es eben die Urangst ist, dass sie einfach nicht gut genug ist, weil man ihr immer gesagt hat: Du bist zu blöd, du wirst es nicht mal einen Förderschulabschluss schaffen. Und dann ist sie natürlich auch in der Schule oft gemobbt worden. Sie hat natürlich Defizite, eben wie die Diskalkulie und eine Lese- und Rechtschreibschwäche et cetera. Wenn man etwas nicht kann, dann kann man aber versuchen, daran zu arbeiten und vielleicht noch versuchen, das Maximum rauszuholen."
"Pferde sind nicht nachtragend"
Das Haus auf der mallorquinischen Finca ist gerade groß genug für Natascha, ihre Mitbewohnerin und die Betreuerin. Eine Garage auf der Rückseite dient als Sattel- und Futterkammer. Bei den Pferden handelt es sich meist um ältere ausgemusterte Tiere, die bereits viele Jahre im Polosport hinter sich haben. Einige bekommen bei Astrid Uster ihr Gnadenbrot.
Havanna, eine dunkle kräftige Stute, wurde erst vor zwei Tagen gebracht. Sie ist jünger und wird im Reitunterricht gebraucht. Um sie kennenzulernen, soll Natascha sie an der Longe, einem sehr langen Zügel, im Kreis bewegen. Astrid Uster ist von Haus aus Pferdewirtin und Trainerin. Sie ist überzeugt davon, dass sogenannte verhaltensauffällige Mädchen und Jungen vom Zusammenleben mit den Tieren enorm profitieren können.
"Pferde reagieren immer im Moment. Die denken nicht darüber nach, was gestern war und was morgen kommt. Und auch wenn man mal einen Fehler gemacht hat oder einen schlechten Tag gehabt hat, sie sind nicht nachtragend. Das ist einer der Hauptgründe, warum Pferde so wichtig sind. Und sie sind eben auch sehr schmusig und anhänglich. Und ich glaube, das brauchen Jugendliche ganz besonders. Wenn man merkt, dass so ein großes Lebewesen die Zuneigung sucht und man sie auch erwidern kann, das füllt eine Lücke, die mancher Mensch nicht hinkriegt."
Mehrere Schulwechsel führten nicht zum Erfolg
Natascha auf dem Reitplatz gibt sich Mühe, doch die Hand mit der langen Longier-Gerte wandert immer noch zu weit nach oben. Sie ist keine, die schnell lernt. Was auch ihr Vater und ihre Mutter erst einmal akzeptieren mussten. Zuhause wurden zwei Sprachen gesprochen. Deutsch und Englisch. Hinzu kam das Russisch der verschiedenen Au-pair-Mädchen. Denn Natascha wurde auf der Krim geboren, sollte trotz der Adoption ihre Wurzeln kennen.
Bevor sie reiten lernte, trainierte sie Ballett und Eiskunstlaufen. Später in der Schule zeigten sich erste Schwierigkeiten. Sie kam nicht mit in der internationalen Nelson-Mandela-School, wo alle Fächer von Anfang an auf Englisch gelehrt wurden. Sie wechselte das erste Mal die Einrichtung, dann noch ein paar Mal. Schließlich ging sie überhaupt nicht mehr hin.
"Was sie definitiv lernen muss, ist, zuerst einmal sich mit sich selber auseinandersetzen. Also sich selber auch gernhaben, sich selber auch liebhaben, seinen Körper akzeptieren und merken, wie es ihr besser gehen kann. Weil man kann nicht immer sagen: Schule klappt nicht, weil ich mich nicht konzentrieren kann. Das hat einen Grund, warum sie sich nicht konzentrieren kann."
Auf der Finca herrschen strenge Regeln
Natascha wurde im Alter von einem Jahr adoptiert. Ihre leibliche Mutter hatte sie direkt nach der Geburt in einem Waisenheim abgegeben. Was Frauen mit Alkohol- und Drogenproblemen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion häufig taten. Möglicherweise hat das Verhalten ihrer leiblichen Mutter während der Schwangerschaft Natascha Schaden zugefügt.
Dass sie es in der Schule schwerer hat als andere, steht fest. Eltern, Jugendamt und verschiedene Jugendhilfeeinrichtungen ringen seit Jahren darum, ihre Potenzial so gut wie möglich zu fördern, vor allem, sie von der schiefen Bahn fernzuhalten. Auf der Finca Sa Clova herrschen feste Regeln und Grundsätze, die die Betreuerin, aber auch die Pferde selbst vermitteln.
"Ein absolutes No-Go ist Gewalt gegen Tiere. Was mein größtes Ziel ist, ist den Motor so anzuschmeißen, dass sie Eigenverantwortung übernehmen können und irgendwann mal auch leistungsfähig sind. Und ich spreche es ganz öffentlich aus: Ich mag keine Sozialschmarotzer, die mag ich nicht", sagt Astrid Uster bestimmt.
"Es kann immer ein Mensch geben, der Unterstützung braucht oder ein Handicap hat. Oder einen Unfall oder Ausfall wegen einer Krankheit hat. Da habe ich überhaupt kein Problem mit. Aber einfach aus Bequemlichkeit nicht eine Lösung finden wollen, nur vom System profitieren – das lehne ich ab. Und da sag ich denen auch ganz klar ins Gesicht."
Drei Monate Probezeit für Natascha
Ein Vierteljahr dauerte Nataschas Probezeit auf Mallorca, in der beide Seiten prüften, ob die Chemie zwischen ihnen stimmte. Auf die Entscheidung, ob es für Natascha auf Mallorca weitergehen kann, wartet sie in Berlin, wo wir uns im August 2018 wieder treffen. Dass sie schon ein paar Wochen nicht mehr körperliche Arbeit auf der Finca verrichtet und nicht mehr reitet, ist ihr anzusehen. Sie hat etwas zugenommen. Sie wirkt nervös, hängt in der Luft, weiß nicht, wie es weitergehen soll, was sie selbst will. Nur eines steht fest: keine Schule.
"Ich möchte im Moment keine Schule machen. Wenn ich nicht bereit bin, bin ich nicht bereit! Ich weiß nicht, ich habe irgendwas in meinem Kopf, das blockiert. Da ist so eine Angst, die sagt, ich könnte etwas falsch machen. Ich weiß gar nicht, wie alt ich war, 14 oder 15, da war ich auf einer Schule im Norden. Da habe ich meine Hausaufgaben nicht gemacht. Und da hat Lehrerin wirklich alle Kinder rausgeschickt und hat auf den Tisch gehauen und mich angeschrien, was sie eigentlich gar nicht darf. Ein Lehrer darf keine Schüler anschreien. Die hat mich die ganze Zeit runtergemacht. Sie hat gesagt: 'Du hast ja nichts gemacht und bla, bla, bla'", erzählt Natascha.
Und ich habe gesagt: 'Ich konnte die Aufgabe nicht. Ich kann ja nichts dafür, dass ich die Aufgabe nicht kann. Vielleicht können Sie mir helfen, anstatt mich anzuschreien.' Dann bin ich zum Direktor und habe ihm das erzählt. Und er hat dann gesagt: 'Aber du hast ja deine Hausaufgaben nicht gemacht.' Also er hat die Lehrerin voll in Schutz genommen. Und das ist halt immer noch so in meinem Kopf drin."
Zu dem Zeitpunkt hatte Natascha schon eine ganze Odyssee hinter sich. Neuanfänge gab es mehrere. Das Mädchen mit den pinkfarbenen Haaren fand Freunde auf der Straße, die wie sie von Schule nichts mehr wissen wollten. Mit Zustimmung ihrer Eltern zog Natascha aus, in eine Wohngemeinschaft, die von mehreren Sozialpädagogen betreut wurde. Aber weder dort und noch in der zweiten WG fühlte sich das sensible Mädchen wohl. Trösten konnten sie nur Speedy, ihre Ratte.
Steter Druck durch hohe Erwartungen
Nataschas Eltern wussten nicht immer, wo ihre Tochter steckte, wenn sie abends nicht heimkam. Sie sorgten sich um sie und gaben ihr zu verstehen, dass sie immer für sie da sind. Doch Natascha steckt bis heute in einem Dilemma. Auf der einen Seite die Adoptiv-Eltern mit ihren Bildungskarrieren, auf der anderen Seite sie, die Tochter, die die beiden nicht enttäuschen möchte, aber immer von der Angst beherrscht ist, Erwartungen nicht zu erfüllen, nicht zu genügen. Selbst wenn die Eltern keinerlei Druck ausüben, sind deren Hoffnungen für Natascha doch stets spürbar.
"Meine Eltern sind nicht so, dass sie sagen, du musst das jetzt sofort machen und wir erwarten das. Die sagen, okay, du kannst es probieren. Womit ich auch einverstanden bin, solange man mit jemandem arbeitet wie Astrid, die wirklich Geduld hat und auf einen wartet und so. Weil im Schulsystem – da sehe ich mich nicht."
Die Probezeit hat ihren Zweck erfüllt, denn Natascha hat erkannt, dass sie mit Astrid Uster, ihrer Betreuerin in Spanien, die Schule schaffen kann. Nur unter der Bedingung, dass sie wieder lernt – das hatte das Jugendamt unmissverständlich klargemacht – darf sie zurück nach Mallorca. Die Eltern werden für diesen letzten Versuch, ihrer Tochter einen Schulabschluss zu ermöglichen, kräftig zur Kasse gebeten. Auf Grund ihrer Einkommen müssen sie einen großen Teil der Kosten tragen. Natascha kann wieder in den Flieger steigen.
Kein Schulweg, keine Mitschüler, kein Klassenraum
Im November 2018 kehrt Natascha nach Mallorca zurück. Ihr Ziel: den Hauptschulabschluss zu schaffen. Dass sie diese Verpflichtung ruhigen Gewissens eingehen konnte, lag einzig an ihrer Betreuerin Astrid Uster.
"Ich habe ja Astrid eigentlich schon gekannt, so wie sie drauf ist, aber halt nicht in der Schule. Und davor hatte ich halt auch irgendwie ein bisschen Angst. Obwohl sie mir gesagt hat, dass sie immer neben mir sitzt, und das in den ersten Monaten auch mit mir macht", sagt Natascha.
"Aber, weil so viele Erzieher mir immer gesagt haben: 'Wir machen das, wir machen das', musste ich diesen Mut haben, ihr zu glauben. Obwohl eigentlich war mir schon logisch, dass ich ihr vertrauen kann. Es gibt vielleicht mal Tage, wo sie keine Lust hat oder ich. Es gibt auch Tage, wo wir sagen, wir machen heute gar keine Schule, wir machen heute etwas Anderes. Aber dafür machen wir dann am Wochenende Schule."
Schule auf Mallorca heißt für Natascha: kein Schulweg, keine Mitschüler, kein Klassenraum. Gelernt wird zu Hause auf der Finca bei Porto Colom. Sie ist jetzt Fernschülerin. Bei der deutschen Flexfern-Schule. Davor musste sie allerdings erst einen Einstufungstest absolvieren. Eine Horrorvorstellung für die Berlinerin mit den ukrainischen Wurzeln, denn sie befürchtete, mit Pauken und Trompeten durchzufallen. Bei einem Kaffee Cortado am Hafen in Porto Colom erinnert sich Astrid Uster.
Schlüsselerlebnis beim Einstufungstest
"Wir haben diesen Umschlag gekriegt. Ich habe ihn hier auf den Tisch gelegt und sie hat den wirklich zitternd und weinend – ich glaube, fünf oder zehn Minuten – in der Hand gehabt und wollte ihn nicht aufmachen. Sie hat gesagt: 'Das schaffe ich nicht.' Da habe ich gesagt: 'Jetzt machst du das Ding auf, gehst nochmal raus, trinkst nochmal was und guckst mal rein. Und dann machst einfach mal das, was du kannst.' Und dann saß sie, glaube ich, dreieinhalb Stunden und hat gesagt: 'Du, da hab` ich ja doch mehr geschafft als ich mir eigentlich selber zugetraut hätte.' Und das war ein Schlüsselerlebnis."
Nataschas Testergebnisse zeigten, dass sie einen Hauptschulabschluss an der Flexfern-Schule erreichen kann, vermutlich innerhalb von zwei Jahren. Ein erster Erfolg. Doch noch immer traute sie ihren Lehrern in der neuen Schule in der Ferne nicht so ganz.
"Ich weiß halt nicht genau, wie die drauf sind, ob sie jetzt wirklich so cool sind, also so ehrlich sind, wie sie schreiben. Weil Hammer viele Leute auch früher in den Schulen halt etwas geschrieben haben und das nicht eingehalten haben. Aber jetzt habe ich auch das Gefühl, dass die das halt wirklich ernst meinen."
Nach drei Stunden Lernen ist Natascha platt
Für die Schule mussten sie auf der Finca den Tag neu strukturieren. Natascha kommt zugute, dass ihre Betreuerin nicht nur Pferdewirtin und Reittrainerin ist, sondern außerdem eine Ausbildung als Betriebswirtin hat, also vor allem im Problemfach Mathematik helfen kann.
Von 10 bis 13 Uhr sitzt Astrid Uster neben ihrem Schützling und erklärt den Unterrichtsstoff. Wieder und wieder. So oft, wie nötig. Und wenn es fünf oder sechs Anläufe braucht. Natascha soll sich ganz auf die Schule konzentrieren, wird von der Versorgung der Pferde entbunden. Selbst das Reiten am Nachmittag ist Natascha im Moment zu viel.
"Sie ist einfach erschöpft. Wenn sie drei Stunden Schule gemacht, ist sie erschöpft und dann wieder Leistung zu verlangen und wieder den Kopf anzuschmeißen – sie ist an der Grenze. Wir machen ja am Nachmittag häufig auch noch andere Sachen, aber eben nicht mehr leistungsorientiert. Es ist einfach so, dass sie platt ist. Das habe ich am Anfang nicht verstanden, aber das hat sie ganz klar formuliert und das ist auch in Ordnung."
Die Terrasse unter dem Vordach ist jetzt ihr Arbeitsplatz. Die beiden kleinen Hunde weichen ihr fast nicht mehr von der Seite. Inzwischen kann sie ihre wöchentlichen Hausaufgaben, die sie mit den Lernbriefen von der Flexfern-Schule bekommt, immer selbstständiger abarbeiten.
"Also eigentlich bin ich der Meinung, ich fang lieber mit den Hassfächern an. Aber was ich jetzt persönlich nicht so cool finde, ist, dass die Lernbriefe hammerdick sind. Wenn die Lernbriefe so dick sind, kriege ich schon wieder diesen Gedanken: Schaffe ich das eigentlich? Oder schaffe ich das nicht? Und stell dir vor, ich schaffe es nicht. Ich hasse es, wenn ich im Rückstau bin. Dann werde ich richtig nervös."
Dass sich die Hauptschülerin, über 1300 Kilometern von ihren Lehrern entfernt, jetzt selbst Druck macht, ihr Pensum im Auge behält und sich sputet, es pünktlich abzuarbeiten, ist wohl die größte Veränderung. "Früher hätte ich es in die Ecke geschmissen. Ich versuche halt mein Bestes. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber das ist meine letzte Chance halt und da mache ich es so gut, wie ich es halt kann."
Erfolgsstories in Namibia, Kanada und Lateinamerika
Oberrimsingen bei Freiburg ist der Hauptsitz der vor über 20 Jahren gegründeten Flexfern-Schule. Viele Jugendlichen machen ihre persönliche Bekanntschaft mit der Flexfern-Schule erst zu den Prüfungen, aber Natascha war schon zur Vorbereitungswoche hier. Sie ist eine von 120 Schülern in einer Auslandsbetreuung. Die am weitesten entfernten Plätze sind Namibia, Kanada oder Lateinamerika. Für die 44-jährige Sozialpädagogin und Schulleiterin Diana Bäuerle sind das in der Regel Erfolgsstories, das Image vom "Urlaub unter Palmen" sei völlig falsch.
"Das sind Hilfen, die in Deutschland nicht wirklich beliebt sind, aber die sehr erfolgreich sind. Die werden nur dann angewandt, wenn es kein gutes System mehr in Deutschland gibt, das diese Menschen stützen und auffangen kann. Die Jugendämter tun sich sehr schwer damit. Aber es gibt auch eine europäische Verordnung Brüssel 2A, die diesen Aufenthalt im Ausland schwerer machen. Das heißt, wenn jemand nach Spanien geht, muss Spanien, das Land, dieser Maßnahme zustimmen", sagt Diana Bäuerle.
"Und auch die Ämter tun sich schwer, weil natürlich eine Aufsichtspflicht im Ausland vonseiten der Ämter schwer durchzuführen ist. Wie ist das Mädchen untergebracht? Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen professionellem Helfenden und Jugendlichen? Dennoch sind diese Hilfen wissenschaftlich untersucht und nachgewiesen auch sehr, sehr erfolgreich. Und wie gesagt: Ungefähr 20 Prozent unserer Schüler sind in solchen Maßnahmen und die Flex geht mit."
Der Erfolg der Flexfern-Schule wird objektiv gemessen. Die 28 Lehrerinnen und Lehrer nehmen selbst keine Prüfungen ab, sondern die Hugo-Höfler-Realschule in Breisach bzw. wechselnde Hauptschulen der Region, die das Schulamt Freiburg jedes Jahr neu benennt. Bewilligt ein Jugendamt diese Form des Unterrichts, übernimmt es auch die rund 900 Euro Schulkosten im Monat.
Lernen auf Distanz rettet viele Jugendliche
Neben den Auslandsschülern versuchen auch körperlich oder seelisch kranke Jugendliche, mit Hilfe der Flexfern-Schule einen Bildungsabschluss zu schaffen. 1500 Jungen und Mädchen ist das seit dem Bestehen der Schule gelungen. Die Handicaps der Schülerinnen und Schüler sind äußerst vielgestaltig. Depressionen, Autismus oder ausgeprägte Überempfindlichkeiten, zum Beispiel gegen Lärm, machen es manch jungem Menschen unmöglich, in eine Schule zu gehen. Für die allermeisten Jugendlichen ist das Lernen auf Distanz die Rettung. Ansonsten würden sie ohne Ausbildung in das Erwachsenenleben starten, was meist eine Existenz am Rande der Gesellschaft bedeutet.
Vor Weihnachten stand es Spitz auf Knopf, erzählt Astrid Uster in ihrem Lieblingscafé in Porto Colom. Als sie nicht mehr durchdrang zu Natascha. Wie zuvor schon öfter, suchte sie einmal mehr Rat bei ihren Kolleginnen in Deutschland, schaltete die Familie mit ein.
"Der schlimmste Moment war, wo ich das Gefühl hatte, dass sie mir abrutscht in die Drogen. Ich merkte, dass sie regelmäßig morgens schon verspiegelte Augen hatte, also die Pupillen. Dass sie flapsig geworden ist, halt die typischen Anzeichen. Als sie häufig unterwegs war und total zugedröhnt nach Hause gekommen ist. Wo wohl auch regelmäßig Alkohol geflossen ist und das dann noch öffentlich gemacht wurde auf sozialen Netzwerken. Mit einigen unschönen Konflikten", erzählt Astrid Uster.
"Bis zu dem Moment, wo ich dann ihren Vater mit ins Boot geholt habe und ihm ganz klar und deutlich gesagt habe, wenn jetzt da nichts passiert, muss ich die Hilfe abbrechen. Und er dann hergekommen ist und mit Natascha gearbeitet hat und dann die ganze Sache wieder geradegerückt hat. Das war das Schlimmste. Da hatte ich das Gefühl, sie entgleitet mir. Ich glaube einfach, dass das noch mal so ein richtiger Ausrutscher war, zog zurück in die Vergangenheit."
Zur Prüfung zurück nach Deutschland
Astrid Uster stellte Natascha vor die Wahl, sich nach dem Heimaturlaub entweder an die Regeln auf der Finca zu halten, oder aber nicht wiederzukommen und sich in Berlin ohne sie auf die Prüfungen vorzubereiten. "Da hat sie aber schon vorher, bevor sie geflogen ist, ganz klar gesagt: Nein, sie bleibt. Und dann haben wir die Rahmenbedingungen noch mal besprochen. Und daran hat sie sich dann eigentlich auch bis zum Ende gehalten", sagt Astrid Uster.
"Und was ich sehr schön fand, um das abzuschließen, sie hat, kurz bevor sie geflogen ist, auch darüber geredet, dass sie verstanden hat, dass ihr Verhalten damals nicht richtig war. Und das hat alle schlechten Gefühle wieder komplett eliminiert."
Ende Mai kehrt Natascha ganz nach Deutschland zurück. Von 2018 bis 2020 war sie auf Mallorca. Mit Unterbrechungen. Hinter ihr liegt kein Urlaub, sondern vor allem in den letzten Monaten ernsthaftes Pauken. Die Prüfungen nahen. Wegen der Covid-19-Pandemie und möglicher Quarantäne-Vorschriften ist sie lieber etwas früher gekommen. Sie hat mir ihre Ankunftszeit gemailt. Ihr Gepäck: zwei Koffer und ihr kleiner neuer Hund Peanuts.
"Jetzt mache ich noch Schule, drei oder vier Wochen. Dann gehe ich nach Oberrimsingen und mache dort die schriftlichen Prüfungen. Und dann kommen die mündlichen. Aber eigentlich sagt mein Bauchgefühl, dass ich das sehr gut schaffe. Ich gehe eigentlich ganz cool ran. Vor ein paar Monaten hätte ich noch ausrasten können und wäre sehr nervös gewesen. Das einzige Fach, wo ich wirklich Schwierigkeiten habe, ist Mathe."
WhatsApp von Natascha: "Yes I can!"
Wie zuvor Astrid Uster helfen jetzt die Eltern beim Endspurt vor den Prüfungen. Dann kommt die Stunde der Wahrheit. WhatsApp von Natascha: "Guten Morgen, ich hatte gerade Geschichte und habe eine Zwei als Note bekommen, yes I can." Und einen Tag später: "Hab ´ne Zwei in Englisch."
Zusammen waren Natascha, Astrid Uster und die Eltern erfolgreich. Ihre gemeinsamen Anstrengungen und ihr Durchhaltevermögen haben sich ausgezahlt. Mit einer Durchschnittsnote von 2,6 übertrifft Natascha alle Erwartungen. In einer letzten WhatsApp schickt Natascha ein Foto. Sie hält ihr Zeugnis in die Kamera, strahlt.
Für die heute 19-Jährige ist der Hauptschulabschluss der entscheidende Meilenstein gewesen. Bei Astrid Uster hat sie gelernt zu lernen und kann so die nächste Herausforderung, eine Berufsausbildung, mit mehr Selbstvertrauen angehen.
"Das ist der Motor, der mich antreibt. Die Erfolgserlebnisse, dass es jemand mit wirklich erheblichen Schwierigkeiten geschafft hat, was andere, die es nicht so schwer haben, auch ganz schwer nur schaffen können. Wenn sie es dann schafft, Hut ab! Dann bedeutet das wahrscheinlich mehr wie ein Olympiasieg."