Im Stehen sterben
Menschen sollen im Stehen sterben - also möglichst lange gut und selbstbestimmt leben können. Diese Philosophie vermittelt das evangelische St.-Vinzenz-Hospiz in Mannheim in ihren Seminaren zur Sterbebegleitung: den "Letzte-Hilfe-Kursen".
Es ist Freitagabend. In einem Seminarraum der Mannheimer Abendakademie – so heißt hier die Volkshochschule – versammeln sich etwa 20 Personen. Besser gesagt Frauen, denn nur ein einziger Mann hat sich hierhergewagt. Die Atmosphäre im Raum ist nüchtern: helles Licht, Vortragbestuhlung und die Power-Point-Präsentation startbereit. Nichts deutet darauf hin, dass es hier um ein Thema gehen wird, bei dem emotionale Distanz den meisten eher schwer fällt: Wie helfe ich Menschen, die sterben? Brigitte Salm ist eine von denen, die sich eine Antwort auf diese Frage erhoffen.
"Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, da war ich noch sehr überrascht von dem Thema und wusste auch gar nicht, wie ich mich so verhalten soll. Und ich hab meine Mutter aber begleitet bis in den Tod und auch festgestellt, dass die Ärzte im Krankenhaus mir überhaupt keinen Rat geben konnten. Ja, weil mein Vater jetzt - seit Anfang des Jahres geht es ihm schlechter und schlechter und da möchte ich einfach dabei sein, ihm helfen - soweit es möglich ist – und einfach unterstützen – und auch wissen, was ich tu."
Wissen, was sie tun sollen, das möchten auch die anderen Seminarteilnehmer. Viele von ihnen betreuen momentan sterbende Eltern, Verwandte oder Freunde, andere arbeiten mit alten Menschen, wie etwa die Fußpflegerin Helga Rupp.
"Da ist man nicht nur Fußpflegerin, da kennt man die ganze Bandbreite. Ich hab ein Erlebnis, da hab ich die Fußpflege auch abgelehnt, weil ich es einfach furchtbar fand, wie diese Frau in dem Bett lag. Wenn jemand da liegt, der apathisch ist, ist es sehr schwer."
Wie also verhält man sich in solchen Situationen? Wie geht man mit Menschen um, deren Rolle in der Welt sich auflöst und deren Seelen mitunter sehr aufgewühlt sind.
Lied Reinhard Mey: "Wenn‘s wirklich gar nicht anders geht / Wenn mein Schrein schon beim Schreiner steht..."
Im Grunde genommen ist die Antwort, die der Letzte-Hilfe-Kurs darauf geben möchte, einfach: Man sollte mit Sterbenden so umgehen, dass sie möglichst lange gut und möglichst lange selbstbestimmt leben können. Man sollte ihnen also – bildlich ausgedrückt – helfen, im Stehen zu sterben.
Reinhard Mey: "Wie ein Baum, den man fällt / Eine Ähre im Feld / Möcht’ ich im Stehen sterben."
Sterbebegleitung als Extra-Qualifikation
Auf diese sogenannte "hospizliche Grundhaltung" legen die beiden Referentinnen am Anfang ihres Seminars großen Wert. Beide sind erfahrene Palliativfachkräfte, die für diesen Letzte-Hilfe-Kurs eine Extra-Qualifikation besitzen. Das Konzept dazu stammt von den Palliativwissenschaftlern Georg Bollig und Andreas Heller und hat sich mit Hilfe von Kooperationspartnern aus kirchlichen und anderen Bereichen mehr und mehr etabliert. Wer einen Letzte-Hilfe-Kurs gibt, muss sich grundsätzlich an das von den Wissenschaftlern entwickelte Schema halten. Referentin Monika Schindler:
"Man möchte ja auch, dass eine gewisse Qualität erhalten bleibt und deshalb ist dieses Korsett ganz gut. Und dann ist es natürlich jedem persönlich freigestellt, wie er das mit Leben füllt, mit seiner Lebenserfahrung und mit seiner Berufserfahrung. Und das lebt auch immer jedes Mal von den Kursteilnehmern, die da sind. Und dann kann man da gut drauf aufbauen und trotzdem in diesem Kurskonzept bleiben."
Und so steigen die beiden Seminarleiterinnen in Mannheim zunächst sehr allgemein in die Thematik ein. Sie reden über Dinge wie das Recht auf eine ambulante Palliativversorgung, über Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten etc.. Sie gehen ganz konkret auf Medikamente ein, die ein Arzt bei Schmerzen, Atemnot oder Angstzuständen verschreiben kann. Und nach und nach kommen sie auf das zu sprechen, was man im unmittelbaren persönlichen Kontakt mit Sterbenden tun kann.
Monika Schindler: "Also mit den Wahrnehmungen der Menschen kann man ganz viel machen. Und das ist im Pflegekonzept der basalen Stimulation - da hat man sich damit auseinandergesetzt, welche Wahrnehmungen hat ein Mensch im unterschiedlichen Lebensalter und da kann man wunderbar anknüpfen. Weil jeder Mensch hat seine Biografie, seine Wahrnehmungen und da kann man den Menschen abholen, wo er sein Leben lang gewesen ist."
Welche Düfte hat ein Mensch sein Leben lang gemocht? Welche Musik gerne gehört? Was hat er gerne gegessen und getrunken? Die basale Stimulation möchte versuchen, Sterbenden bis zum Ende ganz individuelle sinnliche Erlebnisse zu ermöglichen. Selbst dann, wenn ihre Wahrnehmung schon sehr stark eingeschränkt ist und sie kaum noch essen und trinken wollen. Man müsse dann keine Angst haben, meint Monika Schindler, der Körper komme in diesem Stadium mit sehr wenig aus. Wichtig sei allerdings die sogenannte Mundpflege, die in diesem Kontext nichts mit Zähneputzen und Ähnlichem zu tun hat, sondern mit dem Befeuchten des Mundes.
Individuell auf den Menschen eingehen
Monika Schindler: "Und dann kann man einfach ganz individuell auf den Menschen eingehen und kann auch mal den Mund mit etwas Bier befeuchten oder mit Wein und muss nicht auf die herkömmlichen medizinischen Lösungen oder Mundspülwasser zurückgehen oder vielleicht auf Kamillentee, wo meine Kollegin ja schon sagte, das wäre für sie ein Untergang."
Lied Reinhard Mey: "Die Gnade, die ich mir erbitt‘ / Ich würd gern jenen letzten Schritt / Wenn ich ihn nun mal gehen muss / Auf meinen eignen Füßen geh’n…"
Bier und Wein auf die Lippen anstatt eines aseptischen Mundwassers - es sind diese kleinen unkonventionellen Tipps, die die Teilnehmerinnen nach und nach aus der Reserve locken, wie etwa Heiderose Lavan.
"Soll ich Ihnen was sagen, was ich mir jetzt gerade aufgeschrieben habe? Ganz großes Ausrufezeichen: Kein Kamillentee. Mir ist schon von Kind an übel geworden, wenn ich ihn nur rieche. Also meine Lippen sollen benetzt werden mit Fencheltee. Ich liebe Fencheltee ohne Ende, aber bitte, bitte alles, bloß keinen Kamillentee."
Die Kursatmosphäre wird im Laufe des Abends immer lockerer und irgendwann trauen sich die Frauen, Fragen zu stellen, die sie offensichtlich Überwindung kosten. Wie lange soll ich einen Toten liegen lassen? Kann ich einen Toten noch umarmen? Was mache ich, wenn ich den Geruch nicht ertragen kann? Muss ich eine konfessionelle Beerdigung durchführen, wenn der Tote keine Bindung zur Kirche mehr hatte? Und: Was ist mit dem selbstbestimmten Tod?
Brigitte Salm:"Die meisten alten Menschen, die ich kenne, sagen: Ich möchte das für mich selbst entscheiden können, wenn es mal dazu kommt, damit ich da meine Würde dabei behalte. Ich sehe es für mich und meinen Mann ebenso – wir würden das für uns auch so haben wollen."
Eine Diskussion über diese Frage kommt allerdings nicht auf, dafür ist das inhaltliche Konzept zu eng und sind die vorgesehenen drei Stunden zu kurz. Wie in einem Erste-Hilfe-Kurs will man auch in dem Letzte-Hilfe-Kurs nicht in die Tiefe gehen, sondern nur Basis-Wissen vermitteln. Ein allgemeingültiges Schema, wie man mit Sterbenden umgehen soll, gibt es nicht. Nur den Rat, in Kontakt mit den Sterbenden zu bleiben und seine Unsicherheit zu teilen.