"Wir waren auch Getriebene der eigenen Bevölkerung"
Aufgeheizte Stimmung, Stasi-Diskussionen - gut 16 Stunden lang: Sabine Bergmann-Pohl erinnert sich an den 28. September 1990. Als damalige Präsidentin der Volkskammer leitete sie die letzte reguläre Sitzung des DDR-Parlaments.
Wenn Sabine Bergmann-Pohl genau 25 Jahre zurückdenkt, erinnert sie sich vor allem an die Diskussion, ob man die Namen von Stasi-Mitarbeitern in den Reihen der Volkskammer öffentlich nennen sollte - oder nicht. Sie selbst, sagt sie, habe sich damals dagegen entschieden - und vor den Folgen gewarnt: Man habe nicht sicher sagen können, wer Täter, wer Opfer gewesen sei. Namen seien dann in der gut 16-stündigen Sitzung trotzdem genannt worden - von anderen.
"Ein sehr munteres, sehr fleißiges Parlament"
Gut ein halbes Jahr lang stand die Ärztin Bergmann-Pohl der frei gewählten Volkskammer vor - bis zu deren Auflösung am 3. Oktober 1990. Es sei ein "sehr munteres, sehr fleißiges Parlament" gewesen, sagt sie:
"Wir haben in einem halben Jahr 164 Gesetze erarbeitet und verabschiedet, drei Staatsverträge beraten - also es war unglaublich viel Arbeit. Wir haben eine hohe Einschaltquote im Fernsehen gehabt. Denn es ging ja um die Frage der Wiedervereinigung. Die Öffentlichkeit hat uns da sehr stark begleitet - auch mit Demonstrationen. Wir waren auch Getriebene unserer eigenen Bevölkerung."
Angetreten, um sich letztendlich überflüssig zu machen
Das Besondere an den Parlamentariern damals, so Bergmann-Pohl, seien deren Biografien gewesen: Die Abgeordneten seien "von heute auf morgen" aus ihren Berufen gekommen - als Ärzte, Ingenieure, Pfarrer - und hätten ohne parlamentarische Erfahrung höchste Verantwortung übernommen. Sie hätten aber auch genau gewusst, dass ihre Arbeit bald beendet sein würde: "Sie sind angetreten, um sich letztendlich dann überflüssig zu machen. Das ist das Entscheidende und Bemerkenswerte an diesem Parlament."
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: In unserer Reihe "25 Jahre nach dem Vollzug der staatlichen deutschen Einheit" wollen wir heute über die letzte Volkskammersitzung sprechen. Sie fand am 28. September statt und war in mehrerer Hinsicht historisch, nicht nur als die letzte reguläre, sondern auch als die längste Sitzung, sie hat nämlich gut 16 Stunden gedauert. Und wir wollen das tun mit Sabine Bergmann-Pohl, die Medizinerin war letzte Präsidenten der DDR-Volkskammer. Und bevor ich das mache, bekommen Sie einen Eindruck von dieser Sitzung, in der es einen Eklat gab. Dabei ging es um die Nennung der Namen von IMs, also Informeller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit, und darüber gab es höchst unterschiedliche Ansichten. Konrad Weiß, damals in der Fraktion von Bündnis 90/Grüne, wollte die Namen der Spitzel öffentlich machen.
Konrad Weiß: Es geht nicht an, dass wir in diesem hohen Hause nicht den Mut und die Kraft haben, die Namen öffentlich zu machen derjenigen, die ein halbes Jahr mit uns zusammen gearbeitet haben, die aber doch von sich selbst gewusst haben, dass sie Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes sind. Ich stehe nicht dafür ein, diese Leute jetzt zu schützen. Unser Volk wartet darauf.
Axel Viehweger: Ich bitte das hohe Haus zu gestatten, dass ich hiermit sofort als Minister zurücktrete. Ich bitte Sie, diesen Rücktritt nicht als Eingeständnis meiner Schuld zu bewerten, aber ich sag Ihnen ganz ehrlich, sowohl meine Familie als auch ich, wir können nicht mehr anders.
Billerbeck: Axel Viehweger war das, Bauminister von der FDP, der nach Stasivorwürfen gegen ihn zurückgetreten ist, und vorher hörten Sie Konrad Weiß von Bündnis 90/Grüne. Dieses Thema der letzten regulären Sitzung der DDR-Volkskammer beschäftigt uns jetzt auch im Gespräch mit Dr. Sabine Pohl, der Präsidentin derselben. Guten Morgen!
Sabine Bergmann-Pohl: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
Es kam zum Eklat wegen der Namen der IMs
Billerbeck: Sie waren Präsidentin der Volkskammer, haben auch die Sitzung geleitet, wie haben Sie das damals gesehen, IM-Namen nennen oder verschweigen?
Bergmann-Pohl: Ja, man muss die Vorgeschichte kennen. Wir haben am Abend vorher eine sehr lange Präsidiumssitzung gehabt, die schon bis in die Morgenstunden ging, und als der Sonderausschuss, der sich damit über ein halbes Jahr beschäftigt hat, uns das Ergebnis mitgeteilt hat. Und der Vorsitzende sagte dann aber zu mir, wir sind uns nicht bei jedem im Klaren, ob er Täter oder Opfer ist. Weil es war ja damals ganz schwierig für uns, überhaupt diese Organisation und den Aufbau der Stasiunterlagen zu durchblicken. Und dieser Satz hat mich sehr nachdenklich gemacht.
Es wurde aber dann mit Mehrheit beschlossen, dass ich am nächsten Tage in einer internen Sitzung, also einer nichtöffentlichen Sitzung, die Namen verlesen sollte, mir war aber bewusst, dass das natürlich öffentlich werden würde. Und ich hab im Prinzip nicht geschlafen, die Sitzung begann ja schon morgens um sieben wieder, und ich hatte mich also in der Zwischenzeit entschlossen, die Namen nicht zu nennen.
Und da kam es zu einem Eklat, ich hab das auch begründet, ich hab gesagt: Wenn hier Namen genannt werden, die in die Öffentlichkeit kommen, und hinterher stellt sich heraus, dass diese Leute keine IM waren, und wir kennen auch zum Beispiel die Gründe nicht, was haben sie getan als Informelle Mitarbeiter, also allein nur die Namensnennung hätte zu vielen Problemen auch in den Heimatbezirken führen können und haben auch dann dazu geführt. Ich bin dann aber überstimmt worden, und Herr Ullmann aus Bündnis 90/Grüne hat sich dann bereit erklärt, die Namen zu nennen.
Billerbeck: Wenn Sie an diese Zeit denken in der Volkskammer, wie war die Stimmung?
Bergmann-Pohl: Na, die Stimmung war natürlich sehr aufgeheizt, aber dass es ein gutes halbes Jahr gedauert hat, ehe man überhaupt richtig wusste, wer hat für die Stasi gearbeitet, wer nicht, daran sieht man ja, wie schwierig diese Problematik war. Sie begleitet uns ja, wenn Sie wollen, bis heute. Aber es war damals eine sehr aufgeheizte Stimmung, und man wollte unbedingt die Namen wissen. Das ist ja auch legitim, aber ich hab immer gewarnt vor den Folgen, weil wir eben wie gesagt nicht genau wussten, ist der eine wirklich der Täter oder ist er vielleicht auch Opfer.
In einem halben Jahr 164 Gesetze verabschiedet
Billerbeck: Nun war das ja nicht das einzige Thema, mit dem sich die Volkskammer in dieser Zeit beschäftigt hat. Wenn Sie an die Zeit zurückdenken, was sind das für Bilder, die Sie da im Kopf haben?
Bergmann-Pohl: Also die Bilder, die ich im Kopf habe, ist, dass es ein sehr munteres Parlament war, ein sehr, sehr fleißiges Parlament – wir haben in einem halben Jahr 164 Gesetze erarbeitet und verabschiedet, drei Staatsverträge beraten, also es war unglaublich viel Arbeit. Wir haben eine hohe Einschaltquote im Fernsehen gehabt, denn es ging ja um die Frage der Wiedervereinigung, und die Öffentlichkeit hat uns da sehr stark begleitet, auch mit Demonstrationen, also ich sag immer so ein bisschen, wir waren auch Getriebene unserer eigenen Bevölkerung.
Billerbeck: Wenn Sie an dieses Parlament denken, was war das Besondere an diesem Parlament oder besser gesagt an den Parlamentariern?
Bergmann-Pohl: Also das Besondere an den Parlamentariern war, dass erst mal der größte Teil von heute auf morgen aus ihren Berufen kamen – das waren Ingenieure, Ärzte, Pfarrer ...
Billerbeck: Physiker nicht zu vergessen.
Bergmann-Pohl: Genau ... die also von heute auf morgen ohne parlamentarische Erfahrung höchste politische Verantwortung übernommen hatten, aber genau wussten, dass ihre Arbeit auch irgendwann beendet sein würde. Also sie sind angetreten, um sich letztendlich dann überflüssig zu machen. Und das ist, glaube ich, das Entscheidende und das Bemerkenswerte an diesem Parlament.
Unglaublich erleichtert, dass uns das so gut gelungen ist
Billerbeck: Staunen Sie, wenn Sie zurückblicken auch, was Sie da so alles geschafft haben?
Bergmann-Pohl: Das ist wohl wahr. Heute denke ich manchmal, wie hast du das überhaupt ausgehalten? Ich hab gerne als Ärztin gearbeitet, und plötzlich im Mittelpunkt einer politischen Entwicklung zu stehen, die die ganze Welt bewegt hat, das ist ein Gefühl ... Also ich sag mal so, ich war am 3. Oktober froh, dass ich meine beiden Ämter wieder abgeben konnte.
Billerbeck: Wie haben Sie denn diese Nacht des 3. Oktober in Erinnerung?
Bergmann-Pohl: Das war eine sehr emotionale Nacht. Wir hatten ja zunächst einen Festakt im Konzerthaus am Gendarmenmarkt und sind dann in den Reichstag gegangen und eingetaucht in diese Menge der jubelnden Menschen. Ich hab so ein bisschen hinten abseits gestanden und hab diesen Moment so für mich allein erleben wollen. Ich war auf der einen Seite tief emotional berührt von diesem Moment, auf der anderen Seite aber auch unglaublich erleichtert, dass uns das eigentlich so gut gelungen ist.
Billerbeck: Wenn Sie 25 Jahre danach sich die Frage stellen, wie haben sich West- und Ostdeutsche aneinander genähert, was verbindet sie, wie beantworten Sie diese Frage, was trennt sie?
Bergmann-Pohl: Es ist so, dass zunächst einmal nach der Wiedervereinigung, als die erste Euphorie verschwunden war, natürlich sehr viel Trennendes zutage kam und es sehr viel Diskussionen gegeben hat. Aber heute ist, glaube ich, die Mehrheit, zwei Drittel der Deutschen gut zusammengewachsen.
Wir haben gemeinsame Probleme zu bewältigen, das Ost-West-Gerede wird Gott sei Dank leiser. Wir haben aber unsere unterschiedlichen Lebensläufe, wir haben unsere unterschiedlichen Sozialisationen, das ist auch eine Chance für Deutschland. Aber die Jugend, die um 90 geboren ist, ich glaube, da gibt es nicht mehr viel Trennendes.
Billerbeck: Sabine Bergmann-Pohl sagt das. Die Ärztin war Präsidentin der letzten DDR-Volkskammer, nach 1990 Bundesministerin ohne Geschäftsbereich, Staatssekretärin im Gesundheitsministerium und bis 2002 CDU-Bundestagsabgeordnete. Frau Bergmann-Pohl, ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.