LGBTQ-Touren in britischen Museen

Vergessene Erzählungen ausgraben

05:43 Minuten
Schauspielerin Marlene Dietrich. Gekleidet in einem Frack und mit Zylinder auf dem Kopf.
Die Schauspielerin Marlene Dietrich war bisexuell und ist Teil der LGBTQ-Tour im Victoria and Albert Museum in London. © imago / United Archives
Von Natalie Klinger |
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Bisher hat der queere Blick, die nicht-heteronormative Sichtweise auf Kunst in Museen eher keine Rolle gespielt. In Großbritannien ändert sich das: Institutionen wie das Londoner V&A-Museum bieten LGBTQ-Touren durch ihre Sammlungen an.
Normalerweise beginnt Dan Vo seine LGBTQ-Führung damit, alle Teilnehmer gleichzeitig "queer" in die hohen Räume des V&A Museum rufen zu lassen.
"Very loud, so they can hear us in Germany."
Weil ich heute dabei bin – und jemand vom schwulen Museum in Berlin, weicht er etwas vom Skript ab.
"Schwul" / "Damit haben wir uns Gehör verschafft. Wir sind hier, wir sind queer!"
Das LGBTQ in Kunst hörbar und sichtbar machen, darum geht es Dan Vo mit seiner kostenlosen monatlichen Tour.
"Unsere Geschichten sind schon immer Teil der Sammlung gewesen. Jetzt wollen die Menschen sie hören. Die Nachfrage ist riesig."

Gründe für den Trend

So groß, dass in den ersten sechs Monaten des Jahres schon mehr Besucher da waren als 2018 insgesamt. Inzwischen hat Dan Vo sein Konzept nach Cambridge exportiert, wo Freiwillige nun in vier Museen der Universität LGBTQ-Touren leiten. Auch das British Museum in London hat die Idee aufgegriffen. In Liverpool führt ein LGBT+-Trail durch Museen und Galerien. Und das Pitts Museum in Oxford hat gerade Gelder dafür erhalten, seine Kollektion zu "queeren". Dan Vo sieht zwei mögliche Gründe für den Trend:

"In den meisten britischen Kulturinstitutionen ist der Eintritt kostenlos. Damit die Menschen auch in unsere Museen gehen, müssen wir ihnen etwas bieten, von dem sie sich angesprochen fühlen."
Außerdem würden sich mehr und mehr Museen ihrer Verantwortung bewusst. Viele der Länder, in denen Homosexualität noch heute unter Strafe steht, gehören dem Commonwealth an – sind also ehemalige britische Kolonien.
"Je weiter man in der Geschichte zurückblickt, desto mehr Hinweise auf LGBTQI-Identitäten findet man. In dem Moment, in dem die Kolonialisten auftreten, werden diese unterdrückt. Wir wollen die vergessenen Erzählungen wieder ausgraben."


Ein Beispiel in der Führung: Ardhanarishvara, die Hindu-Gottheit Shiva ist hier links Mann, rechts Frau. Die kleine Sandsteinfigur zeigt, dass nicht-binäre Geschlechtsidentitäten schon im Jahr 200 ein Thema waren.
"Eine volle Brust, gebärfreundliche Hüften. Auf der anderen Seite eine flache Brust und der Hauch eines Schnurrbarts."
Die Skulptur stammt aus Indien, wo die britische Krone viel später – im 19. Jahrhundert – Sex zwischen Gleichgeschlechtlichen verbot. Erst vergangenes Jahr wurde der Paragraph für verfassungswidrig erklärt. Auch in Deutschland wurde ein ähnlicher Paragraph erst in den 90-ern abgeschafft.
An einer Büste von Albert Einstein erfahren wir, dass er einer der Wissenschaftler war, der schon während der Nazi-Zeit eine Petition gegen das Gesetz unterschrieb. Die Büste ist ein Beispiel dafür, dass Dan Vo nicht nur Objekte in die Tour einbezieht, die sich explizit mit LGBTQ-Themen auseinandersetzen oder von LGBTQ-Künstlern erschaffen wurden.
"Das Wichtigste ist, dass die LGBTQ Community in dem Objekt oder dem Künstler etwas entdeckt hat, in dem sie sich wiederfindet und das für sich beansprucht."
Ardhanarishvara – die Hindu-Gottheit Shiva - links ein Mann und rechts eine Frau.
Solch eine Figur von Ardhanarishvara – der Hindu-Gottheit Shiva – wird auch im V&A Museum in London gezeigt.© imago images / Artokoloro / Liszt Collection

Biografien mit queeren Perspektiven

Besonders erfolgreich erweitert die Führung gut bekannte Biografien um queere Perspektiven. Bei einem Foto, das Marlene Dietrich 1930 bei einem der ersten transatlantischen Telefongespräche zeigt, eröffnet Dan Vo, dass die Schauspielerin bisexuell war.
"She had a lot of male lovers and a lot of female lovers."
Und in der Sammlung der Schnupftabakdosen von Friedrich dem Großen offenbart sich das Geheimnis, wie das "groß" in seinen Namen kam. Seinem Vater gefiel es nicht, dass er goldene, mit Brillanten besetzte Döschen sammelte. Er ließ Friedrichs Liebhaber, den Leutnant Hans Hermann von Katte, vor seinen Augen hinrichten:

"In diesem Moment soll Friedrich den Entschluss gefasst haben, Friedrich der Große zu werden und seinen Vater zu übertrumpfen: 'Er war vielleicht ein König in Preußen, ich werde König von Preußen sein!'"
An den Tafeln neben den Schaukästen sind solche Informationen bisher nicht zu finden. Dan Vo, der selbst Kunstgeschichte studiert hat, gibt zu: Das liegt auch daran, dass sich noch nicht immer verlässliche Quellen für solche Anekdoten finden lassen.
"Viel muss noch nachgeprüft und aufgeschrieben werden. Aber es bildet sich gerade eine Gemeinschaft aus Wissenschaftlern, die das Queere in der Kunst zu ihrer Leidenschaft gemacht haben."
Und letztlich sei es mindestens genauso wichtig, Fragen zu stellen wie sie zu beantworten.
"Und wir werden vielleicht niemals Antworten finden. Aber es ist verlockend, darüber nachzudenken, dass es sie gibt."
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