Liao Yiwu: "Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand. Texte aus der chinesischen Wirklichkeit"
Aus dem Chinesischen übersetzt von Hans Peter Hoffmann
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019
144 Seiten, 12 Euro
Gegen das staatlich verordnete Vergessen
07:09 Minuten
Für sein Gedicht "Massaker" kam Liao Yiwu in China vor 30 Jahren ins Gefängnis. Seine "Texte aus der chinesischen Wirklichkeit" sind wie ein Heilmittel gegen eine ahistorische Amnesie auch der deutschen Linken, urteilt unser Kritiker.
Dem Massenmord rund um den Pekinger Platz des Himmlischen Friedens folgte die Kriminalisierung der Zeitzeugen: Für sein 1989 entstandenes Gedicht "Massaker" wurde der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu für vier Jahre ins Gefängnis geworfen. Auch später bestrafte das Regime Yiwus historisch-literarische Spurensuche mit Repression. 2011 konnte er dann aus der Volksrepublik fliehen und lebt seither in Berlin.
Präzise Texte voll emotionaler Wucht
Im 30. Jahr nach dem Mauerfall gibt es deshalb in seinem neuen Buch "Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand" auch Verbindungslinien in die deutsche Hauptstadt. Als am 4. Juni 1989 die Pekinger Parteikommunisten auf friedlich protestierende Studenten schießen ließen, bejubelten dies im damaligen Ostberlin Egon Krenz und andere SED-Funktionäre – kalkuliert das Signal sendend, das auch in der DDR eine "chinesische Lösung" möglich sei, sollte es hier zu Protesten kommen. Zu dieser Zeit war Herr Wang, Liao Yiwus Titelheld, bereits verschwunden – wahrscheinlich erschossen, nachdem ihn Geheimdienstbüttel von jenen Panzern weggezogen hatten, die er zuvor mit seiner puren Präsenz zum Stehen gebracht hatte.
Liao Yiwu nimmt dieses Ereignis – damals als Foto in der gesamten Weltpresse, doch inzwischen nahezu vergessen – zum Anlass, sein Erinnerungs-Projekt fortzusetzen. Das Kapitel "Aus dem Leben meiner Gefängnisbrüder" versammelt biografische Porträts seiner ehemaligen Mitgefangenen, präzise Texte voll emotionaler Wucht, die an vergleichbare Passagen in Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag" erinnern. Jenes Buch hatte Mitte der 70er-Jahre die bis dahin fast ausnahmslos prokommunistische Pariser Intellektuellenszene aufgerüttelt und zum sogenannten "Solschenizyn-Schock" und der Geburt der antitotalitären "Nouveaux philosophes" geführt. Für Deutschland wünscht man sich, dass Liao Yiwus erhellendes Buch zumindest zur Kenntnis genommen wird.
Ebenso verstörend wie erhellend
Es wäre auch die Gelegenheit, sich an Yiwus Freund, den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo zu erinnern, der nach langjähriger Gefängnishaft im Sommer 2017 starb und inzwischen dem hiesigen Gedächtnis völlig entschwunden zu sein scheint. Liao Yiwu dokumentiert, wie er, um den dramatischen Gesundheitszustand Xiaobos wissend, in Berlin alles tat, um zu helfen. So schrieb er Briefe an seinen Schriftstellerfreund Wolf Biermann, der sich wiederum an Angela Merkel wandte, die – so ist zu vermuten – auf diskretem Weg Kontakt zur chinesischen Führung aufnahm. Liu Xiaobo durfte nicht mehr ausreisen, zumindest aber konnte dann seiner gesundheitlich ebenso angeschlagenen Witwe der Weg nach Deutschland geebnet werden.
Es sind kleine, fast zitternde Linien der Solidarität, die Liao Yiwu hier zieht. Sie sind notwendig – gerade jetzt in diesem Jubiläums-Jahr, in dem der Berliner Mauerfall vermutlich erneut auf jene idyllisierende Weise erinnert wird, die das brutal konträre Geschehen im damaligen (und gegenwärtigen) China geflissentlich ignoriert. Gegen diese ahistorische Amnesie ist "Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand" ein eindringliches Antidot.