Die Reiseagentur zur EU-Grenze
23:27 Minuten
Das belarussische Konsulat in Beirut bietet Reisen für überwiegend syrische Geflüchtete nach Europa an – inklusive Transfer zur polnischen Grenze. Das belegen Aussagen von Ausreisewilligen im Libanon. Einige haben es in die EU geschafft.
Mariam ist in Deutschland. In dem Flur ihrer Flüchtlingsunterkunft gibt es einen WLAN-Router, um den sich alle scharen. Von hier aus erzählt sie mir per WhatsApp, wie sie aus dem Libanon über Belarus nach Polen und dann nach Deutschland gekommen ist:
“Ich habe nicht gedacht, dass es so eine riskante Reise wird. Ein Freund von uns hat erzählt, es sei einfach. Ihr fliegt nach Belarus, dann nehmt ihr ein Taxi bis zur Grenze, müsst nur fünf Stunden laufen und dann nehmt ihr wieder ein Taxi von Polen nach Deutschland. Das ist alles.”
Belarus half mit Visa
Dass Mariam und ihre Freunde rund zehn Tage in der sogenannten Grenzzone zwischen Polen und Belarus verbringen werden, dass sie in Schlafsäcken auf dem Boden schlafen werden und am Ende die belarussische Armee anflehen, umkehren zu dürfen, weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Anfang September organisieren die Freunde die Reise in ihr neues Leben.
“Es war nicht einfach, eine Airline zu finden, die Syrerinnen und Syrer an Bord ließ“, erzählt sie. „Doch dann haben wir einen Flug gefunden mit der Hilfe des belarussischen Konsulats. Das Konsulat hat uns auch mit den Papieren und unseren Visa geholfen. Und mit der Hotelreservierung in Minsk. Als in wir in Belarus ankamen, hatten wir schon eine Unterkunft.”
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Belarus Menschen aus Drittstaaten wie dem Libanon gezielt bei der Ausreise unterstützt, um an die Grenze zur EU zu kommen. Im Libanon interessiert das insbesondere die Geflüchteten aus Syrien. Mariam gehört dazu.
Sie ist vor neun Jahren mit ihren Eltern aus Homs geflohen und nach Tripoli gezogen, eine Stadt im Norden des Libanons. Eigentlich hat sie sich gut eingelebt, sogar ihr Studium konnte sie beenden. Doch seit der Explosion im Hafen von Beirut 2020 hat sich die Wirtschaftskrise im Libanon derart zugespitzt, dass es insbesondere für die 1,5 Millionen syrischen Geflüchteten nicht mehr möglich ist, ihren bescheidenen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Ein syrischer Steinmetz will weg
Deshalb will auch Abdel Humssi so schnell wie möglich weg. Er hat sich einem Schleuser anvertraut, der ihm verspricht, ihn nach Belarus zu bringen.
Abdel kniet auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden der kleinen Einzimmerwohnung. Vor ihm liegt ein schwarzer Koffer. Seine Frau Zeinab steht vor dem Kleiderschrank und reicht ihm die Sachen an.
Eine dicke Decke gegen die Kälte, feste Schuhe für den langen Fußmarsch. Der Koffer ist zu schwer, findet Zeinab. Das Wichtigste ist, dass ich heil ankomme, glaubt Abdel.
Während die Eltern den Koffer packen, spielt ihre 5-jährige Tochter mit dem Vorhang, der den Schlafbereich vom Wohnbereich trennt. Vor zehn Jahren ist die Familie aus dem syrischen Idlib in den Libanon geflohen. Hier in einem Dorf in den Bergen rund 40 Autominuten von der libanesischen Hauptstadt Beirut entfernt, haben sie eine neue Heimat gefunden. Doch jetzt möchten sie weg.
Das Leben ist einfach zu schwer geworden. Er hat einen Job als Steinmetz auf dem Bau. Jeden Tag schneidet er große Steinblöcke in baugerechte Stücke. Vor der Krise habe er so umgerechnet rund 300 Dollar im Monat verdient, erzählt er. Mittlerweile bekomme er eine Million libanesische Pfund. Das entspricht zum aktuellen Zeitpunkt 40 Dollar.
Raus aus der Hyperinflation
Während die Hyperinflation Abdels Gehalt immer weiter schrumpfen lässt, steigen die Preise für Lebensmittel an. In den letzten zwei Jahren sind sie um 700 Prozent gestiegen. Zeinab weiß nicht mehr, wie sie die Familie satt bekommen soll. Sie müssen weg. Nun gibt es Hoffnung. Der Weg über Belarus soll einfach sein, das hat Abdel gehört.
„Ein Freund von mir hat das gemacht und ein Foto von sich auf Facebook gepostet. Dazu hat er geschrieben, dass er vor der Grenze zu Europa stehe. Also habe ich das Bild kommentiert und gefragt: Wo bist du jetzt? Er hat geantwortet, dass er nach Deutschland einreisen würde, aber zuerst nach Belarus geflogen ist. Also habe ich ihn gefragt: Wie hast du das gemacht?“
Tatsächlich hat die Bundespolizei seit August knapp 11.000 Menschen registriert, die über Belarus und Polen nach Deutschland gekommen sind. Verfolgt man ihren Weg zurück, so gelangt man unweigerlich zu belarussischen Einrichtungen wie zum Konsulat in Beirut.
Belarussisches Konsulat verspricht Reisepaket
Die Vertretung liegt im zehnten Stock eines trichterförmigen Gebäudes direkt an der Schnellstraße nach Beirut. Draußen spiegeln sich in der Glasfassade die umliegenden Gebäude. Drinnen gibt ein Fenster den Blick auf das Mittelmeer frei. Neben dem Empfang steht ein kleiner, üppig geschmückter Weihnachtsbaum. Ein Interview zum Thema wird abgelehnt, Eine Mitarbeiterin erklärt, dass das Konsulat nur für Belarussen und Menschen mit festem Wohnsitz im Libanon zuständig sei.
Auf einem Audio, das ich zugespielt bekomme, klingt das allerdings anders. Ein Syrer, der angibt wie 85 Prozent der Geflüchteten im Libanon keinen festen Aufenthaltsstatus zu haben, fragt nach Möglichkeiten, um nach Minsk zu reisen. Der Dialog ist hier nachgestellt.
Frau: „Die Anfrage kostet 1500 Dollar. Darin enthalten sind die Einladung nach Belarus, die Hotelreservierung, die Reiseversicherung, das Taxi vom Flughafen und das Porto nach Syrien für die Dokumente. All das kostet 1500 Dollar, dann kommen noch 120 Euro für das Visum dazu. Die Flugtickets sind nicht mit drin. Da können wir später drüber reden.“
Mann: "Kann ich den Flug im Reisebüro oder Internet selbst buchen?"
Frau: "Die Flüge werden Sie nicht im Internet finden."
Mann: "Sie können die Flüge auch hier buchen?"
Frau: "Ja, wir können die Flüge buchen, keine Sorge. Das Ticket kostet 1300 Dollar mit Belavia. Das ist die einzige Airline, die vom Libanon aus direkt nach Minsk fliegt."
Mann: "Belavia Airlines fliegt vom Libanon aus?"
Frau: "Was glauben Sie, wie wir sonst all die Leute hier raus bekommen."
Frau: "Die Flüge werden Sie nicht im Internet finden."
Mann: "Sie können die Flüge auch hier buchen?"
Frau: "Ja, wir können die Flüge buchen, keine Sorge. Das Ticket kostet 1300 Dollar mit Belavia. Das ist die einzige Airline, die vom Libanon aus direkt nach Minsk fliegt."
Mann: "Belavia Airlines fliegt vom Libanon aus?"
Frau: "Was glauben Sie, wie wir sonst all die Leute hier raus bekommen."
Dritter Versuch nach Polen gelingt
Von Mariam, die es nach Deutschland geschafft hat, erfahre ich, dass belarussische Soldaten geholfen und die Gruppe immer wieder im Grenzgebiet umhergefahren haben. Der Grenzübertritt nach Polen will trotzdem nicht gelingen.
Zwei Mal seien die Freunde von den polnischen Behörden zurück nach Belarus gebracht worden, erzählt Mariam. Die Stimmung kippt: “Es war hart. Manchmal hatten wir kein Essen mehr, manchmal kein Trinkwasser. Und wir wurden müde. Körperlich aber auch psychisch. Irgendwann habe ich mir gewünscht, dass das nur ein Traum ist. Dass ich in meinem Zimmer aufwache, in meinem Bett, bei mir zu Hause. Aber es war kein Traum.”
Mariam und ihre Freunde beschließen aufzugeben. Sie sagen den Soldaten, dass sie zurück nach Minsk wollen. Doch die belarussischen Soldaten haben andere Pläne. “Ich erinnere mich, dass einer der belarussischen Soldaten zu mir gesagt hat: Entweder du schaffst es nach Polen oder du musst hier sterben. Ein Zurück gibt es nicht.”
Nach ungefähr zehn Tagen in der Grenzzone wollen die belarussischen Soldaten nichts mehr dem Zufall überlassen. Sie fahren die Gruppe um Mariam an einen neuen Ort im Grenzgebiet. An einem Feuer warten dort bereits andere Migrantinnen und Migranten.
"Meine Stimmung schwankt"
“Einer der belarussischen Soldaten kam, um uns zu erklären, wie man am besten die Grenze überquert, ohne Krach zu machen oder durch Licht aufzufallen. Er hat es einer Gruppe von etwa 20 Menschen beigebracht. Und er hat gesagt, dass wir keine Angst vor der polnischen Armee haben sollen. Dass sie nicht auf uns, sondern nur in die Luft schießen werden.”
Der dritte Versuch gelingt. In den Morgenstunden erreicht die Gruppe um Mariam unentdeckt Polen. Zwei weitere Tage laufen sie durch Polen, bevor sie an eine Straße gelangen und ein Taxi nach Deutschland nehmen. Dort endet ihre Reise.
Zwei Monate später in einer Flüchtlingsunterkunft sagt Mariam: “Meine Stimmung schwankt. Manchmal bin ich in einem tiefen Loch, manchmal fühle ich mich gut. Dann bin ich nicht glücklich, aber ok. Dann habe ich Hoffnung. Aber die meiste Zeit über bin ich niedergeschlagen.”
Neun von zehn Syrern unter der Armutsgrenze
Dass viele der Migrantinnen und Migranten ihre Reise nach Belarus im Libanon starten, beobachtet Watfa Najdi. Oft führt die Reise über mehrere Umwege nach Minsk. Die Wissenschaftlerin forscht an der American University of Beirut zu Flucht und Migration.
“Ich habe keine Zahlen, wie viele Menschen es genau sind. Wir wissen aber, dass sich seit September die Anzahl der Airlines, die Flüge vom Libanon Richtung Belarus anbieten, deutlich erhöht hat“, sagt sie.
Für ihre Forschungsprojekte ist sie im regen Austausch mit syrischen Geflüchteten und arbeitet unter anderem in den Flüchtlingscamps des Landes. Von den etwa sieben Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern des Libanon sind etwa 1,5 Millionen vor dem Bürgerkrieg im Nachbarland geflohen.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk geht davon aus, dass heute neun von zehn syrischen Flüchtlingen im Libanon unter der Armutsgrenze leben. Sie dürfen nur in wenigen Branchen arbeiten, etwa in der Landwirtschaft oder auf Baustellen.
“Die Arbeit in diesen Sektoren ist oft kaum reguliert und meistens informell. Die Löhne sind deswegen sehr niedrig. Und wegen ihrer rechtlichen Situation erfahren Geflüchtete häufig Missbrauch und Diskriminierung im Arbeitsumfeld.”
Besser als die Route über das Meer
Vielen Libanesinnen und Libanesen geht es jedoch kaum besser. Die Landeswährung, das libanesische Pfund, hat über 90 Prozent seines Wertes verloren und die Inflationsrate von rund 174 Prozent ist eine der höchsten der Welt. Stundenlange Stromausfälle gehören zum Alltag. Für syrische Flüchtlinge ist eine legale Ausreise nur schwer möglich:
“Die einzige Möglichkeit für sie ist das Umsiedlungsprogramm des UNHCR. 2020 waren, soweit ich weiß, Umsiedlungen in Drittstaaten für bis zu 8000 syrische Flüchtlinge geplant. 8000 ist eine sehr kleine Zahl verglichen mit den schätzungsweise 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen, die der Libanon derzeit aufgenommen hat.”
Da die Aussicht auf eine Umsiedlung gering ist, steigt die Bereitschaft, auch gefährlichere Fluchtrouten in Betracht zu ziehen. Wie etwa der Weg über das Mittelmeer nach Zypern oder in die Türkei. “Die neue Route nach Belarus schätzen die Menschen als weniger riskant ein als den Weg über das Meer. Aber die Menschen wollen unbedingt weg. Daran sieht man, wie schwer es für sie ist, im Libanon zu bleiben.”
Abdels Frau Zeinab ist erleichtert
In dem kleinen Bergdorf 40 Minuten außerhalb von Beirut kommt die Familie von Steinmetz Abdel Humssi zusammen. Er sitzt auf seinem gepackten Koffer, ist bisher nicht weggekommen. Am 2. Dezember hat der Europäische Rat ein fünftes Sanktionspaket gegen Belarus verabschiedet. Der Beschluss richtet sich gegen Politiker und Unternehmen. Darunter ist auch die Fluggesellschaft Belavia Airline.
Seine Frau Zeinab hat einen Kessel Kaffee aufgesetzt. Der Putz bröckelt in verschiedenfarbige Schichten von den Wänden. Außer einem Spültisch, einem kleinen Kühlschrank und dem einflammigen Gaskocher ist die Küche leer. Ihre Eltern sind vorbeigekommen.
Zeinab gibt zu, dass sie erleichtert ist. Die Vorstellung, dass ihr Mann zu Fuß von Belarus nach Deutschland laufen wollte, hat ihr Angst gemacht. Tagelang hatte sie Migräne: “Zum einen wegen des vielen Nachdenkens. Dann wegen der Sorge, ob er ankommen wird oder nicht. Und dann habe ich mich gefragt, wer sich um mich und meine Tochter kümmern wird, falls ihm etwas passiert.”
Geplatzter Traum von Sicherheit und Frieden
Abdel hingegen ist frustriert: „Ich habe alle meine Hoffnungen in diese Reise gesteckt. Jetzt, wo ich das verloren habe, wie soll ich das erklären? Ich kann die Träume, die ich hatte, nicht zurückholen. Den Traum, meine Familie hier rauszuholen und in Sicherheit und Frieden zu leben.”
Sicherheit und Frieden für die Familie – das ist alles, was Abdel will. Aufgeben kommt für den 25-Jährigen nicht infrage.
Von einem Freund hat er gehört, dass es eine Route von Albanien aus zu Fuß in die EU gebe. Er will bis zum Sommer warten, jetzt ist es zu gefährlich. Er zeigt ein Video auf seinem Handy, das ihm ein Freund geschickt hat. Darauf zu sehen ist der Leichnam eines jungen Mannes, der am Rand eines schlammigen mit Schnee bedeckten Weges liegt. Und dann sagt Abdel noch: „Wenn uns jemand helfen kann, wären wir sehr dankbar.”