Die 67. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen finden vom 1. bis zum 10. Mai online statt.
"Mit jeder neuen Katastrophe sieht man alte Katastrophen anders"
06:12 Minuten
Auch in diesem Jahr finden die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen online statt. Der Schwerpunkt liegt auf libanesischen Filmen gegen das Vergessen. Sie behandeln die konfliktreiche Geschichte des Landes und zeigen, dass die Wunden noch offen sind.
Eine Frau in einem schwarzweiß gestreiften Sommerkleid geht einen Gang entlang, biegt in einen Raum ab. Es ist 16:17 Uhr am 4. August 2020, sagt die Anzeige am oberen Bildrand. Schnitt: 17:05 Uhr. Eine Frau kniet in einem großen leeren Ausstellungsraum und schreibt auf eine Rolle Papier.
Es sind die Bilder der Überwachungskameras im Beirut Art Center, die Danielle Davie zu einem fünfminütigen Kurzfilm montiert hat. Aufnahmen vom Alltag in der Galerie, bevor die Explosion im Hafen von Beirut um 18:08 Uhr alles veränderte.
Es sind die Bilder der Überwachungskameras im Beirut Art Center, die Danielle Davie zu einem fünfminütigen Kurzfilm montiert hat. Aufnahmen vom Alltag in der Galerie, bevor die Explosion im Hafen von Beirut um 18:08 Uhr alles veränderte.
Filme über die konfliktreiche Geschichte des Landes
"Wir wollten mit unserer Reihe fragen, was nach einer solchen Katastrophe passiert, nicht nur mit der Stadt, sondern auch mit dem Kino, der Sprache, unseren Körpern, der Erinnerung. Daher fanden wir es wirkungsvoller, über diese Katastrophe zu sprechen, ohne die bekannten Bilder der Explosion zu zeigen", sagt Rami El Sabbagh.
Ein gutes Dutzend Kurzfilme haben der libanesische Kurator Rami El Sabbagh und seine Lansfrau und Kollegin Nour Ouayda zusammengestellt: Aktuelle Filme über die jüngste Katastrophe, aber auch Filme aus der konfliktreichen Geschichte des Landes. "Prophecies from the Sea" haben sie das Programm genannt.
Dazu erklärt Nour Ouayda: "Wir wollen Filme zeigen, die nicht nur Zeugnisse vergangener Ereignisse sind, sondern auch im Verhältnis zu anderen Ereignissen stehen. Mit jeder neuen Katastrophe sieht man alte Katastrophen anders. Jedes Mal kommen weitere Layer dazu."
Kinder, die dem Massaker von Karantina entkommen sind
"Les Enfants de la Guerre" heißt ein Film von Jocelyne Saab. Entstanden ist er 1976, in der Frühphase des libanesischen Bürgerkrieges, einige Tage nach dem Massaker von Karantina in einem vornehmlich von Muslimen bewohnten Teil von Beirut.
Die Kamera beobachtet Kinder, die dem Massaker entkommen sind. Lachend tun sie so, als würden sie sich gegenseitig die Kehlen durchschneiden, erschießen, abstechen. Mit sehr präzisen Handgriffen stellen sie spielend das nach, was sie gesehen haben.
– "Ich mag Kriegsspiele", sagt ein Junge.
– "Warum?", fragt die Filmemacherin.
– "Weil ich gerne schieße."
– "Was möchtest du werden, wenn du groß bist?"
– "Das weiß nur Gott. Vielleicht sind wir tot."
– "Ich mag Kriegsspiele", sagt ein Junge.
– "Warum?", fragt die Filmemacherin.
– "Weil ich gerne schieße."
– "Was möchtest du werden, wenn du groß bist?"
– "Das weiß nur Gott. Vielleicht sind wir tot."
Gegen das Vergessen
"Als ich den Film noch einmal sah, war ich schockiert", sagt Kurator Rami El Sabbagh, der selbst im Bürgerkrieg groß geworden ist und in seiner Kindheit Krieg gespielt hat.
"Nicht schockiert, weil ich die Bilder sah, sondern weil sie aus meiner Erinnerung verschwunden waren. Nach dem Bürgerkrieg hieß es im Libanon immer: Wir müssen alles vergessen, was geschehen ist", sagt El Sabbagh. "Statt zu erinnern und den Krieg als Wunde zu sehen, die heilen muss, sollten wir alles vergessen und ganz auf den Wiederaufbau setzen. Ich war nun schockiert, dass auch ich, obwohl ich diesen Ansatz kritisiere, mich nicht daran erinnere, dass ich zu diesen Kindern gehört habe, die der Film zeigt."
Sonnenuntergänge können politisch sein
Trümmer, Tod und Zerstörung beherrschen auch "Merely a Smell", einen Film, der 2006 entstand, im Libanonkrieg, nach einem israelischen Luftangriff. Männer wühlen durch den Schutt, auf der Suche nach Überlebenden, stapeln Särge in einen Transporter.
Zwischen all der Zerstörung immer wieder auch Bilder vom Meer und der Sonne. Zum Beispiel im Film "I Only Wish that I could Weep". Eine Montage aus Sonnenuntergängen, die ein libanesischer Geheimdienstoffizier ab 1995 gemacht hat. Eigentlich sollte er die Corniche überwachen, die Strandpromenade von Beirut. Aber immer am Abend richtete er die Kamera auf die Sonne statt auf die Menschen.
Zwischen all der Zerstörung immer wieder auch Bilder vom Meer und der Sonne. Zum Beispiel im Film "I Only Wish that I could Weep". Eine Montage aus Sonnenuntergängen, die ein libanesischer Geheimdienstoffizier ab 1995 gemacht hat. Eigentlich sollte er die Corniche überwachen, die Strandpromenade von Beirut. Aber immer am Abend richtete er die Kamera auf die Sonne statt auf die Menschen.
Er sei im Bürgerkrieg in Ost-Beirut aufgewachsen, begründete er später, nach seiner Entlassung, die Aufnahmen. Er habe immer davon geträumt, von West-Beirut aus die Sonne im Meer verschwinden zu sehen. Selbst ein tägliches Naturereignis kann im Libanon also eine gesellschaftspolitische Dimension bekommen. Erst recht nach der Explosion im letzten Jahr.
"Eigentlich sind Sonnenuntergänge schön, aber sie erinnern uns jetzt an die Explosion, die vom Meer kam, während die Sonne am Abend feuerrot und tief am Himmel stand. Sonnenuntergänge wurden für uns zu Explosionen. Selbst in Filmen, bei denen es nicht um die Explosion im Beiruter Hafen geht, erinnern sie uns nun daran", sagt Rami El Sabbagh.
"Eigentlich sind Sonnenuntergänge schön, aber sie erinnern uns jetzt an die Explosion, die vom Meer kam, während die Sonne am Abend feuerrot und tief am Himmel stand. Sonnenuntergänge wurden für uns zu Explosionen. Selbst in Filmen, bei denen es nicht um die Explosion im Beiruter Hafen geht, erinnern sie uns nun daran", sagt Rami El Sabbagh.
Aufhören, zu hoffen, und stattdessen etwas ändern
Wie häufig kann ein Land seine Häuser wiederaufbauen?, fragt man sich, wenn man die Kurzfilme der Reihe gesehen hat. Wie kann es immer wieder Hoffnung schöpfen und weiter machen? Vielleicht sollten die Libanesen aufhören, zu hoffen, endlich die Hoffnungslosigkeit akzeptieren und wirklich etwas ändern, sagt Rami El-Sabbagh.
Dafür allerdings, da sind sich der Kurator und die Kuratorin einig, muss sich das Land auch mit den traumatischen Ereignissen der Vergangenheit konfrontieren. Dazu Nour Ouayda: "Der Regisseur Mohamed Soueid sagt in Bezug auf Heilung: Ein Film kann keine Wunde heilen, ein Film ist die Wunde."