Wahlen im Libanon

Ein Staat kollabiert

23:31 Minuten
Eine Frau mit Kopftuch trägt eine grüne Gasflasche auf ihren Kopf, inmitten einer Gruppe von wartenden Frauen und Männern, die ihr nachschauen.
Ein Ende der Wirtschaftskrise im Libanon ist nicht in Sicht. Eine Million libanesische Pfund entsprechen aktuell umgerechnet nur noch etwa 35 Euro. © picture alliance / Anadolu Agency / Ahmed Said
Von Anne Allmeling und Anna Osius |
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Schlechter kann die Bilanz einer Regierung kaum ausfallen: In den letzten zwei Jahren büßte die libanesische Währung 90 Prozent an Wert ein. Es gibt Hyperinflation, die Versorgungslage ist miserabel. Sogar Brot können sich viele kaum noch leisten.
Über die Hälfte der Bevölkerung im Libanon lebt inzwischen in Armut. Lebensmittel sind unerschwinglich geworden, aber auch die Versorgung mit Strom, Wasser und Diesel funktioniert nicht mehr. Man spricht offen von einem Staatskollaps.
Unsere Korrespondentin Anna Osius ist zurzeit in Beirut, um sich anlässlich der Wahlen am Sonntag über die Lage vor Ort zu informieren.
Sie berichtet: „Die Preise für Grundnahrungsmittel sind hier um über 600 Prozent gestiegen – 600 Prozent, das muss man sich mal vorstellen! Das heißt, im Supermarkt wird mit Millionen bezahlt, eine Million libanesische Pfund sind jetzt umgerechnet nur noch etwa 35 Euro. Das heißt, wir reden über eine unfassbare Entwertung des Geldes, der Ersparnisse, der Immobilien. Und genau das drückt die Menschen hier an die Wand.“
Eine Frau mit Kopftuch verlässt eine Bäckerei mit einer Tüte Brot, während die restlichen Menschen um sie herum darauf warten, dass sie an der Reihe sind.
Ob Arme oder Mittelschicht – immer mehr Menschen sind von der schlechten Versorgungslage im Land betroffen. © AFP / Anwar Amro
Längst ist die Krise bei der Mittelschicht angekommen, ganz zu schweigen von der Situation der vielen Geflüchteten, die im Libanon leben, allein aus Syrien sind es zwei Millionen. Der Libanon hat überhaupt nur sieben Millionen Einwohner.
„Die Flüchtlinge sind ja oft das unterste Glied in der sozialen Kette. Das war schon vor Jahren so, als ich hier war, dass man da eben teilweise eine sehr große Armut gesehen hat. Insofern trifft es sie besonders hart. Vor ein paar Jahren haben hier viele syrischen Flüchtlingskinder gebettelt, heute sind das libanesische Kinder.
Gestern habe ich mit einem 13-Jährigen gesprochen, der Corona-Schutzmasken auf der Straße versucht hat zu verkaufen, für zehn Cent das Stück umgerechnet. Er hat die Schule hingeworfen, weil er der alleinige Ernährer seiner Familie geworden ist. Und er sagt, ich will nicht mehr leben, dieses Leben macht mir keine Freude mehr.“

Zwei Stunden Strom am Tag

Strom gibt es nur noch unregelmäßig, was einerseits den Alltag schwierig macht, aber auch den Betrieb in Krankenhäusern. Nur noch zwei Stunden am Tag gibt es öffentlichen Strom. Dann brummen die Generatoren – jedenfalls dort, wo es Diesel gibt. Aber die Stromausfälle wirken sich auch auf die Lebensmittelversorgung aus, beobachtet Anna Osius in Beirut.
„Die Infektionen im Bereich von Lebensmittelvergiftungen sind deutlich nach oben gegangen, weil die Kühlketten ständig unterbrochen werden. Und dann die medizinische Versorgung. Die ist komplett von Generatoren abhängig, und auch viele Medikamente gibt es nicht mehr oder sie sind unerschwinglich geworden.“
Auf den ersten Blick eher zweitrangig angesichts der Versorgungskrise wirkt die Tatsache, dass Eltern das Schulgeld ihrer Kinder nicht mehr bezahlen können und sie abmelden. Bei näherem Hinsehen steckt dahinter aber ein größeres Problem: Jede fünfte Lehrkraft hat in den vergangenen Monaten den Libanon verlassen.

Lehrkräfte verlassen zuhauf das Land

Susan Abdel Reda ist Erziehungswissenschaftlerin an der Lebanese University. Der Libanon war lange bekannt für sein gutes Bildungssystem – und unterschied sich damit von vielen anderen arabischen Ländern, erklärt sie. Das ist vorbei.
„Statistiken zufolge haben wir etwa 20 Prozent der Lehrkräfte verloren. Sie sind jetzt in anderen arabischen Ländern oder in Europa, den USA oder Kanada. Das ist ein sehr, sehr großes Problem.“
Unterfinanzierung, Lehrermangel, schlechte Disziplin – nach fast drei Jahren Finanz- und Wirtschaftskrise und mehreren Schulschließungen wegen Corona liegen die Nerven bei vielen Lehrern, Eltern und Schülern blank. Gleichzeitig schwindet bei vielen Libanesen die Hoffnung, dass sich daran bald etwas ändern wird. Denn die Krise offenbart auch strukturelle Schwächen im Bildungssystem. Mehr als zwei Drittel der Schüler im Libanon besuchen Privatschulen – und die meisten hätten ihre ganz eigene Agenda, sagt Bildungsexpertin Susan Abdel Reda:
„Die Privatschulen sind eine große und sehr mächtige Interessensgruppe. Warum? Weil einige von ihnen indirekt mit politischen Parteien verbunden sind, und andere sogar politischen Parteien gehören, zum Beispiel der Hisbollah. Jede Partei besitzt also ihre eigenen Schulen. Auf diese Weise halten die Parteien ihre Macht in den libanesischen Institutionen aufrecht, auch in Bildungseinrichtungen. Und die Menschen sind wie Geiseln in der Hand dieser Mafia.“

Die Elite schachert sich die Posten zu

Als „Mafia“ bezeichnen viele Libanesen die politische Elite, die das Land seit Jahrzehnten fest im Griff hat. Auf den ersten Blick wirkt der Libanon seit Ende des Bürgerkrieges 1990 zwar wie ein funktionierender Staat: mit einem Parlament, einem Justizsystem und einer vergleichsweise freien Presse.
Doch die politischen Spitzenposten werden unter den wichtigsten konfessionellen Gruppen aufgeteilt – die sich lange bekämpft haben. So soll der Präsident immer ein Christ, der Regierungschef ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit sein. Das Problem: Die politische Elite schachert sich seit Jahrzehnten gegenseitig die Posten zu und bereichert sich so auf Kosten der Bürger.
Anna Osius erklärt die Strukturen so: „Die Schiiten haben ihre Parteien, allen voran Hisbollah, die Sunniten, die Christen, die Drusen, die Maroniten. Das System ist unglaublich kompliziert, und an der grundsätzlichen Machtstruktur kann sich einfach wenig ändern, weil alle wichtigen Ämter sind vorab schon per Verfassung aufgeteilt. Das heißt, die Hälfte der Sitze im Parlament geht an die Muslime, die Hälfte an die Christen.
Zwei junge Mädchen mit Kopftuch sintzen inmitten einer verlassenen und schmutzigen Straße mit  geschlossenen Geschäften.
Die Hamra Street beherbergte einst die besten Kinos der Region, Geschäfte und Cafés. Heute zeigt sie die Mehrfachkrisen des Landes mit geschlossenen Geschäften und schmutzigen Straßen.© picture alliance / AP Photo / Hussein Malla
Der Präsident muss immer ein maronitischer Christ sein. Die Schiiten stellen immer den Parlamentspräsidenten, der Premier muss immer ein Sunnit sein. Das ist ein System, dea nach dem schlimmen Bürgerkrieg hier für Frieden sorgen sollte, weil einfach der Kuchen der Macht gerecht aufgeteilt wurde, unter den Kriegsparteien.“

Iran und Saudi-Arabien bauen Einfluss aus

Das führt heute dazu, dass sich die Mächtigen immer wieder gegenseitig Posten zuschieben, auch Korruption spielt eine große Rolle. Veränderungen sind nur sehr schwer möglich, selbst eine Katastrophe wie der Brand im Hafen von Beirut 2020 hat zwar viele Proteste, aber keinen echten Wandel gebracht.

Hinzu kommt, dass im Libanon die Hegemonialmächte der Region, Iran und Saudi-Arabien, um die Vormachtstellung ringen. Die Hisbollah hat eine große Anhängerschaft und fokussiert sich auf die Erzfeinde USA und Israel. Saudi-Arabien versucht, mit Geld zu locken, und kauft sich Medien vor Ort, die behaupten, die Rettung des Libanon sei für die Saudis so etwas wie „peanuts.“
Trotz der himmelschreienden Bilanz der derzeitigen Regierung ist kein Wechsel in Sicht. Es gibt Oppositionelle, aber die sind sich untereinander auch nicht einig. Allerdings könnte sich das perspektivisch ändern, meint Anna Osius:
„Es ist viel in Bewegung zurzeit. Es gibt viele junge Kandidaten oder Leute, die vorher nicht in der Politik waren und die jetzt sagen: Wir müssen was ändern. Ich habe gestern mit zwei Frauen gesprochen, die beide jetzt für das Parlament kandidieren, beide zum ersten Mal, weil sie einfach die Missstände in ihrem Land nicht mehr ertragen wollen.“

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