Carlo Strenger: "Diese verdammten liberalen Eliten - Wer sie sind und warum wir sie brauchen"
Suhrkamp, 2019
171 Seiten, 16 Euro
Viel geschmäht - aber unverzichtbar
09:37 Minuten
Die liberalen Eliten sind besser als ihr Ruf, meint der Psychologe Carlo Strenger. Ihr globales Denken helfe dabei, weltweite Probleme wie den Klimawandel zu lösen. Allerdings müssten sie lernen, besser zuzuhören.
Ihr Ruf ist nicht der beste. Aber ohne sie geht es auch nicht, wenn man globalen Problemen wie Klimawandel und Rechtsextremismus etwas entgegen setzen will. Die Rede ist von den liberalen Eliten.
Der Psychologe Carlo Strenger, Professor an der Universität Tel Aviv, hat ein Buch über diese Gruppe geschrieben, zu der auch er sich zählt – wie laut einer US-Studie übrigens über 90 Prozent der Sozial- und Geisteswissenschaftler: "Diese verdammten liberalen Eliten". Warum ist der Ruf dieser Eliten so schlecht?
"Die Fehler sieht man in den Medien tagtäglich: Das ist eine herablassende Tendenz, den anderen eigentlich überhaupt nicht zuzuhören – oder ihnen nur dann zuzuhören, um politisch korrekt zu sein", sagte Strenger im Deutschlandfunk Kultur.
Doch eines könne man den Eliten sicherlich nicht vorwerfen: Heuchelei. Ihre Verachtung brächten sie offen zum Ausdruck, wenn sie Meinungsäußerungen hörten, die "auf nichts" basierten – wie beispielsweise US-Präsident Donald Trumps Äußerungen zum Klimawandel, der angeblich eine Erfindung der Liberalen sei.
Die Eliten hören nicht gut zu
Fatal werde das Nichtzuhören der Liberalen dann, wenn es um Menschen gehe, die nicht zu den Eliten gehörten – wenn diese Menschen ihre Ängste vor Zuwanderung, vor dem Fremden und davor, ihre Kultur zu verlieren und sich in ihrer Heimat nicht mehr zuhause zu fühlen, formulierten.
Die Eliten sähen nicht, dass die kulturelle Angst genauso gravierend sei wie die ökonomische – und verlören den Kontakt zu den Menschen . "Dieses Nichtzuhören hat uns sehr viel gekostet", sagt Strenger. Denn aus verschiedenen Studien gehe klar hervor, dass diese Unsicherheit und Unzufriedenheit sehr empfänglich für den Rechtspopulimus mache.
Viele Probleme könnten gelöst werden
Warum die liberalen Eliten dennoch dringend gebraucht würden, liege aber ebenso auf der Hand: "Wir leben heute in einer Welt, in der alle größeren Probleme nicht von einzelnen Nationalstaaten gelöst werden können. Doch das Flüchtlingsproblem wird noch viel, viel größer werden, wenn der Klimawandel weitergeht. Es gibt so viele Probleme, die nur durch globales Denken gelöst oder auch nur angegangen werden können."
Wer Angst vor der Globalisierung habe, übersehe, dass es dabei auch um Dinge wie universelle Menschenrechte gehe. Hier setzten die liberalen Eliten wichtige Impulse. Deshalb plädiert Strenger auch dafür, schon Schülern beizubringen, wie alles mit allem zusammenhänge und ihnen ein tieferes Verständnis für die Wertstruktur der liberalen Eliten zu vermitteln. Die jungen Leute müssten verstehen, "dass, wenn diese Wertestruktur kaputt geht, unsere ganze Lebensweise in den westlichen Ländern, an die wir uns gewöhnt haben, in der wir leben, denken glauben und sprechen können, wie wir wollen, in Gefahr steht". (mkn)
Das Interview im Wortlaut
Axel Rahmlow: Sie wissen alles besser, sie sind in der Welt zu Hause und immer auf der Seite des Fortschritts, sie haben aber keine Ahnung, was echte Menschen für echte Probleme haben, weil sie sich in einer selbstgerechten Blase befinden und es sich dort gemütlich gemacht haben. Das sind die Eliten – gemeint sind damit oft zum Beispiel Wissenschaftler, Medienmenschen, Politikerinnen, gut ausgebildete Netzwerker, die sich für moralisch überlegen halten. Ich habe jetzt eine ganze Menge Klischees aufgelistet. Gerade jetzt, gut zwei Wochen vor der Europawahl sind die alle noch regelmäßiger als sonst zu hören, vor allem von rechten und linken Parteien, die gegen Europa als Projekt der Eliten schimpfen. Carlo Strenger hat ein Buch über sie geschrieben. Er ist Professor für Psychologie in Tel Aviv, und das Buch heißt "Diese verdammten liberalen Eliten". Herr Strenger, in Ihrem Buch steht, dass Sie die Eliten kennen aus Ihrer Arbeit in Ihrer therapeutischen Praxis. Sie schreiben auch, dass Sie selber dazugehören. Fühlt es sich gut an, Teil der Elite zu sein?
Strenger: Das könnte ich Sie genauso gut fragen, Sie gehören genauso dazu wie ich. Ich möchte nur etwas hinzufügen: Der Untertitel des Buches ist ja dann "Wer sie sind", also diese verdammten liberalen Eliten, "und warum wir sie brauchen".
"Ich wache nicht jeden Morgen auf und pinsele mir den Bauch"
Rahmlow: Zum zweiten Teil kommen wir später, warum wir sie brauchen, aber doch noch mal die Frage: Fühlen Sie sich denn wohl, Teil dieser Elite zu sein?
Strenger: Schauen Sie, ich bin zwar in einem westlichen Land aufgewachsen, aber in einer orthodox-jüdischen Familie, und ich habe mir meine Weltanschauung, die ich heute habe, die habe ich mir selber erarbeitet. So würde ich denken, auf die Art und Weise würde ich was dazu beibringen, dass die Welt am Schluss nicht an unseren eigenen Fehlern kaputtgeht. Ob ich jetzt jeden Morgen erwache und mir den Bauch pinsele und sage, ach Gott, ich gehöre Teil zur Elite – nein, das ist wirklich nicht die Hauptbeschäftigung in meinem Leben.
Rahmlow: Der Begriff ist ja auch relativ diffus. Sie sagen vor allem diese verdammten liberalen Eliten. Wer ist das denn überhaupt?
Strenger: Das ist eine Gruppe, die ich soziologisch ziemlich genau zu beschreiben versuche. Es ist eine sehr interessante Statistik, dass zum Beispiel in den Vereinigten Staaten über 91 Prozent der Sozial- und Geisteswissenschaftler sich als liberal und zumindest als unabhängig klassifizieren und fast keiner als konservativ. Das spiegelt sich wider im Medienwesen, es spiegelt sich im Hightech, es spiegelt sich wider in allen Gebieten, in denen vor allen Dingen intellektuelles Engagement da ist, und aus Gründen, die übrigens verständlich sind, sind diese Menschen dann meist sehr liberal orientiert. Man darf sie keinesfalls in dieselbe Kategorie setzen wie Menschen vor allem im Finanzwesen, deren Weltanschauung oft recht anders ist.
Rahmlow: Warum haben Sie sich dann vor allem auf diese liberalen Eliten so konzentriert, wenn Sie sagen, es gibt ja auch noch eine andere Elite, und die steht nun auch oft genug in der Kritik?
Strenger: Das stimmt, aber die Kritik am Finanzwesen, vor allem mit der Katastrophen, die sich da aufgebaut haben, seitdem Reagan und Thatcher in den 80er-Jahren den Finanzmarkt so enorm liberalisiert und dereguliert haben, handelt es sich um eine Gruppe, die ein sehr starkes Sozialgewissen hat, die sehr am Wohle der Menschen sowohl im eigenen Land als auch überhaupt interessiert sind, und dann kommt immer wieder das Paradox, dass die gerade von denjenigen Bevölkerungsschichten, die eigentlich von dieser Weltanschauung am meisten profitieren könnten, diese Eliten verachten, oft hassen. Es war mir wichtig, erstens einmal ein ausgeglicheneres Porträt dieser Gruppe zu zeichnen oder zu malen und auch uns – ich zähle mich eindeutig dazu – zu erklären, was machen wir falsch, dass gerade diejenigen, die in uns einen Teil der Lösung ihrer Probleme sehen könnten, uns überhaupt nicht mehr nicht nur nicht schätzen, sondern meist missachten.
Die Fehler der liberalen Elite
Rahmlow: Und was ist es, dass diese liberale Elite falsch macht? Was sind da die Fehler, auf die Sie gestoßen sind?
Strenger: Die Fehler, die sieht man in den Medien tagtäglich, und es ist eine herablassende Tendenz, den anderen eigentlich überhaupt nicht zuzuhören oder ihnen nur dann zuzuhören, um politisch korrekt zu sein.
Rahmlow: Herr Strenger, das heißt, wenn – und dieser Vorwurf kommt ja oft –, wenn dieser Elite, dieser liberalen Elite Heuchelei vorgeworfen wird, dann würden Sie sagen, da ist schon was dran.
Strenger: Nein, nein, im Gegenteil. Die liberalen Eliten geben ja wirklich der Verachtung, die sie empfinden, wenn sie Ansichten haben, die einfach auf nichts basiert sind … Nehmen wir einfach mal das einfachste Beispiel: Wenn Trump sagt, dass Klimawandel ein Mythos sei, wo heute ein kompletter Konsensus in der wissenschaftlichen Welt da ist, dass die Klimawandlung, erstens, sichtbar ist, zweitens, immer schlimmer werden wird und, drittens, unser ganzes Ökosystem kaputtmachen wird, und wenn Trump dann einfach sagen kann, das ist eine Erfindung der Liberalen, wir sollten zwar solche Aussagen zu Recht kritisieren, aber auch wenn uns dann Menschen erzählen, dass sie sich in ihrem eigenen Land nicht mehr zu Hause fühlen, weil sie das Gefühl haben, dass es jetzt überflossen wird von Menschen von anderen Ethnien, Religionen, Rassen und so weiter, dann hören wir auch nicht zu, das heißt nicht nur nicht den Politikern, die ganz bewusst lügen, auch den Menschen, die einfach ihren Grundgefühlen Ausdruck geben. Dieses Nichtzuhören hat uns sehr viel gekostet.
Rahmlow: Da geht es doch auch um die Frage, ob diese Eliten tatsächlich eigentlich so liberal sind. Also wenn wir gerade an Ihrem Beispiel mal ein bisschen weiterdrehen, viele Menschen verstehen nicht, warum andere Menschen, die in der Provinz leben, in kleinen Städten, gegen Flüchtlingsheime protestieren, aber dann in der großen Stadt schicken sie ihr eigenes Kind auch nicht auf eine Schule, wo sehr viele Migrantenkinder sind.
Strenger: Erstens, kenne ich da keine Statistik und kann Ihnen nicht sagen, ob das stimmt oder nicht, also das müssten Sie wissen, ich weiß nicht, wie die Situation in Deutschland ist in der Hinsicht. Ich glaube, noch mal, die Tendenz im Moment, diese liberalen Eliten einfach als Heuchler, als Karrieristen und als Menschen abzutun, die sich furchtbar überlegen fühlen, das ist ein sehr einseitiges Bild.
Liberales Denken und globale Werte als Schulfach?
Rahmlow: Absolut, aber die Frage ist ja dann, wenn dieses Bild so einseitig ist, inwieweit haben die Eliten da selber schuld mit dran?
Strenger: Ja, unter anderem, weil sie nicht genug – so witzig das tönt –, weil sie Forschungsergebnissen nicht gut genug zuhören. Zum Beispiel wissen wir heute – und ich betone das in dem Buch mehrere Male –, dass einer der wichtigsten Faktoren, die Menschen dazu bringen, zu rechtspopulistischen Parteien zu gehen und die nachher auch zu wählen, ist, dass sie wirklich das Gefühl haben, dass sie keine Heimat mehr haben, dass ihre Kultur in Gefahr ist, ihre grundlegende Lebensweise, und da die liberalen Eliten diese Lebensweise normalerweise nicht teilen und nicht sehen und oft nicht verstehen wollen, dass diese kulturelle Angst genauso tief ist wie die ökonomische Angst, dann verlieren wir den Kontakt mit diesen Menschen.
Rahmlow: Der Untertitel Ihres Buches ist "Wer sie sind und warum wir sie brauchen." "Wer wir sind" haben wir schon besprochen. Jetzt sagen Sie uns, warum wir sie dann trotzdem brauchen.
Strenger: Wir leben heute in einer Welt, in der alle größeren Probleme nicht von einzelnen Nationalstaaten gelöst werden können: Das Flüchtlings- und Migrantenproblem wird nur viel, viel größer werden, wenn der Klimawandel weitergeht, es gibt so viele Probleme, die durch globales Denken nur gelöst werden oder auch nur angegangen werden können. Aber es geht nicht nur darum. Ich stehe ja ganz hinter den universalistischen Werten dieser Elite und identifiziere mich sehr stark damit.
Rahmlow: Sie schreiben aber auch, und Sie plädieren, Herr Strenger, zu einer umfassenden Erziehung zur Freiheit. Was heißt das denn?
Strenger: Viele Kommentatoren gehen ja immer wieder darauf zurück, dass diejenigen Menschen, die Angst vor der Globalisierung haben, oft nicht genau begreifen, was überhaupt die Idee über Menschenrechte und ihre Implementierung in Nationalstaaten und auch als Basis des internationalen Rechts, wie enorm wichtig das ist, und das kann beigebracht werden. Wenn Sie mich fragen, kann man das schon nach der Sekundarstufe machen. Um wirklich sinnvoll frei sein zu wollen und zu können, muss man ein tieferes Verständnis für diese Wertstruktur haben und auch verstehen, dass wenn die kaputtgeht, unsere ganze Lebensweise, an der wir uns in westlichen Ländern jetzt doch länger gewöhnt haben, in der wir so leben, glauben, denken und sprechen können wie wir wollen, in Gefahr steht, und ich denke, dass insofern die Erziehung zur Freiheit eine existenzielle Notwendigkeit ist für ein liberales Gemeinwesen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.