Liberale islamische Theologie in der Türkei

Professor Öztürk gibt auf

07:41 Minuten
Eine historische Seite aus dem Koran aus dem 15. Jahrhundert. Museum Topkapi, Istanbul.
Wie nah an Gottes Wort ist der Koran? Ein Engel nähert sich dem Propheten Mohammed am Berg Hira, dargestellt auf einer Miniatur aus dem 15. Jahrhundert. © imago images / Leemage
Von Susanne Güsten |
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Nicht alle Muslime glauben, dass der Koran wortwörtlich von Gott stammt. Besonders in der Türkei ist eine andere Auslegung entstanden. Doch sie wird von Islamisten bekämpft – ein prominenter Theologe hat deshalb seine Professur zurückgegeben.
Ein Video macht Furore in der Türkei - es ist heimlich aufgenommen und zeigt einen Mann von schräg unten, als wäre er ein Gauner bei einem Verbrechen. Dabei ist es ein Universitätsprofessor bei der Arbeit: Mustafa Öztürk, Professor für islamische Theologie, im Gespräch mit seinen Doktoranden.
Im Koran gebe es einige Passagen mit derben Flüchen, sagt Öztürk und liest einen solchen Vers vor, um dann anzufügen: "Ist das wirklich die Sprache Gottes? Oder nicht doch eher menschliche Sprache?"

Sturm der Entrüstung in sozialen Medien

Hätte Mustafa Öztürk in dem Video tatsächlich einen Bankraub geplant oder ein Attentat, wäre er wahrscheinlich besser davongekommen als mit dieser Äußerung. Einen Sturm der Entrüstung lösten seine Worte aus, als der Clip sich in den sozialen Medien verbreitete – heftig aufgepeitscht durch konservative Geistliche wie Cübbeli Ahmet, einen populären Prediger der Ismailaga-Bruderschaft mit Millionen Anhängern auf Facebook und Twitter.
Er erklärte: "Der Mann untergräbt unseren Glauben, und das im Gewand eines Professors! Er lästert über den Koran, er behauptet, er sei nicht von Gott geschrieben. Ich warne seit Jahren vor ihm, denn es war absehbar, dass er irgendwann Gott selbst angreifen würde. Wir dürfen uns das nicht bieten lassen. Ich rufe das Religionsamt auf: Worauf wartet ihr noch? Wie weit soll der Mann noch gehen, bis ihr ihn endlich absetzt?"
Der Videoclip lieferte den Bruderschaften einen willkommenen Anlass für eine Kampagne gegen Öztürk, der an der renommierten Fakultät für Theologie der staatlichen Marmara-Universität in Istanbul lehrte und durch Zeitungskolumnen und Fernsehtalkshows bekannt ist.

Offenbarung für viele wortwörtlich von Gott

Denn mit seiner Bemerkung über die Sprache des Koran stellte der Theologe eine fundamentale Auffassung vieler Muslime über die Offenbarung infrage, wie der Islam-Experte und Autor Mustafa Akyol erläutert:
"Nach Auffassung der meisten Muslime hat Gott dem Propheten bestimmte Worte diktiert, durch einen Engel oder auch ohne Vermittler – demnach sind dies wortwörtlich die tatsächlichen Worte Gottes. Öztürk vertritt eine alternative Sichtweise, die in der islamischen Tradition existiert, aber selten ist. Sie besagt, dass Gott den Propheten inspiriert hat, und dass der Prophet diese Inspiration in Worte gefasst hat, mit seiner eigenen Sprache und Psychologie, seinem Kontext und seiner Kultur."
In den konservativen Medien der Türkei und im Internet begann eine regelrechte Hetzjagd auf Öztürk. Mit Tausenden Tweets forderten Anhänger der Bruderschaften die sofortige Amtsenthebung des Hochschullehrers, manche Nutzer bedrohten ihn. Das staatliche Religionsamt schwieg sich aus und sah der Treibjagd zu, ohne einzugreifen.

"Ihr könnt alles haben, ich bin weg"

Öztürk war Anfeindungen nicht zum ersten Mal ausgesetzt, doch diesmal gab er sich geschlagen. Er legte seine Professur nieder und trat zurück. Im Interview mit der kritischen Internetplattform Medyascope verteidigte er seine Entscheidung:
"Was ist, wenn nun ein Verrückter kommt, der von dieser Kampagne aufgeputscht ist und ins Paradies kommen will, indem er Mustafa Öztürk auslöscht? Meine Kinder brauchen mich, meine Familie braucht mich. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut, ich halte das nicht mehr aus. Und deshalb sage ich: Bitte sehr, ich gehe ja schon, ich räume das Feld – ihr könnt alles haben, ich bin weg."
Er werde jetzt angeln gehen, erklärte Öztürk, und sich fortan aus theologischen Debatten heraushalten.
Islam-Experte und Autor Mustafa Akyol.
Immer weniger Raum für Meinungsfreiheit: Der Publizist Mustafa Akyol hat den Eindruck, dass alternative Ansichten über den Islam in der Türkei zunehmend unterdrückt werden.© Mustafa Akyol
Ein Verlust für die Theologie in der Türkei, sagt Autor Akyol, der in seinem neuen Buch "Reopening Muslim Minds" für eine neue islamische Aufklärung plädiert:
"Öztürk ist ein interessanter Theologe, weil er die Grenzen für Reform im Islam weitet. Er ist ein Vertreter des sogenannten Historismus: Demnach sind die islamische Tradition, der Koran und die Hadithe, die Überlieferungen des Propheten, in einem bestimmten historischen Kontext entstanden - und heute, da wir in einem ganz anderen historischen Kontext leben, könnten wir den Koran, die Hadithe und die islamische Rechtsprechung neu interpretieren. Manche stimmen dem zu, manche nicht - aber Mustafa Öztürk erweiterte die Grenzen."

Historisch-kritische Interpretation unter Druck

Allein war Mustafa Öztürk damit nicht. Der Professor zählt zu einer Reihe von türkischen Theologen, die für eine historisch-kritische Interpretation des Koran eintreten – eine Strömung, die als "Schule von Ankara" bezeichnet wird, weil sie einst an der theologischen Fakultät von Ankara entstand. Heute reicht sie bis nach Deutschland: Einer ihrer Vertreter, Ömer Özsoy, lehrt als Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt.
Doch in der Türkei selbst schrumpft der Freiraum für Meinungsvielfalt seit Jahren. Von einem traditionsreichen Theologen-Symposium in Istanbul wurden Ömer Özsoy und ein weiterer Vertreter der Schule von Ankara vor zwei Jahren kurzfristig ausgeladen, weil es Proteste und Drohungen gab.
Mustafa Öztürk konnte damals noch auftreten. Im Schlusswort seines Vortrags wandte er sich mit einer Warnung an das Publikum:
"Wenn das so weitergeht in diesem Land mit der Intoleranz und Anmaßung, wenn der Staat hier nicht eingreift, dann werden wir denselben Weg gehen wie Afghanistan und Pakistan. Dann werden sich die Muslime hier gegenseitig an die Kehle gehen. Der Staat muss klarstellen, dass dieses Land nicht den Scheichs und Bruderschaften gehört, er muss diese Leute stoppen, die glauben, dass sie die Theologie, das Religionsamt, den Staat und den Glauben gepachtet haben. Der Staat muss die Stimmenvielfalt dieses Landes schützen und bewahren, er muss diese faschistoide Hetze stoppen."
Doch Öztürk konnte die Hetze nicht aufhalten, und nun fiel er ihr selbst zum Opfer.

Alternative Sichtweisen zum Schweigen gebracht

Der Autor Mustafa Akyol fühlt sich an Fälle wie den des ägyptischen Koranwissenschaftlers Nasr Hamid Abu Zaid erinnert, der in den 1990er-Jahren der Apostasie bezichtigt und mit dem Tod bedroht wurde:
"Dieses Ereignis ähnelt leider anderen Vorfällen, die wir in den letzten Jahrzehnten in der muslimischen Welt gesehen haben, wo Menschen, die die traditionelle Sichtweise des Islam kritisieren, verurteilt und zum Schweigen gebracht werden. In Ägypten war das besonders extrem, auch in Saudi-Arabien und im Iran nimmt dies sehr düstere Formen an."
In der Türkei sei es noch nicht ganz so schlimm. "Öztürk ist, Gott sei Dank, nicht tätlich angegriffen worden", sagt Akyol. Doch leider fördere "die populistische islamistische Welle unter Staatspräsident Erdogan" eine besorgniserregende Tendenz, alternative Ansichten über den Islam auch in der Türkei zum Schweigen zu bringen. "Wir sind noch nicht ganz da, aber es geht in diese Richtung."
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