Liberalismus und Liberalität

Auch Mitgefühl ist vernünftig!

Auf mehrere Hände gemalte rote Farbe stellt ein Herz dar. (Symbolfoto)
Das Mitgeühl ist tief in der Vernunft verankert, argumentiert Jörg Phil Friedrich. (Symbolfoto) © Unsplash / Tim Marshall
Ein Standpunkt von Jörg Phil Friedrich · 04.01.2022
Die liberale Gesellschaft beruht auf individueller Freiheit, kann kollektive Einschränkungen nur schwer rechtfertigen. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn man Mitgefühl als Teil menschlicher Vernunft sieht, meint der Philosoph Jörg Phil Friedrich.
Die menschliche Vernunft zeichnet aus, dass sie sowohl die Freiheit als auch das Mitgefühl kennt. Ein Mensch weiß, dass er sich frei Ziele setzen kann, dass er nach Mitteln suchen kann, diese Ziele zu erreichen, und dass er diese Mittel praktisch nutzen kann, um ans Ziel zu kommen.
Das Ziel selbst muss dabei keineswegs vernünftig sein in dem Sinne, dass es selbst wieder Mittel zu einem Zweck ist. Man kennt das befriedigende Gefühl, ein selbst gesetztes Ziel erreicht zu haben, genauso wie die Unzufriedenheit, wenn das Ziel verbaut und unerreichbar ist – das ist die Unfreiheit.
Alle komplizierten philosophischen Begriffe von Freiheit müssen letztlich an dieser persönlichen Erfahrung ansetzen oder sie zumindest als zentrales Element beschreiben.

Nicht nur Freiheitsdrang in der Vernunft verankert

Neben dem Freiheitsdrang ist aber auch das Mitgefühl mit dem anderen tief in der menschlichen Vernunft verankert. Wir bemerken oft, dass das Leiden eines anderen uns innehalten lässt, und es belastet uns, wenn das eigene Tun jemanden in Gefahr oder ins Unglück führt.
Man kann vermuten, dass das Freiheitsgefühl und das Mitgefühl zusammengehören. Sei es, weil ich in dem Menschen, der unter seiner Unfreiheit leidet, mich selbst in meiner möglichen Unfreiheit erkenne. Oder sei es, dass ich meine frei gesetzten Ziele nur in einer Gemeinschaft mit anderen erreichen kann und deshalb wünsche, dass auch andere frei sind. Wer gern musiziert oder Fußball spielt, weiß, dass die Befriedigung im Spiel nur durch die gemeinsame Freude entsteht.
Nicht an der Freiheit des anderen findet meine eigene Freiheit ihre Grenze, wie oft gesagt wird, sondern an dem Mitgefühl mit dem anderen, den ich mit meinem Freiheitsstreben womöglich einenge, beschränke oder verletze. Wer Freiheitsstreben ohne Mitgefühl denkt, braucht Hilfskonstruktionen wie eine „kollektive Freiheit“ oder gar „kollektive Ziele“, mit denen dann die angeblich egoistische Freiheit des Einzelnen beschränkt und beschnitten werden müsste.

Konstruktion "kollektiver Freiheit" erübrigt sich

Bei solchen kollektiven Freiheiten bleibt aber immer das Problem, dass es eine Instanz geben muss, die festlegt, was die kollektiven Ziele und Interessen sind. Wo die Menschengruppen zu groß werden, um dies tatsächlich in dem davon betroffenen Kollektiv auszuhandeln, wird der Willkür, der Überredung und womöglich der Diktatur unter dem Vorwand angeblicher Ideale und großer Ziele die Tür geöffnet.
Die Idee einer kollektiven Freiheit brauchen wir nicht, wenn wir uns darauf besinnen, dass dem Menschen Mitgefühl und Gewissen innewohnt. Wer möchte Freiheiten, wenn ihm sein Gewissen sagt, dass andere, konkrete Menschen konkret unter seinem Freiheitsstreben leiden müssen?
Natürlich gibt es Egoisten, denen es gelingt, ihr Mitgefühl zu unterdrücken und ihr Gewissen zum Schweigen zu bringen. Aber die sind eine Minderheit. Das kann man schon daran merken, dass man kaum jemanden kennt, der wirklich egoistisch ist.
Meist zeigt selbst bei denen, die man erst für Egoisten hält, dass auch sie Mitgefühl empfinden und sich in ihren Entscheidungen davon leiten lassen. Und wenn einer sein Gewissen aktiv zu unterdrücken vermag, dann oft nur, weil er meint, nur so ein gesetztes Ziel erreichen zu können.

Individuelles Freiheitsstreben nicht abwerten

Aber da Mitgefühl zur menschlichen Vernunft gehört wie die Freiheit, meldet es sich bei fast jedem, wenn es um konkrete Menschen mit konkretem Leiden geht. In einem solchen Moment wird sichtbar, wie die eigene Freiheit mit dem Leid des anderen zusammenhängt.
Deshalb ist es abwegig, das Streben nach individueller Freiheit verächtlich zu machen oder sich komplizierte Freiheitsbegriffe auszudenken, die nichts anderes provozieren als Abwehr. Und es ist auch überhaupt nicht notwendig. Der mitfühlende Mensch kann seine Freiheit nur genießen, wenn es den anderen dabei nicht beschränkt.

Jörg Phil Friedrich, geboren 1965, ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts der Philosophie. Er ist Mitbegründer des Softwarehauses INDAL in Münster und lebt bis heute von der Softwareentwicklung und vom Schreiben philosophischer Texte. Zuletzt erschien sein Buch „Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?“ (Alber 2019).

Porträtaufnahme von Jörg Phil Friedrich.
© Heike Rost

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