Drei Jahre nach Gaddafi
Vor drei Jahren griff die Nato in Libyen ein. Die Intervention führte zum Sturz von Muammar al-Gaddafi, Milizen übernahmen die Macht. Im Land herrschen weiterhin Gewalt und Chaos.
Der Märtyrerplatz im Zentrum von Tripolis liegt in der Abendsonne. Ashraf Attay steuert sein kleines Taxi vorbei an einigen Ständen, an denen Sonnenbrillen und Hausrat verkauft wird. Geradeaus das Mittelmeer und der Hafen von Tripolis. Die Kämpfe zwischen den verfeindeten Milizen konzentrieren sich um den Flughafen, etwas außerhalb der Stadt. Im Zentrum versuchen die Libyer Normalität zu leben.
Der Märtyrerplatz - hier wandte sich Muammar al-Gaddafi noch kurz vor Ende seiner über 40-jährigen Herrschaft an sein Volk und hier versammelten sich die Aufständischen, nachdem sie Tripolis im August 2011 eingenommen hatten. Heute - drei Jahre später - prangt an einer Hauswand ein großes Transparent mit dem Aufruf sich in der jungen Demokratie zu beteiligen. Ein zähes Unterfangen. Hat das Übergangsparlament, das die Libyer im Sommer 2012 gewählt haben, doch kaum Erfolge produziert. Nun - am 25. Juni - der zweite Wahlgang. Anfang August hat das neue Parlament die Arbeit aufgenommen - in einer Zeit, in der das Land am Rande des Bürgerkriegs steht.
Ashraf Attay lenkt sein Taxi ein Stück die Küstenstraße hinauf. An den Hauswänden immer wieder Graffiti, mit Fratzen des ehemalignen Diktators - bei vielen ist das Gesicht Gaddafis durchlöchert von Gewehrschüssen. Attay parkt am Rande eines kleinen Marktes.
Wir haben für die Freiheit gekämpft
Auf einer Bank an einer ruhigen Ecke wartet Mahmud. Ein Ingenieur, Mitte 30 und Fachmann für den Bau von Krankenhäusern. Auch er war wählen am 25. Juni. Er ist Teil der Generation, die nie etwas anderes kannte als Diktatur; und einer derer, die im Kampf gegen Gaddafi den Neuanfang suchten.
"Ich habe mit den Menschen, die für Freiheit waren, gegen Muhammad al-Gaddafi gekämpft. Es ging uns nicht ums Geld, Geld ist nicht alles. Wir haben für die Freiheit gekämpft. Ich möchte auf der Straße, im Fernsehen oder mit meinen Freunden sagen dürfen, was ich will. Niemand soll mich verfolgen, niemand soll damit drohen, dass die Polizei zu mir nach Hause kommt, weil da etwas ist, das ihnen nicht gefällt."
Niemand will Gaddafi zurück, sagt Mahmud. Der Staatsterror ist nicht vergessen, doch dem Sturz des Diktators folgte nicht die Freiheit. Libyen ist heute ein zerfallender Staat, die Zentralregierung hat kaum Einfluss. Das Land, und selbst die Hauptstadt Tripolis, wird beherrscht von Milizen.
"In Libyen wird überall gekämpft. Um den Flughafen kämpfen Anhänger der Zintan-Milizen und Anhänger der Misrata-Milizen. Beide wollen den Flughafen kontrollieren."
Der Flughafen ist seit Mitte Juli Hauptschauplatz der Kämpfe in Tripolis. Kein ganz neues Phänomen. Seit dem Sturz Gaddafis war er nie in der Hand der Regierung. Die sogenannten Zintan-Milizen halten ihn seit der Revolution als Faustpfand. Die Kämpfer aus dem Westen des Landes verstehen sich zwar als gemäßigt und regierungsnah, in reguläre Sicherheitskräfte ließen sie sich aber nie einbinden.
Ihre Gegner sind Kämpfer aus der gut 200 Kilometer östlich von Tripolis gelegenen Stadt Misrata. Eine Miliz, die den Muslimbrüden und anderen islamistischen Gruppen nahesteht. Bei der Parlamentswahl am 25. Juni hatten sie deutlich an Zustimmung eingebüßt, der Angriff auf den Flughafen der Hauptstadt kann auch als Versuch verstanden werden, den politischen Machtverlust durch militärische Stärke zu kompensieren.
Pulverfass Libyen
Libyen ist seit der Revolution zu einem Pulverfass geworden. Im Machtvakuum nach der Diktatur gilt das Recht des militärisch Stärkeren, sagt Ingenieur Mahmud und schüttelt ernüchtert den Kopf.
"Zu Gaddafis Zeiten gab es keine Gewehre in den Straßen und keine Gewehre in den Läden. Niemand hat dein Auto vor deinen Augen gestohlen. All das ist nun Alltag in Libyen."
Neben Tripolis wird vor allem im Osten, um die Stadt Bengasi heftig gekämpft. Der ehemalige General Haftar führt dort einen eigenmächtigen Krieg gegen islamistische Kräfte und die Al-Kaida-nahen Ansar al-Scharia-Milizen. Gleichzeitig ist Haftar zur Gefahr für die Zentralregierung geworden.
Ashraf Attay fährt mit seinem Taxi weiter die Küstenstraße entlang. Vorbei an Warteschlangen vor den Tankstellen, seit Beginn der Kämpfe ist Benzin Mangelware. Vorbei an Checkpoints: junge Männer am Rand der Straße, Maschinengewehre über der Schulter. Die Durchfahrt haben sie mit Betonblöcken so verengt, dass die Autos einzeln vorbei fahren müssen.
Während in Tripolis und im Osten gekämpft wird, versuchen demokratische Kräfte das Land zu stabilisieren. Da ist zum einen die im Februar gewählte verfassungsgebende Versammlung. Sie hat allerdings kaum Fortschritte zu vermelden und arbeitet nun ohne direkte Unterstützung der Vereinten Nationen, weil die UN ihr gesamtes Personal evakuiert hat. Zum anderen versucht das im Sommer neu gewählte Parlament das Land in die Normalität zu führen. Allerdings ist der Einfluss der Parlamentarier fraglich. Haben sie doch jüngst ihren Sitz aus der Hauptstadt verlegt - nach Tobruk in den Osten - nahe der ägyptischen Grenze.
Hier in Tripolis war es durch die Milizen zu gefährlich. Auch viele Botschaften haben ihre Mitarbeiter evakuiert. Sie waren untergebracht in Palm City - direkt am Mittelmeer-Strand - im Vorort Janzour. Der Eingang zu der Residenz ist noch immer streng bewacht. Sicherheitskräfte durchsuchen die Unterseite des Taxis mit einem Spiegel nach Sprengsätzen, bevor das Taxi hinein fahren kann.
Ein Land mit enormem Potenzial
Debbie Hirst hat sich hier eingemietet. Die US-Amerikanerin ist direkt nach der Revolution nach Libyen gekommen. Sie will Geschäfte machen. In ihrem geräumigen Appartement läuft die Klimaanlage. Sie setzt sich, vor sich ein Glas kalte Cola.
"Libyen hat riesige Öl- und Mineralienvorkommen und Libyen hat einen enormen Investitionsstau aus den 40 Jahren unter Gaddafi. Gleichzeitig braucht das Land alles: Kraftwerke, Gebäude, Einkaufszentren, Fabriken. Und zumindest theoretisch haben die Libyer dank der Öl-Einnahmen das Geld, um für all das zu zahlen."
Libyen hat enormes Potenzial, da ist sich Debbie Hirst sicher, vorausgesetzt die Kämpfe lassen sich befrieden. Die tragende Säule der libyschen Wirtschaft ist die Öl- und Gasförderung. Bis 2013 stellte sie etwa 99 Prozent der Exporte, 97 Prozent der Staatseinnahmen und 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts dar. Im vergangenen Jahr änderte sich dies abrupt.
"Die verschiedenen regionalen Kräfte blockieren die Produktion in den Ölfeldern, die Ölfirmen verdienen kein Geld mehr. Die fragile Regierung Libyens hat noch immer keinen Haushalt verabschiedet, alle Firmen, die auf Regierungsverträge angewiesen wären, können ebenfalls nicht arbeiten."
Die Produktion von Öl ist binnen eines Jahres auf ein Zehntel der vorherigen Summe geschrumpft. Die Folgen für den Staatshaushalt sind verheerend. Das Budget schrumpfte mit einem Schlag um mehr als 20 Prozent. Die gerade erst angehobenen Gehälter für Staatsbedienstete und Sicherheitskräfte konnte die Regierung keinesfalls senken, die Proteste wären enorm gewesen. Es blieb nur, die Investitionen um mehr als 50 Prozent zurückzufahren.
Debbie Hirst schaltet den Fernseher an. Der englische Kanal von Al Jazeera, ein in Katar produziertes Programm, berichtet über die Kämpfe wenige Kilometer von ihrer Wohnung entfernt.
Die Geschäftsfrau geht zum Kühlschrank, holt eine weitere Dose Cola. Libyens Wirtschaft befindet sich in einer rasanten Abwärtsspirale, meint sie, und setzt sich. 2013 schrumpfte das Bruttosozialprodukt um knapp zehn Prozent, 2014 könnten es laut Weltbank-Prognosen weitere zehn Prozent sein.
Die Macht der Milizen
Alles steht und fällt mit dem Öl, sagt Debbie Hirst. Die Ölblockaden wurden vor einigen Wochen nach langen Verhandlungen beendet, derzeit steigt die Produktion wieder. Wie lange weiß niemand. Die Milizen, die die Gebiete mit den Ölfeldern beherrschen, können jederzeit neue Blockaden verhängen. Die Regierung um Ministerpräsident Maitiq ist nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich enorm abhängig vom Treiben der Milizen. Etwas, das Debbie Hirst auch bei den Geschäften im Alltag erlebt.
"Man braucht eine Menge Lizenzen, es ist anstrengend die einfachsten Dinge zu machen. Die Gesetzgebung ist im Fluss und verändert sich ständig. Und dann sind da die Sicherheitsfragen. Wenn in Tripolis gekämpft wird, dann sind die Büros geschlossen. Jeder Schritt braucht einfach sehr lange."
Trotzdem glaubt die Geschäftsfrau an Ihre Chance und an die Chance Libyens. Ein paar Jahre einigermaßen stabiler Verhältnisse, sagt sie, dann stehen die großen Konzerne Schlange. Die Verlockung der enormen Ressourcen ist einfach viel zu groß.
Von Libyen nach Europa
Der Sturz von Muammar al-Gaddafi hat nicht nur in Libyen zu drastischen Umbrüchen geführt. Auch für die Europäische Union hat sich einiges verändert. Jahrelang war Gaddafi für Europa das Bollwerk, das Flüchtlingen den Weg versperrte. Inzwischen ist die Küste Libyens für mehr Menschen denn je der Startpunkt mörderischer Überfahrten in Richtung Europa. Das Chaos nutzt den Menschenschmugglern. In Libyen beginnen die Dramen, die auf hoher See enden. Die Dramen der Wüste passieren lange zuvor, weit im Landesinneren.
Ghadames, eine kleine Stadt in der Sahara, etwa 600 Kilometer von Tripolis entfernt. 13.000 Menschen leben hier, die unzähligen Flüchtlinge, die nach ihrer langen Reise durch die Wüste hier stranden, nicht mitgezählt. Auf den Bordsteinen sitzen sie in langen Reihen. Lami ist einer von Ihnen. Der 20-Jährige kommt aus Gambia. Er steht auf, geht ein paar Schritte in einen Hinterhof. Hier, hinter dem Gebläse der Klimaanlage eines kleinen Ladens, traut er sich zu sprechen.
"Wir sind durch die Sahara gekommen, zwei Wochen haben wir dazu gebraucht und es war verdammt hart. Und nicht nur das. Wir sind Kriminellen begegnet, die uns alles genommen haben. Seit zehn Tagen bin ich jetzt hier in Ghadames."
Die Stadt in der Wüste ist Teil einer uralten Handelsroute. Über Jahrhunderte zogen Karawanen von hier aus in Richtung Timbuktu in Mali. Heute werden die Routen von den Flüchtlingen genutzt, auf dem Weg Richtung Norden.
Die Menschenrechtslage in Libyen ist katastrophal. Rechte von Flüchtlingen kennt die libysche Gesetzgebung nicht und selbst wenn, hier in der Wüste würde sie niemand kontrollieren. Noch viel mehr als für Libyer gilt für Lami und die anderen Flüchtlinge: Sie sind abhängig von der Willkür der Milizen, die nicht davor zurückschrecken, Probleme notfalls mit unmenschlichen Methoden zu lösen.
"Vor dem Ramadan waren hier unzählige Flüchtlinge. Wenn sie dich erwischt haben, haben sie deine Ohren mit einem gelben Stift markiert und dich zurück in die algerische Wüste gebracht. Dort haben sie unsere Brüder aus Gambia und Nigeria getötet."
Ghadames ist nur eine Zwischenstation sagt Lami immer wieder. Seine Zukunft, und davon ist er überzeugt, liegt in Europa.
"Meine Familie ist arm und ich möchte ihr auf jeden Fall helfen. Im Moment ist mein Plan nach Tripolis zu gehen und dann weiter nach Italien."
Die Spannungen zwischen den Libyern und den Flüchtlingen steigen, seit die Probleme in Ghadamis zunehmen. Der Westen Libyens ist seit der Revolution 2011 vergleichsweise ruhig geblieben. Trotzdem ist auch hier, weit ab der Hauptstadt, mitten in der Sahara, nichts mehr wie früher.
Abgeschnitten vom Rest der Welt
Mansour geht durch die Altstadt von Ghadames - kleine weiße Lehmhäuser, die wabenförmig ineinander verflochten sind. Sie sind Mansours Arbeitsplatz. Kein Mensch ist zu sehen - schon seit den 80er wohnt niemand mehr in der historischen Altstadt von Ghadames. Sie gehört zum Weltkulturerbe. Gaddafi ließ sie zu Ehren der libyschen Kultur immer wieder restaurieren. Die Schätze der libyschen Geschichte nutzte er zur anti-westlichen Agitation und um eine libysche Identität zu propagieren.
Jetzt - seit der Revolution, sagt Mansur, interessiert sich niemand mehr für das Weltkulturerbe in der Wüste.
Jetzt - seit der Revolution, sagt Mansur, interessiert sich niemand mehr für das Weltkulturerbe in der Wüste.
"Vor der Revolution ging es den Leuten hier gut. Aber seit der Revolution haben wir das Gefühl, dass wir abgeschnitten sind vom Rest Libyens und auch vom Rest der Welt. Wir hoffen, dass dieser Zustand nur für einige wenige Jahre so andauern wird."
Flüge in die Wüstenstadt wurden eingestellt, der Landweg durch die Sahara ist von Milizen kontrolliert. Ob man durchkommt, hängt von der Situation ab. So fühlen sich die Menschen von Ghadames allein gelassen. Die Libyer haben sich immer als ein Volk verstanden, sagt Mansour und schüttelt langsam den Kopf. Nun sind sie gespalten.
"Die Menschen hier waren immer Freunde. Viele haben gemeinsame Vorfahren und auch wenn die Familien getrennt wurden, sind doch alle Brüder geblieben. Das ist ein wichtiger Teil des Systems hier. Wir respektieren einander, ob man nun zur gleichen Volksgruppe gehört oder nicht."
Zwar nutzte Gaddafi die verschiedenen Volksgruppen immer wieder für seine Zwecke, trotzdem lebten sie über Jahrzehnte friedlich nebeneinander. Zu klar waren die Machtstrukturen, zu stark die Propaganda. Nun sind zwischen verschiedenen Regionen, zwischen gemäßigten Muslimen und radikalen Islamisten Konflikte aufgebrochen.
Ein Land am Abgrund
Libyen steht vor einem offenen Bürgerkrieg, der nicht nur das Land selber an den Abgrund bringen würde, sondern auch das Potenzial hätte die gesamte Region zu destabilisieren. Tunesien hat gerade seine Grenze zu Libyen geschlossen und Ägypten kämpft vergeblich gegen den Waffenschmuggel. Gleichzeitig bekommen die Al-Kaida-nahen Ansar al-Scharia-Milizen Zulauf, auch aus anderen Ländern der Region.
Mahmud, der junge Ingenieur aus Tripolis, weiß wie schwierig die Situation seines Landes ist.
"Wir sind ganz unten im Moment. Wir wollen wieder nach oben kommen, aber dafür brauchen wir Hilfe. Ich hoffe, sie werden die Regierung darin unterstützen, ein sicheres Libyen zu schaffen. Und wenn sie uns unterstützen, dann können wir Libyen auch selber voranbringen. Aber allein wird es schwierig."
Es ist gut drei Jahre her, dass die NATO sich zur Intervention in Libyen entschloss und damit den Sturz von Muammar al-Gaddafi möglich machte. Die entscheidende Phase für die Zukunft des Landes beginnt jedoch erst jetzt.