"Liebe auf den ersten Blick"
Angela Steidele hat im Buch "Geschichte einer Liebe" die zwischen der Schriftstellerin Adele Schopenhauer und der Archäologin Sibylle Mertens porträtiert. Sie lernten sich um 1828 im Salon von Sibylle Mertens kennen. Letztere war verheiratet und hatte sechs Kinder.
Ulrike Timm: "Am besten vergleichst du uns mit ein paar Leuten, die sich spät finden und dann einander heiraten. Stürbe sie, so spränge ich jetzt in den Rhein, denn ich könnte nicht ohne sie bestehen." Eine stürmische Liebeserklärung mit aller Emphase, zu der man Anfang des 19. Jahrhunderts fähig war – und es war eine Liebeserklärung von Frau zu Frau. Adele Schopenhauer, die Schwester des Philosophen Arthur Schopenhauer, und die Altertumsforscherin Sibylle Mertens waren ein Paar, zwei gebildete Frauen, die in vielerlei Hinsicht Pionierinnen waren, deren Liebesbeziehung aber vergessen und verschwiegen wurde. Angela Steidele hat über diese Geschichte einer Liebe ein Buch geschrieben, und wir sprechen jetzt mit ihr über zwei ungewöhnliche Frauen und ihre Beziehung, die ihnen ganz natürlich war, wohl lange bevor jemand das Wort Lesben prägte. Frau Steidele, ich grüße Sie!
Angela Steidele: Hallo!
Timm: Bevor Sie uns von beiden erzählen, lassen Sie uns kurz sprechen über jede für sich. Zwei hoch gebildete Frauen im 19. Jahrhundert, Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens. Wer waren diese beiden?
Steidele: Adele Schopenhauer war die Tochter von Johanna Schopenhauer, ihrer Zeit eine berühmte Schriftstellerin, und die kleine Schwester eines damals noch unbekannten Philosophen. Sie wuchs in Weimar im Salon ihrer Mutter auf, wo sie quasi Hinz und Kunz der damaligen Kulturlandschaft kennenlernte. Jeder, der den alten Goethe besuchen wollte, nahm auch auf Johanna Schopenhauers Sofa Platz, sodass durch Adeles Kinderstube die Geistesgrößen der damaligen Zeit zogen. Sie war sehr begabt, wissbegierig und hat in Goethe ihren großen Freund und Förderer gefunden, der sie quasi von klein auf in der Literatur und der Kunst unterrichtete.
Timm: Und Sibylle Mertens?
Steidele: Sibylle Mertens war ein kölsches Urgestein, geboren als Sibylle Schaaffhausen, Tochter eines reichen Kölner Bankiers. Ihr Vater war eng befreundet mit Ferdinand Franz Wallraf, dem Begründer der Kölner Museumslandschaft. Und in seinen unglaublichen Sammlungen, unglaublich in jeder Beziehung, von der Weite des Sammelspektrums bis zu der Unordnung, in der sie aufgehoben war, bekam Sibylle Schaaffhausen frühe Kunsteindrücke, die sie ihr ganzes Leben lang prägten. Also diese Sammlungen haben sie inspiriert für ihr späteres Lebenswerk. Sie wurde eine bedeutende Kunstsammlerin und die erste deutschsprachige Archäologin, die wir haben.
Timm: Wie haben sich denn die beiden gefunden und wie haben sie dann ihre Beziehung gelebt?
Steidele: Sibylle Mertens hat hier in Köln und in Bonn einen großen Salon geführt, und Adele Schopenhauer kam in einer persönlichen Lebenskrise 1828 an den Rhein, um sich von ihrer Mutter und gescheiterten früheren Beziehungen zu erholen. Und in diesem Salon von Sibylle Mertens hat sie die Gastgeberin kennen und lieben gelernt. Es war wahrscheinlich Liebe auf den ersten Blick, ein coup de foudre, denn gleich darauf sind die beiden auf den Auerhof verschwunden, das war das Landhaus von Sibylle Mertens im Süden von Bonn, in Plittersdorf, und dort haben sie so etwas wie einen Honeymoon miteinander verbracht.
Timm: Und sie haben sich sehr im Stillen geliebt, denn Liebe zwischen Frauen durfte es in dieser Zeit ja offiziell gar nicht geben. Hatte man zu der Zeit überhaupt ein Wort dafür?
Steidele: Man hatte für die in der Zeit kein Wort dafür, bis auf die universellen von Liebe und Freundschaft, die die beiden auch benutzen. Doch war die Liebe so groß, dass es nicht ganz im Stillen abging, denn schon der Ehemann von Sibylle Mertens – sie war verheiratet und hatte sechs Kinder – hatte erhebliche Einwände gegen die Beziehung seiner Frau zu Adele Schopenhauer. Und von Anfang an kam es da quasi zum Krieg. Adele Schopenhauer wünschte dem Ehemann ihrer Partnerin den Teufel an den Hals und gleich den Tod noch dazu. Die Kinder nannten die Beziehung Unrecht, Wahnwitz, Tollheit – das waren jetzt noch mal Zitate.
Timm: Die eine, Sibylle Mertens, Mutter von sechs Kindern, lebte bei einem ungeliebten Mann, aber der Scheidungsgrund, Ehefrau hat Liebhaberin, der wäre niemals möglich gewesen. Wie ist man damit umgegangen?
Steidele: Frauen und Begehren war ein Widerspruch in sich in der damaligen Zeit, in der Philosophie, in der Literatur, sodass die mögliche Frage, wie nah sich Sibylle Mertens und Adele Schopenhauer wirklich waren – und sie teilten ein Zimmer und ein Bett –, war möglicherweise gar nicht so wichtig im Vergleich dazu, dass Sibylle Mertens die Seite ihres Mannes mied, ihre Kinder nicht mochte und sich vielmehr auf das Leben mit Adele Schopenhauer konzentrieren wollte. Dass sie also ihre Rolle als bürgerliche Frau, Dame des Hauses und Mutter verweigerte, war der eigentliche große Skandal.
Timm: Das heißt, sie hätten miteinander ins Bett gehen können, solange sie ihrem Mann treu zur Seite gestanden hätte nach außen hin?
Steidele: Sehr wahrscheinlich ja. Wobei es gibt Hinweise darauf, dass Sibylle Mertens ihre Liebe nur noch Adele Schopenhauer schenkte. Nachdem sie Adele kennengelernt hat, hat sie keine Kinder mehr zur Welt gebracht, vorher jedes Jahr quasi eins. Das heißt, sie muss eheliche Konsequenzen gezogen haben.
Timm: Frau Steidele, Sie benutzten vorhin das Wort Krieg. Nun liest sich ihr Buch aber so, als sei dieses Thema meistens doch erstaunlich elegant umgangen worden, jedenfalls nicht, als hätten die beiden ständig für Tumult und Skandale gesorgt. Entsprach das den kultivierten Kreisen, in denen sie sich bewegten, ging man da ein bisschen pikiert drüber hinweg?
Steidele: Es ist nicht ganz so, dass sie nicht schon früh Aufsehen erregt hätten. Sibylle Mertens wird ihr ganzes Leben lang als eine etwas seltsame Frau bezeichnet, eine männlich erscheinende Frau. Sie wird von einer Freundin von Annette von Droste-Hülshoff sogar mal für einen Mann gehalten. Und im Laufe von beider Leben und ihrer Liebesgeschichte verschärften sich die Angriffe auf sie. Man muss wissen, beide kamen ja aus großbürgerlichen Verhältnissen, sie gehörten der Elite an, damit waren sie eine Zeit lang geschützt. Aber im Laufe ihrer Lebenszeit wurden sie dennoch immer stärker angegriffen, und das fand dann seinen Höhepunkt, als die eigenen Kinder die Mutter verklagten.
Timm: Es ging ums Erbe?
Steidele: Es ging ums Erbe vordergründig. Hintergründig ging es darum, Sibylle Mertens schachmatt zu setzen – in intellektueller Sicht, künstlerischer, wissenschaftlicher, vor allem aber erotischer. Man wollte sie unschädlich machen sozusagen, und hat versucht, indem man ihr das gewaltige Vermögen streitig machte, sie schachtmatt zu setzen.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", im Gespräch mit Angela Steidele über ihr Buch "Geschichte einer Liebe". Und Sibylle Mertens schreibt zum Beispiel an Adele Schopenhauer: "Ich liebe dich, fest, offen, innig, ich achte dich hoch, ich vertraue auf dich, ohne Rücksicht, ohne Irrung und ohne Ende." Frau Steidele, das ist so offen und so klar, dass ich mich frage, warum man bis in die letzten Jahre hinein in Aufsätzen noch Sätze gelesen hat zum Beispiel wie diesen: "Sie pflegte intensive Freundschaften und blieb ihr Leben lang unverheiratet." Ist das Thema bis heute schlicht ein blinder Fleck?
Steidele: Es ist ein blinder Fleck – nicht nur, was die beiden Frauen angeht, sondern insgesamt. Die Geschichte von Liebe und Begehren zwischen Frauen vor 1850 ist noch fast Terra incognita. Dass die beiden sich Liebesbriefe geschrieben haben, ist zwar zwischen den Zeilen auch schon meinen Vorgängern aufgefallen, und dann kommt es zu solchen drucksenden Bemerkungen, wie Sie sie gerade zitiert haben. Offen aussprechen konnte oder wollte man das früher nicht. Es hat ja zwei Seiten: Es mögen einerseits die Biografen gewesen sein, die in früheren Jahrzehnten diesen Blick noch nicht haben konnten, oder aber, bei manchen habe ich den Eindruck, die hatten den Blick durchaus, konnten ihn aber nicht formulieren, denn es gibt auch ein Publikum, es gibt die Presse, es gibt die Verlage, die vorauswählen. Das heißt, ein so heißes Thema wie dieses war früher nicht oder schlecht kommunizierbar. Und erst heute sind wir in den Zeiten, dass der unbefangene Blick Liebeserklärungen als solche auch benennen kann.
Timm: Waren die beiden denn überhaupt Lesben in heutigem, in unserem Sinn?
Steidele: In unserem Sinn gewiss nicht, denn die Lesbe ist ein Phänomen des späten 19. und dann des 20. Jahrhunderts. Aber bei den beiden kann man Charakteristika in ihrem Leben feststellen, die die beiden zu so was wie Frauen auf dem Weg zur modernen Lesbe machen, wenn Sie so wollen. Das ist einmal, dass beide das Selbstverständnis formulieren, anders zu lieben, als es normal sei. In Tagebuchreflexionen und in Briefen formulieren sie das, dass mit ihnen sozusagen was nicht stimmt und dass sie darüber nicht sprechen können. Der zweite Aspekt, weshalb sie Vorgängerinnen sozusagen von heutigen Lesben sind, ist die Ausgegrenztheit. Ich hatte schon darüber gesprochen, Sibylle Mertens ist von ihrer Familie angefeindet worden, Adele Schopenhauer von ihrem Bruder. Arthur Schopenhauers Text "Über die Weiber" wird auf ewig den Ehrenplatz im Pantheon der Frauenhasser einnehmen, und darin wendet er sich implizit gegen Frauen wie seine Schwester und Sibylle Mertens.
Timm: Frau Steidele, Arthur Schopenhauer waren Frauen generell zuwider, Zitat, "eine Art Mittelstufe zwischen dem Kind und dem Manne, als welcher der eigentliche Mensch ist, das ist die Frau". Haben wir denn der Frauenliebe seiner Schwester allein dieses Pamphlet über Weiber zu verdanken, oder hat er diese Frechheit ganz von innen heraus verzapft?
Steidele: Adele war nicht an allem Schuld. Arthur Schopenhauer hatte schon ein sehr schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter, Adele übrigens auch zu ihr, also beider Mutter war auch eine schwierige Person. Allerdings wird sehr früh bei Arthur Schopenhauer in seinem Leben deutlich, dass fast niemand ihn leiden konnte und er auch fast niemanden, außer sich selbst. Er hat auch Männer nicht gemocht, kann man so allgemein sagen, nur sehr wenige. Selbst andere Schriftsteller hat er nicht gelten lassen, bis auf Kant und einige wenige andere. Das heißt, er war insgesamt ein Menschenverächter. Aber unter den Menschen mochte er die Frauen ganz besonders wenig.
Timm: Angela Steidele über die "Geschichte einer Liebe", so heißt ihr Buch über die Beziehung zwischen Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens, und dieses Buch ist im InselVerlag erschienen. Vielen Dank fürs Gespräch!
Angela Steidele: Hallo!
Timm: Bevor Sie uns von beiden erzählen, lassen Sie uns kurz sprechen über jede für sich. Zwei hoch gebildete Frauen im 19. Jahrhundert, Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens. Wer waren diese beiden?
Steidele: Adele Schopenhauer war die Tochter von Johanna Schopenhauer, ihrer Zeit eine berühmte Schriftstellerin, und die kleine Schwester eines damals noch unbekannten Philosophen. Sie wuchs in Weimar im Salon ihrer Mutter auf, wo sie quasi Hinz und Kunz der damaligen Kulturlandschaft kennenlernte. Jeder, der den alten Goethe besuchen wollte, nahm auch auf Johanna Schopenhauers Sofa Platz, sodass durch Adeles Kinderstube die Geistesgrößen der damaligen Zeit zogen. Sie war sehr begabt, wissbegierig und hat in Goethe ihren großen Freund und Förderer gefunden, der sie quasi von klein auf in der Literatur und der Kunst unterrichtete.
Timm: Und Sibylle Mertens?
Steidele: Sibylle Mertens war ein kölsches Urgestein, geboren als Sibylle Schaaffhausen, Tochter eines reichen Kölner Bankiers. Ihr Vater war eng befreundet mit Ferdinand Franz Wallraf, dem Begründer der Kölner Museumslandschaft. Und in seinen unglaublichen Sammlungen, unglaublich in jeder Beziehung, von der Weite des Sammelspektrums bis zu der Unordnung, in der sie aufgehoben war, bekam Sibylle Schaaffhausen frühe Kunsteindrücke, die sie ihr ganzes Leben lang prägten. Also diese Sammlungen haben sie inspiriert für ihr späteres Lebenswerk. Sie wurde eine bedeutende Kunstsammlerin und die erste deutschsprachige Archäologin, die wir haben.
Timm: Wie haben sich denn die beiden gefunden und wie haben sie dann ihre Beziehung gelebt?
Steidele: Sibylle Mertens hat hier in Köln und in Bonn einen großen Salon geführt, und Adele Schopenhauer kam in einer persönlichen Lebenskrise 1828 an den Rhein, um sich von ihrer Mutter und gescheiterten früheren Beziehungen zu erholen. Und in diesem Salon von Sibylle Mertens hat sie die Gastgeberin kennen und lieben gelernt. Es war wahrscheinlich Liebe auf den ersten Blick, ein coup de foudre, denn gleich darauf sind die beiden auf den Auerhof verschwunden, das war das Landhaus von Sibylle Mertens im Süden von Bonn, in Plittersdorf, und dort haben sie so etwas wie einen Honeymoon miteinander verbracht.
Timm: Und sie haben sich sehr im Stillen geliebt, denn Liebe zwischen Frauen durfte es in dieser Zeit ja offiziell gar nicht geben. Hatte man zu der Zeit überhaupt ein Wort dafür?
Steidele: Man hatte für die in der Zeit kein Wort dafür, bis auf die universellen von Liebe und Freundschaft, die die beiden auch benutzen. Doch war die Liebe so groß, dass es nicht ganz im Stillen abging, denn schon der Ehemann von Sibylle Mertens – sie war verheiratet und hatte sechs Kinder – hatte erhebliche Einwände gegen die Beziehung seiner Frau zu Adele Schopenhauer. Und von Anfang an kam es da quasi zum Krieg. Adele Schopenhauer wünschte dem Ehemann ihrer Partnerin den Teufel an den Hals und gleich den Tod noch dazu. Die Kinder nannten die Beziehung Unrecht, Wahnwitz, Tollheit – das waren jetzt noch mal Zitate.
Timm: Die eine, Sibylle Mertens, Mutter von sechs Kindern, lebte bei einem ungeliebten Mann, aber der Scheidungsgrund, Ehefrau hat Liebhaberin, der wäre niemals möglich gewesen. Wie ist man damit umgegangen?
Steidele: Frauen und Begehren war ein Widerspruch in sich in der damaligen Zeit, in der Philosophie, in der Literatur, sodass die mögliche Frage, wie nah sich Sibylle Mertens und Adele Schopenhauer wirklich waren – und sie teilten ein Zimmer und ein Bett –, war möglicherweise gar nicht so wichtig im Vergleich dazu, dass Sibylle Mertens die Seite ihres Mannes mied, ihre Kinder nicht mochte und sich vielmehr auf das Leben mit Adele Schopenhauer konzentrieren wollte. Dass sie also ihre Rolle als bürgerliche Frau, Dame des Hauses und Mutter verweigerte, war der eigentliche große Skandal.
Timm: Das heißt, sie hätten miteinander ins Bett gehen können, solange sie ihrem Mann treu zur Seite gestanden hätte nach außen hin?
Steidele: Sehr wahrscheinlich ja. Wobei es gibt Hinweise darauf, dass Sibylle Mertens ihre Liebe nur noch Adele Schopenhauer schenkte. Nachdem sie Adele kennengelernt hat, hat sie keine Kinder mehr zur Welt gebracht, vorher jedes Jahr quasi eins. Das heißt, sie muss eheliche Konsequenzen gezogen haben.
Timm: Frau Steidele, Sie benutzten vorhin das Wort Krieg. Nun liest sich ihr Buch aber so, als sei dieses Thema meistens doch erstaunlich elegant umgangen worden, jedenfalls nicht, als hätten die beiden ständig für Tumult und Skandale gesorgt. Entsprach das den kultivierten Kreisen, in denen sie sich bewegten, ging man da ein bisschen pikiert drüber hinweg?
Steidele: Es ist nicht ganz so, dass sie nicht schon früh Aufsehen erregt hätten. Sibylle Mertens wird ihr ganzes Leben lang als eine etwas seltsame Frau bezeichnet, eine männlich erscheinende Frau. Sie wird von einer Freundin von Annette von Droste-Hülshoff sogar mal für einen Mann gehalten. Und im Laufe von beider Leben und ihrer Liebesgeschichte verschärften sich die Angriffe auf sie. Man muss wissen, beide kamen ja aus großbürgerlichen Verhältnissen, sie gehörten der Elite an, damit waren sie eine Zeit lang geschützt. Aber im Laufe ihrer Lebenszeit wurden sie dennoch immer stärker angegriffen, und das fand dann seinen Höhepunkt, als die eigenen Kinder die Mutter verklagten.
Timm: Es ging ums Erbe?
Steidele: Es ging ums Erbe vordergründig. Hintergründig ging es darum, Sibylle Mertens schachmatt zu setzen – in intellektueller Sicht, künstlerischer, wissenschaftlicher, vor allem aber erotischer. Man wollte sie unschädlich machen sozusagen, und hat versucht, indem man ihr das gewaltige Vermögen streitig machte, sie schachtmatt zu setzen.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", im Gespräch mit Angela Steidele über ihr Buch "Geschichte einer Liebe". Und Sibylle Mertens schreibt zum Beispiel an Adele Schopenhauer: "Ich liebe dich, fest, offen, innig, ich achte dich hoch, ich vertraue auf dich, ohne Rücksicht, ohne Irrung und ohne Ende." Frau Steidele, das ist so offen und so klar, dass ich mich frage, warum man bis in die letzten Jahre hinein in Aufsätzen noch Sätze gelesen hat zum Beispiel wie diesen: "Sie pflegte intensive Freundschaften und blieb ihr Leben lang unverheiratet." Ist das Thema bis heute schlicht ein blinder Fleck?
Steidele: Es ist ein blinder Fleck – nicht nur, was die beiden Frauen angeht, sondern insgesamt. Die Geschichte von Liebe und Begehren zwischen Frauen vor 1850 ist noch fast Terra incognita. Dass die beiden sich Liebesbriefe geschrieben haben, ist zwar zwischen den Zeilen auch schon meinen Vorgängern aufgefallen, und dann kommt es zu solchen drucksenden Bemerkungen, wie Sie sie gerade zitiert haben. Offen aussprechen konnte oder wollte man das früher nicht. Es hat ja zwei Seiten: Es mögen einerseits die Biografen gewesen sein, die in früheren Jahrzehnten diesen Blick noch nicht haben konnten, oder aber, bei manchen habe ich den Eindruck, die hatten den Blick durchaus, konnten ihn aber nicht formulieren, denn es gibt auch ein Publikum, es gibt die Presse, es gibt die Verlage, die vorauswählen. Das heißt, ein so heißes Thema wie dieses war früher nicht oder schlecht kommunizierbar. Und erst heute sind wir in den Zeiten, dass der unbefangene Blick Liebeserklärungen als solche auch benennen kann.
Timm: Waren die beiden denn überhaupt Lesben in heutigem, in unserem Sinn?
Steidele: In unserem Sinn gewiss nicht, denn die Lesbe ist ein Phänomen des späten 19. und dann des 20. Jahrhunderts. Aber bei den beiden kann man Charakteristika in ihrem Leben feststellen, die die beiden zu so was wie Frauen auf dem Weg zur modernen Lesbe machen, wenn Sie so wollen. Das ist einmal, dass beide das Selbstverständnis formulieren, anders zu lieben, als es normal sei. In Tagebuchreflexionen und in Briefen formulieren sie das, dass mit ihnen sozusagen was nicht stimmt und dass sie darüber nicht sprechen können. Der zweite Aspekt, weshalb sie Vorgängerinnen sozusagen von heutigen Lesben sind, ist die Ausgegrenztheit. Ich hatte schon darüber gesprochen, Sibylle Mertens ist von ihrer Familie angefeindet worden, Adele Schopenhauer von ihrem Bruder. Arthur Schopenhauers Text "Über die Weiber" wird auf ewig den Ehrenplatz im Pantheon der Frauenhasser einnehmen, und darin wendet er sich implizit gegen Frauen wie seine Schwester und Sibylle Mertens.
Timm: Frau Steidele, Arthur Schopenhauer waren Frauen generell zuwider, Zitat, "eine Art Mittelstufe zwischen dem Kind und dem Manne, als welcher der eigentliche Mensch ist, das ist die Frau". Haben wir denn der Frauenliebe seiner Schwester allein dieses Pamphlet über Weiber zu verdanken, oder hat er diese Frechheit ganz von innen heraus verzapft?
Steidele: Adele war nicht an allem Schuld. Arthur Schopenhauer hatte schon ein sehr schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter, Adele übrigens auch zu ihr, also beider Mutter war auch eine schwierige Person. Allerdings wird sehr früh bei Arthur Schopenhauer in seinem Leben deutlich, dass fast niemand ihn leiden konnte und er auch fast niemanden, außer sich selbst. Er hat auch Männer nicht gemocht, kann man so allgemein sagen, nur sehr wenige. Selbst andere Schriftsteller hat er nicht gelten lassen, bis auf Kant und einige wenige andere. Das heißt, er war insgesamt ein Menschenverächter. Aber unter den Menschen mochte er die Frauen ganz besonders wenig.
Timm: Angela Steidele über die "Geschichte einer Liebe", so heißt ihr Buch über die Beziehung zwischen Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens, und dieses Buch ist im InselVerlag erschienen. Vielen Dank fürs Gespräch!