Liebeserklärung an die deutsche Sprache
Mit "Grimms Wörter" hat Günter Grass ein deutsches Geschichtsbuch geschaffen, in dem er die Lebensgeschichte der Brüder Grimm und ihre Leistungen um die deutsche Sprache erzählt - und in dem er auch selbst immer wieder eine Rolle spielt.
Es könnte sein, dass dies das letzte Buch von Günter Grass ist. Er selbst hält das jedenfalls für möglich, wie er auf Seite 266 schreibt. Wer 83 Jahre alt ist, muss realistischerweise mit dem Tod rechnen, denn auf den ist Verlass. Nicht nur an dieser Stelle, in der Grass von Jacob Grimms "Rede über das Alter" erzählt, kommt er auf sich zu sprechen. Schließlich liegen zwischen Grimm und Grass nur ein paar Buchstaben des Alphabets. Und zwischen den Jahrhunderten ist auch nicht viel Abstand.
"Grimms Wörter" ist also nicht unbedingt eine Biographie. Vielmehr handelt es sich tatsächlich um das, was der Untertitel verspricht: "Eine Liebeserklärung". Ihr Gegenstand ist die deutsche Sprache. Die Lebensgeschichte von Jacob und Wilhelm Grimm gibt an dramatischem Stoff auch nicht allzu viel her. Sie waren Bibliothekare, Gelehrte, Wörter- und Märchensammler, die sich vorzugsweise am eigenen Schreibtisch aufhielten oder durch den Berliner Tiergarten spazierten.
Das dramatische Potenzial ist eher gering, doch mit dem einen zentralen und folgenreichen Ereignis setzt Grass ein: der berühmten Erklärung der "Göttinger Sieben", die im November 1837 dagegen protestierten, dass Ernst August, König von Hannover, die relativ liberale Verfassung in einem Akt der Willkür außer Kraft setzte. Die beiden Grimms verloren daraufhin ihre Ämter, Jacob wurde des Landes verwiesen und begab sich ins hessische Exil. Doch erst aus dieser prekären Situation heraus konnte die Arbeit am "Deutschen Wörterbuch" beginnen.
Von hier aus erzählt Grass die Lebensgeschichte der Brüder, zeichnet die Konturen ihrer Epoche und verfolgt die Geschichte des Wörterbuches von Buchstaben zu Buchstaben. Das ist assoziativ, entspannt und anregend, so etwa, wenn er einen Bezug zu Darwin herstellt, den die Grimms noch gar nicht kannten. Von heute aus betrachtet ist die Verwandtschaft der "Entstehung der Arten" mit der "Entstehung der Wörter" jedoch kaum zu übersehen. Es sind zwei verschiedene Methoden, um alles Existierende zu katalogisieren und auseinander abzuleiten.
"Grimms Wörter" ist ein flaneurshaft leichtes deutsches Geschichtsbuch, das immer wieder – und manchmal leider auch etwas zu aufdringlich und rechthaberisch – von Grimm zu Grass führt. Grass ist dabei, wenn die Grimms durch den Tiergarten spazieren, er belauscht ihre Gespräche, ja er setzt sich zu ihnen auf eine Bank gegenüber der Rousseau-Insel, wo einst auch schon sein "Fonty" auf den Spuren Fontanes saß. Das lexikalische Prinzip des Erzählens kommt ihm entgegen. Was in vielen seiner Romane störend wirkt – wenn sie allzu sichtbar nach einem vorgefertigten Plan in der Wortmetz-Werkstatt zusammengeleimt wurden – hat hier eine adäquate Form gefunden.
Das lockere Springen von Wort zu Wort erlaubt es ihm, die Ebenen spielerisch zu wechseln und sich entlang einzelner Begriffe durchs Leben zu erzählen. Hier besichtigt und bearbeitet ein Schriftsteller sein ureigenstes Material, die Sprache, und lässt uns daran teilhaben. "Grimms Wörter" ist auch eine Leseanleitung zum Gebrauch des Wörterbuches. Man kann, man muss von dieser "Liebeserklärung" immer wieder zum "Grimm" wechseln, um sich dort auf eigenen Pfaden in die deutsche Sprache hineinzulesen.
Das letzte Wort, das Jacob Grimm 1863, vier Jahre nach dem Tod des Bruders bearbeitete, war "Frucht". Darüber starb er. Mit einer Fußnote wurde er an dieser Stelle von seinen Mitarbeitern verabschiedet. Der Tod kommt in einem Lexikon ohne große Gesten aus. Doch knapp hundert Jahre dauerte es von da aus noch, bis das Wörterbuch abgeschlossen wurde, in deutsch-deutscher Kooperation im Jahr 1960.
Fertig ist das Wörterbuch dennoch nicht, vollständig schon gar nicht, denn die Geschichte geht ja weiter, und Grass zählt Worte genug auf, die damals schon fehlten. Es bleibt aber eine Fundgrube der deutschen Sprache und bewährt sich nun auch als erzählbarer Stoff. Das vollbracht zu haben, ist eine große Leistung.
"Grimms Wörter" gehört wohl zu den wichtigsten Büchern von Günter Grass und ist – alle Eitelkeitseinschübe einmal beiseite gelassen – vielleicht sein schönstes. Ganz egal, ob es das letzte sein wird oder nicht.
Besprochen von Jörg Magenau
Günter Grass: Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung
Steidl Verlag, Göttingen 2010
368 Seiten, 29,80 Euro
Als Hörbuch mit 11 CDs, von Grass gelesen, 39,90 Euro
"Grimms Wörter" ist also nicht unbedingt eine Biographie. Vielmehr handelt es sich tatsächlich um das, was der Untertitel verspricht: "Eine Liebeserklärung". Ihr Gegenstand ist die deutsche Sprache. Die Lebensgeschichte von Jacob und Wilhelm Grimm gibt an dramatischem Stoff auch nicht allzu viel her. Sie waren Bibliothekare, Gelehrte, Wörter- und Märchensammler, die sich vorzugsweise am eigenen Schreibtisch aufhielten oder durch den Berliner Tiergarten spazierten.
Das dramatische Potenzial ist eher gering, doch mit dem einen zentralen und folgenreichen Ereignis setzt Grass ein: der berühmten Erklärung der "Göttinger Sieben", die im November 1837 dagegen protestierten, dass Ernst August, König von Hannover, die relativ liberale Verfassung in einem Akt der Willkür außer Kraft setzte. Die beiden Grimms verloren daraufhin ihre Ämter, Jacob wurde des Landes verwiesen und begab sich ins hessische Exil. Doch erst aus dieser prekären Situation heraus konnte die Arbeit am "Deutschen Wörterbuch" beginnen.
Von hier aus erzählt Grass die Lebensgeschichte der Brüder, zeichnet die Konturen ihrer Epoche und verfolgt die Geschichte des Wörterbuches von Buchstaben zu Buchstaben. Das ist assoziativ, entspannt und anregend, so etwa, wenn er einen Bezug zu Darwin herstellt, den die Grimms noch gar nicht kannten. Von heute aus betrachtet ist die Verwandtschaft der "Entstehung der Arten" mit der "Entstehung der Wörter" jedoch kaum zu übersehen. Es sind zwei verschiedene Methoden, um alles Existierende zu katalogisieren und auseinander abzuleiten.
"Grimms Wörter" ist ein flaneurshaft leichtes deutsches Geschichtsbuch, das immer wieder – und manchmal leider auch etwas zu aufdringlich und rechthaberisch – von Grimm zu Grass führt. Grass ist dabei, wenn die Grimms durch den Tiergarten spazieren, er belauscht ihre Gespräche, ja er setzt sich zu ihnen auf eine Bank gegenüber der Rousseau-Insel, wo einst auch schon sein "Fonty" auf den Spuren Fontanes saß. Das lexikalische Prinzip des Erzählens kommt ihm entgegen. Was in vielen seiner Romane störend wirkt – wenn sie allzu sichtbar nach einem vorgefertigten Plan in der Wortmetz-Werkstatt zusammengeleimt wurden – hat hier eine adäquate Form gefunden.
Das lockere Springen von Wort zu Wort erlaubt es ihm, die Ebenen spielerisch zu wechseln und sich entlang einzelner Begriffe durchs Leben zu erzählen. Hier besichtigt und bearbeitet ein Schriftsteller sein ureigenstes Material, die Sprache, und lässt uns daran teilhaben. "Grimms Wörter" ist auch eine Leseanleitung zum Gebrauch des Wörterbuches. Man kann, man muss von dieser "Liebeserklärung" immer wieder zum "Grimm" wechseln, um sich dort auf eigenen Pfaden in die deutsche Sprache hineinzulesen.
Das letzte Wort, das Jacob Grimm 1863, vier Jahre nach dem Tod des Bruders bearbeitete, war "Frucht". Darüber starb er. Mit einer Fußnote wurde er an dieser Stelle von seinen Mitarbeitern verabschiedet. Der Tod kommt in einem Lexikon ohne große Gesten aus. Doch knapp hundert Jahre dauerte es von da aus noch, bis das Wörterbuch abgeschlossen wurde, in deutsch-deutscher Kooperation im Jahr 1960.
Fertig ist das Wörterbuch dennoch nicht, vollständig schon gar nicht, denn die Geschichte geht ja weiter, und Grass zählt Worte genug auf, die damals schon fehlten. Es bleibt aber eine Fundgrube der deutschen Sprache und bewährt sich nun auch als erzählbarer Stoff. Das vollbracht zu haben, ist eine große Leistung.
"Grimms Wörter" gehört wohl zu den wichtigsten Büchern von Günter Grass und ist – alle Eitelkeitseinschübe einmal beiseite gelassen – vielleicht sein schönstes. Ganz egal, ob es das letzte sein wird oder nicht.
Besprochen von Jörg Magenau
Günter Grass: Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung
Steidl Verlag, Göttingen 2010
368 Seiten, 29,80 Euro
Als Hörbuch mit 11 CDs, von Grass gelesen, 39,90 Euro