Liebeserklärung an eine Stadt

12.06.2009
Der österreichische Journalist Cornelius Hell ging in den 80er-Jahren als Germanistiklektor nach Vilnius. Seitdem verbindet ihn eine enge Beziehung mit der litauischen Hauptstadt. In seinem Reisebuch "Der eiserne Wolf im barocken Labyrinth" erzählt er auf persönliche Weise von ihrer Geschichte und Gegenwart. Vilnius ist in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas.
Vilnius ist berückend. Die Hauptstadt Litauens nimmt beinahe jeden Besucher mühelos für sich ein. Es ist wohl die einzige Stadt auf der Welt, für die ein immer wieder für den Literaturnobelpreis gehandelter Dichter, der lange im nordamerikanischen Exil lebende Tomas Venclova, einen Reiseführer verfasst hat.

Auch der österreichische Journalist Cornelius Hell ist von Vilnius begeistert. Sein Stadtporträt "Der eiserne Wolf im barocken Labyrinth" ist zugleich eine sehr persönliche Liebeserklärung. Auf knappem Raum bringt Hell dem Leser nicht nur Geschichte, Architektur, Kultur und Kulinarik nahe, er gibt auch Einblicke in Wohnungen und Trinkbräuche, Politik und Mentalitäten.

Hell kam 1984 für zwei Jahre, so lautete die offizielle Version, als erster "Germanistiklektor aus dem Westen an die älteste Universität auf sowjetischem Boden". Nach Vilnius musste Hell mit dem Nachtzug aus Moskau reisen. In den folgenden Jahren lernte er die älteste noch gesprochene indoeuropäische Sprache mit ihren sieben Fällen und komplizierten Partizipialkonstruktionen so gut, dass er zum Übersetzer einer im Westen weitgehend unbekannten Literatur wurde. Das baltische Land prägte sein Leben auch nach der Rückkehr nach Österreich.

Mit leichter Hand verschmilzt Cornelius Hell auf Spaziergängen durch die geliebte Altstadt, die nach dem Großen Brand von 1610 im Barock wiedererstand, Gegenwart und Geschichte miteinander. Er besichtigt einige der 70 Kirchen und Klöster und erzählt, dass die Litauer als letzte in Europa erst im 15. Jahrhundert christianisiert wurden. Er schildert die Zweckentfremdung der Kirchen im Sozialismus.

105 Synagogen und jüdische Bethäuser des "Jerusalem des Nordens" entgingen ihr nur, weil sie während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 systematisch zerstört worden waren. Die Deutschen ermordeten 240.000 Litauer, unter ihnen 200.000 Juden. Im Zentrum der litauischen Gedächtnispolitik stehen allerdings die mehr als 50.000 Litauer, die vor 1941 und nach 1944 Opfer Stalins wurden.

Beide Massenmorde nennen die Litauer Genozid, was Hell als falsche Parallelisierung kritisiert. Aber er hat auch Verständnis dafür, dass die Befreiung von der deutschen Okkupation in Litauen als Rückkehr der sowjetischen Besatzung erlebt wurde. Und dann fährt Hell zum Denkmal für die ermordeten Juden Litauens vor den Toren der Stadt in Ponar, wundert sich, dass ihm kein einziges Schild den Weg weist. Auf der Rückfahrt versucht er, sich 100.000 Menschen vorzustellen ...

Mit solch präzisen, unpathetischen und immer persönlichen Anmerkungen lässt Hell ein vielfältiges, kein schön gefärbtes Bild seiner "Traumstadt" entstehen. Das neue Vilnius auf dem anderen Ufer der Neris spart er nicht aus und besucht auch die nur noch 250 Köpfe starke Minderheit der Karaimen, eine der vielen Völkerschaften des einstigen Großfürstenreichs zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. Außerdem stellt Cornelius Hell einige seiner Künstlerfreunde vor, tote und lebendige. Zur Einstimmung auf einen Besuch der Kulturhauptstadt 2009 gibt es keinen besseren Cicerone.

Besprochen von Jörg Plath

Cornelius Hell: Der eiserne Wolf im barocken Labyrinth. Erwachendes Vilnius
Picus Verlag/ Wien 2009
132 Seiten, 14,90 EUR