Liebeserklärung an eine Stadt
Der diesjährige Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk schildert in "Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt" seine ersten 22 Lebensjahre in der Metropole am Bosporus. Pamuk skizziert, wie ihn die türkische Mentalität und Geschichte prägen und wie er zu einem jungen Schriftsteller reift.
Irgendwo in Istanbul, glaubt der kleine Orhan schaudernd, habe er einen Doppelgänger. Scherzend zeigen ihm Verwandte ein "kitschiges europäisches Kalenderfoto" eines Jungen und behaupten, das sei er. Gleich zu Beginn seines neuen Buches erzählt der diesjährige Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk mit leichter Hand von einem Klischee-Europa als dem unheimlichen Gegenstück Istanbuls. Die Konturen dieses halb sichtbaren, halb unsichtbaren Doppels zeichnet der 54-jährige in "Istanbul" nach. Er schildert seine ersten 22 Lebensjahre so, dass sich der persönliche Rückblick auf uneitle Weise zu einem Panorama nicht nur der Metropole, sondern auch der türkischen Mentalität und Geschichte weitet.
Pamuk hat immer in Istanbul gelebt. Aufgewachsen ist er in dem Apartmenthaus der Pamuk-Großfamilie im pariserisch anmutenden Stadtteil Nisantasi. Das Kind entdeckt Haus, Straße und Viertel, und der Erwachsene fügt die osmanische Vergangenheit hinzu. Über sie wird in der Familie nicht gesprochen, denn die Eltern fühlen sich als Europäer: Der Vater liest französische Literatur und hört klassische Musik, die Mutter raucht, und oft wird heftig gestritten. Die Wohnung ist - wie bei Reichen üblich - mit westlichen, selten benutzten Möbeln eingerichtet.
In dieser musealen Atmosphäre überkommt Orhan eine "schwarzweiße" Stimmung. Sie will weder bei Spaziergängen noch während der Fahrten im väterlichen Ford weichen, weil Istanbul voller heruntergekommener Hinterlassenschaften des osmanischen Reiches ist. Für die von Atatürk abrupt modernisierte Türkei sind sie quälende Erinnerungen an einstige Größe, und so verfolgen die Istanbuler voller Genuss die häufigen Brände der Yalis, der osmanischen Sommervillen am Bosporus.
Die "schwarzweiße" Wahrnehmung ist Teil des "Hüzün", der Depression, die Istanbul fest im Griff hat. "Hüzün" macht die Einwohner handlungsunfähig und liefert ihnen zugleich eine ehrenhafte Entschuldigung für "Armut, Entschlusslosigkeit und Daseinsöde". Dafür erfreuen sie sich eines angenehmen Gemeinschaftsgefühls: Während die europäische Variante der Melancholie den Menschen vereinzelt, ist "Hüzün" eine kollektive Empfindung. Wer sich dem "Hüzün" wie Orhan zu entziehen sucht, bekommt Schuldgefühle. Pamuk beschwört die Gewissensnöte im letzten Viertel des Buches allerdings so häufig und dazu in stereotypen Wendungen, dass sich beim Leser ein gewisser Überdruss einstellt.
Orhan flüchtet vor der Schwarzweißstimmung erst in Tagträume, dann ins Zeichnen. Malend entdeckt er eine "zweite Welt". Seine Begeisterung rührt nicht zuletzt von der Erfahrung her, dass sich Stift und Pinsel praktisch selbständig bewegen. Es ist ein dem "Hüzün" verwandter Genuss der Passivität, wie sie Orhan auch am Frisiertisch der Mutter erfährt: Sind dessen Spiegel richtig eingestellt, wird sein Bild vertausendfacht, und manchmal scheinen sich einige der Orhans unkontrolliert zu bewegen. Die Erzählung von der Lust, die eigene Identität zu vervielfältigen und sich selbst fremd zu werden, ist eine der schönsten in "Istanbul" – und erinnert nicht zufällig an ähnliche Passagen über erwachende künstlerische Neigungen bei Johann Wolfgang Goethe, Thomas Mann oder Elias Canetti.
Die "zweite Welt" ist ein Refugium, kein Arkadien. Wie die Eltern, die trotz aller Begeisterung für Europa nie dessen vollwertige Bürger werden können, kopiert Orhan westliche Maler, was sich mit deren Anspruch auf Originalität natürlich nicht verträgt. Doch es gibt keine osmanische Bildtradition, auf die sich Türken beziehen könnten. Die Abbildungen von Istanbul, mit denen Orhan aufwächst, stammen von europäischen Malern, und die Stadtbeschreibungen, mit denen sich später der Erwachsene auseinandersetzt, von Théophile Gautier, Gerard de Nerval und Gustave Flaubert. Die Istanbuler Stadtkolumnisten und Romanciers des 20. Jahrhunderts standen vor demselben Problem wie der malende Orhan: Die (Bild-) Sprache für Istanbul ist etwas Fremdes, sie muss erobert werden. Selten ist die Lage des postkolonialen Künstlers so anschaulich geschildert worden: Zu suchen hat er den "Schwebezustand zwischen zwei Welten (..), dessen Preis die Einsamkeit und dessen Lohn die Originalität ist."
Pamuk gleitet zwischen Autobiographie, der Geschichte Istanbuls und der Geschichte der Stadtwahrnehmung hin und her. Von Vater und Mutter, dem Malen, dem Bosporus und verschiedenen Stadtvierteln wird mehrmals unter jeweils neuen Gesichtspunkten erzählt. Das erinnert an eine DNA-Doppelhelix, in der sich der Heranwachsende, die Metropole, der Staat und die Kollektivmentalität in immer neuen Kombinationen und Spiegelungen gegenübertreten. Am Ende steht ein junger Mann, der Schriftsteller wird, weil er auf den "tröstenden Straßen" seinen Stoff findet. Man sollte "Istanbul" als einen fesselnden Liebesroman lesen.
Rezensiert von Jörg Plath
Orhan Pamuk: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Carl Hanser Verlag. München 2007
424 Seiten, 25,90 Euro
Pamuk hat immer in Istanbul gelebt. Aufgewachsen ist er in dem Apartmenthaus der Pamuk-Großfamilie im pariserisch anmutenden Stadtteil Nisantasi. Das Kind entdeckt Haus, Straße und Viertel, und der Erwachsene fügt die osmanische Vergangenheit hinzu. Über sie wird in der Familie nicht gesprochen, denn die Eltern fühlen sich als Europäer: Der Vater liest französische Literatur und hört klassische Musik, die Mutter raucht, und oft wird heftig gestritten. Die Wohnung ist - wie bei Reichen üblich - mit westlichen, selten benutzten Möbeln eingerichtet.
In dieser musealen Atmosphäre überkommt Orhan eine "schwarzweiße" Stimmung. Sie will weder bei Spaziergängen noch während der Fahrten im väterlichen Ford weichen, weil Istanbul voller heruntergekommener Hinterlassenschaften des osmanischen Reiches ist. Für die von Atatürk abrupt modernisierte Türkei sind sie quälende Erinnerungen an einstige Größe, und so verfolgen die Istanbuler voller Genuss die häufigen Brände der Yalis, der osmanischen Sommervillen am Bosporus.
Die "schwarzweiße" Wahrnehmung ist Teil des "Hüzün", der Depression, die Istanbul fest im Griff hat. "Hüzün" macht die Einwohner handlungsunfähig und liefert ihnen zugleich eine ehrenhafte Entschuldigung für "Armut, Entschlusslosigkeit und Daseinsöde". Dafür erfreuen sie sich eines angenehmen Gemeinschaftsgefühls: Während die europäische Variante der Melancholie den Menschen vereinzelt, ist "Hüzün" eine kollektive Empfindung. Wer sich dem "Hüzün" wie Orhan zu entziehen sucht, bekommt Schuldgefühle. Pamuk beschwört die Gewissensnöte im letzten Viertel des Buches allerdings so häufig und dazu in stereotypen Wendungen, dass sich beim Leser ein gewisser Überdruss einstellt.
Orhan flüchtet vor der Schwarzweißstimmung erst in Tagträume, dann ins Zeichnen. Malend entdeckt er eine "zweite Welt". Seine Begeisterung rührt nicht zuletzt von der Erfahrung her, dass sich Stift und Pinsel praktisch selbständig bewegen. Es ist ein dem "Hüzün" verwandter Genuss der Passivität, wie sie Orhan auch am Frisiertisch der Mutter erfährt: Sind dessen Spiegel richtig eingestellt, wird sein Bild vertausendfacht, und manchmal scheinen sich einige der Orhans unkontrolliert zu bewegen. Die Erzählung von der Lust, die eigene Identität zu vervielfältigen und sich selbst fremd zu werden, ist eine der schönsten in "Istanbul" – und erinnert nicht zufällig an ähnliche Passagen über erwachende künstlerische Neigungen bei Johann Wolfgang Goethe, Thomas Mann oder Elias Canetti.
Die "zweite Welt" ist ein Refugium, kein Arkadien. Wie die Eltern, die trotz aller Begeisterung für Europa nie dessen vollwertige Bürger werden können, kopiert Orhan westliche Maler, was sich mit deren Anspruch auf Originalität natürlich nicht verträgt. Doch es gibt keine osmanische Bildtradition, auf die sich Türken beziehen könnten. Die Abbildungen von Istanbul, mit denen Orhan aufwächst, stammen von europäischen Malern, und die Stadtbeschreibungen, mit denen sich später der Erwachsene auseinandersetzt, von Théophile Gautier, Gerard de Nerval und Gustave Flaubert. Die Istanbuler Stadtkolumnisten und Romanciers des 20. Jahrhunderts standen vor demselben Problem wie der malende Orhan: Die (Bild-) Sprache für Istanbul ist etwas Fremdes, sie muss erobert werden. Selten ist die Lage des postkolonialen Künstlers so anschaulich geschildert worden: Zu suchen hat er den "Schwebezustand zwischen zwei Welten (..), dessen Preis die Einsamkeit und dessen Lohn die Originalität ist."
Pamuk gleitet zwischen Autobiographie, der Geschichte Istanbuls und der Geschichte der Stadtwahrnehmung hin und her. Von Vater und Mutter, dem Malen, dem Bosporus und verschiedenen Stadtvierteln wird mehrmals unter jeweils neuen Gesichtspunkten erzählt. Das erinnert an eine DNA-Doppelhelix, in der sich der Heranwachsende, die Metropole, der Staat und die Kollektivmentalität in immer neuen Kombinationen und Spiegelungen gegenübertreten. Am Ende steht ein junger Mann, der Schriftsteller wird, weil er auf den "tröstenden Straßen" seinen Stoff findet. Man sollte "Istanbul" als einen fesselnden Liebesroman lesen.
Rezensiert von Jörg Plath
Orhan Pamuk: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Carl Hanser Verlag. München 2007
424 Seiten, 25,90 Euro