Liebesgeschichte im Konzentrationslager

Während die militärische Niederlage Deutschlands näher rückt, treten im Alltag des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau kleine, aber unübersehbare Änderungen ein.
Zum Beispiel diese: SS-Rottenführer Titze sucht das Gespräch mit dem polnischen Gefangenen Jerzy Bielecki. Titze versucht Bielecki gegenüber seine Zugehörigkeit zur SS zu rechtfertigen und beklagt die Zwangslage, in die ihn das Naziregime gebracht habe. Ein Jahr zuvor, dessen ist sich Bielecki sicher, hätte ihn dieser Titze noch für jede kritische Äußerung getötet. Jetzt aber, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Menschenvernichtungsmaschine noch auf Hochtouren läuft, sucht er bereits nach einem Zeugen, der bei einem Prozess nach dem verlorenen Krieg zu seinen Gunsten aussagen könnte.

Jerzy Bielecki, der die Häftlingsnummer 243 trägt, war von 1940 bis 1944 in Auschwitz. Wie er nach Auschwitz kam, was ihm dort widerfuhr und wie ihm schließlich die Flucht glückte, darüber hat Bielecki ein Buch geschrieben, das unter dem Titel "Wer ein Leben rettet …" in deutscher Übersetzung beim wjs Verlag vorliegt.

Bielecki, geboren 1921, ein katholischer Pole, sucht bald nach der deutschen Besetzung Verbindung zur polnischen Untergrundbewegung, wird denunziert und als politischer Gefangener mit einem der ersten Transporte nach Auschwitz verschleppt. Mit letzter Kraft gelingt es ihm in den ersten Monaten durchzuhalten, Hunger, Krankheit und die Gewalt der Aufseher zu überstehen. Auch später ist sein Leben jederzeit gefährdet. Doch während die Ermordung vor allem von Juden vor seinen Augen immer monströsere Ausmaße erreicht, ergeben sich für ihn selbst gewisse Nischen, welche die weiter vagen Chancen für ein Überleben erhöhen. Bielecki wird wegen seines technischen und organisatorischen Geschicks bei Arbeiten auch außerhalb des Lagers eingesetzt, betätigt sich als Schlosser einer Getreidemühle und arbeitet schließlich in der Buchhaltung einer dem Lager angeschlossenen Firma. Dabei lernt er Cyla kennen und lieben, deren Lage als Jüdin noch weitaus prekärer ist als seine eigene. Bielecki setzt alles auf eine Karte und organisiert die gemeinsame Flucht - mit falschen Papieren und in einer Uniform der SS. Beide überleben, verlieren sich aber in den Wirren des Kriegsendes und begegnen sich erst in den achtziger Jahren wieder.

Jerzy Bielecki war nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem Direktor eines technischen Gymnasiums im südpolnischen Nowy Targ, wo er auch heute lebt. Sein autobiographischer Text, der über lange Zeiträume entstand, ist nicht zu verwechseln mit dem Buch von Thilo Thielke, das 2000 im Spiegel-Verlag erschien und Bieleckis Geschichte in Form einer Reportage verarbeitet. Jerzy Bieleckis "Wer ein Leben rettet …" erweist sich – über die sensationelle Flucht und das Liebesdrama hinaus – als ebenso authentischer wie tief beeindruckender Text über die Lagerwirklichkeit in Auschwitz, ihre grausame Komplexität, ihre Widersprüche. Nicht zuletzt die nüchterne, vollkommen unprätentiöse Erzählweise macht diesen Text zu einem herausragenden Beispiel literarischer Verarbeitung der KZ-Erfahrung.

Besprochen von Martin Sander

Jerzy Bielecki: Wer ein Leben rettet … Die Geschichte einer Liebe in Auschwitz
Aus dem Polnischen von Rozwita Brodowskaja
wjs Verlag, Berlin 2009
327 Seiten, 24,90 Euro