Liebeslied ans Leben
Eshkol Nevo hat einen Roman voller Lebensfreeude geschrieben - trotz allem, was einem das Leben schwer machen kann. "Vier Häuser und eine Sehnsucht" ist ein Buch wie Musik: ein langes Liebeslied. Getragen und aufbrausend, verhalten und voller Energie.
Vier sehr unterschiedliche Stühle zieren den Umschlag des Debütromans von Eshkol Nevo. Sie sind aus Plastik, Holz, Aluminium. Zusammenklappbar, drei- und vierbeinig, rechteckig oder rund und unterschiedlich alt. Die Stühle stehen im Freien, sie werfen lange Schatten auf den Sandboden.
Ein schönes Bild, das auf den Inhalt des Romans, in Israel ein Besteller und preisgekrönt, deutet. "Vier Häuser und eine Sehnsucht" lautet der Titel, und es liegt nah, dass die vier Stühle für die Häuser stehen. Für das Verweilen, den Ort, an dem man sich niederlässt. Der Roman stellt die Frage: Auf welchen Stuhl setze ich mich? Wo habe ich es bequem? Und will ich es überhaupt so haben? Deutlich wird: jeder Stuhl ist anders. Und jedes Hinsetzen ein Kompromiss.
Unterschiedlich wie die Stühle auf dem Cover sind die Geschichten der vier Häuser und ihrer Bewohner, die Nevo - 1971 in Jerusalem geboren, in Detroit und in verschiedenen Städten Israels aufgewachsen – in seinem Roman erzählt. Sie verbindet ihre Sehnsucht anzukommen, bei sich oder im Leben. Ein Zuhause zu finden, emotional und auch geographisch.
Schauplatz ist ein kleiner Vorort Jerusalems Mitte der 90er Jahre. Hier lebt die Familie Sakian, Einwanderer aus dem Irak. Moshe Sakian ist Busfahrer, seine Frau kümmert sich um den Haushalt und die beiden Kinder. Seine Eltern wohnen im oberen Stockwerk des Hauses.
Die kleine Wohnung im Erdgeschoss beziehen als Untermieter Amir und Noa, ein frischverliebtes Studentenpaar. Sie studiert an der Kunsthochschule Fotografie, er Psychologie. Für Noa und Amir ist das Zusammenleben ein Experiment. Sie haben sich für die Wohnung in dem kleinen Ort nahe der Autobahn entschieden, weil er günstig liegt, wenn man jeden Morgen in entgegengesetzte Richtungen aufbricht. Amir fährt in die Küstenebene nach Tel Aviv, Noa hinauf nach Jerusalem.
In ihrer Nachbarschaft lebt Jotam, ein kleiner Junge, dessen älterer Bruder gerade bei einem Militäreinsatz getötet wurde. Amir freundet sich mit ihm an. Sein Gespür für Menschen macht es ihm möglich, Jotam das Verständnis und die Aufmerksamkeit entgegen zu bringen, die er im Elternhaus vermisst. Dort herrscht Trauer über den Tod seines Bruders. Die Eltern haben sich in sich selbst zurückgezogen, ihr Verhältnis - und das zu Jotam - ist gestört. Auf Amirs Liebe zu Noa legen sich ebenfalls Schatten. Je länger beide zusammen wohnen, desto stärker stellen sie ihre Beziehung in Frage.
Und auch ihre Vermieter geraten in eine Krise. Moshe kommt aus einer religiösen Familie und will seinen Sohn in einen religiösen Kindergarten schicken. Seine Frau lehnt das vehement ab. Es kommt zwischen den Eheleuten zum Streit, zu Missverständnissen und Zweifeln, ob sie überhaupt zueinander passen.
Nevos Roman spielt nicht zufällig zu der Zeit, in der Yitzhak Rabin ermordet wurde. Die Figuren, liebenswert auch mit ihren Macken und unbewussten Prägungen, wollen aufbrechen, ihrem Leben eine neue Qualität geben. Optimistisch sind sie alle zu Beginn der Erzählung. Dann erweist sich die Bewältigung der Realität als zunehmend schwierig. Sensibel spürt Nevo der Befindlichkeit der israelischen Gesellschaft jener Tage nach.
Seit den Osloer Verträgen wurde alles leichter, der spürbar frische Wind trieb viele voran. Israels Sehnsucht nach Frieden schien sich zu erfüllen. Doch der Mord an Rabin erschütterte Staat und Bewohner im Mark. Neue Selbstmordattentate riefen Ängste und Aggressionen hervor. Zweifel und Resignation legten sich schwer auf die kollektive Psyche.
Vor diesem Hintergrund erzählt Eshkol Nevo Alltagsgeschichten, Privatangelegenheiten, Beziehungskisten. Er konzentriert sich auf zwischenmenschliche Konflikte - die sich aber nicht vom gesellschaftlichen Kontext trennen lassen. Mehr noch: das eine ist im anderen verkörpert.
Jede Figur im Roman hat eine Stimme. Multiperspektivisch werden so die Ereignisse geschildert, das Sehnsuchtsmotiv erklingt in verschiedenen Tonlagen. Mal berichtet auch der Erzähler selbst in Versen, mal werden Texte einer imaginären Rockband zitiert. Es entsteht ein Chor, in dem Araber und Israelis, Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder gemeinsam von Schmerz und Lust, Hoffnungen und Verletzungen singen.
Eshkols Roman ist Musik. Ein langes Liebeslied. Getragen und aufbrausend, verhalten und voller Energie. Ein Buch der Lebensfreude - trotz allem, was einem das Leben schwer macht.
Rezensiert von Carsten Hueck
Eshkol Nevo: Vier Häuser und eine Sehnsucht
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2007, 435 Seiten, 15,00 Euro
Ein schönes Bild, das auf den Inhalt des Romans, in Israel ein Besteller und preisgekrönt, deutet. "Vier Häuser und eine Sehnsucht" lautet der Titel, und es liegt nah, dass die vier Stühle für die Häuser stehen. Für das Verweilen, den Ort, an dem man sich niederlässt. Der Roman stellt die Frage: Auf welchen Stuhl setze ich mich? Wo habe ich es bequem? Und will ich es überhaupt so haben? Deutlich wird: jeder Stuhl ist anders. Und jedes Hinsetzen ein Kompromiss.
Unterschiedlich wie die Stühle auf dem Cover sind die Geschichten der vier Häuser und ihrer Bewohner, die Nevo - 1971 in Jerusalem geboren, in Detroit und in verschiedenen Städten Israels aufgewachsen – in seinem Roman erzählt. Sie verbindet ihre Sehnsucht anzukommen, bei sich oder im Leben. Ein Zuhause zu finden, emotional und auch geographisch.
Schauplatz ist ein kleiner Vorort Jerusalems Mitte der 90er Jahre. Hier lebt die Familie Sakian, Einwanderer aus dem Irak. Moshe Sakian ist Busfahrer, seine Frau kümmert sich um den Haushalt und die beiden Kinder. Seine Eltern wohnen im oberen Stockwerk des Hauses.
Die kleine Wohnung im Erdgeschoss beziehen als Untermieter Amir und Noa, ein frischverliebtes Studentenpaar. Sie studiert an der Kunsthochschule Fotografie, er Psychologie. Für Noa und Amir ist das Zusammenleben ein Experiment. Sie haben sich für die Wohnung in dem kleinen Ort nahe der Autobahn entschieden, weil er günstig liegt, wenn man jeden Morgen in entgegengesetzte Richtungen aufbricht. Amir fährt in die Küstenebene nach Tel Aviv, Noa hinauf nach Jerusalem.
In ihrer Nachbarschaft lebt Jotam, ein kleiner Junge, dessen älterer Bruder gerade bei einem Militäreinsatz getötet wurde. Amir freundet sich mit ihm an. Sein Gespür für Menschen macht es ihm möglich, Jotam das Verständnis und die Aufmerksamkeit entgegen zu bringen, die er im Elternhaus vermisst. Dort herrscht Trauer über den Tod seines Bruders. Die Eltern haben sich in sich selbst zurückgezogen, ihr Verhältnis - und das zu Jotam - ist gestört. Auf Amirs Liebe zu Noa legen sich ebenfalls Schatten. Je länger beide zusammen wohnen, desto stärker stellen sie ihre Beziehung in Frage.
Und auch ihre Vermieter geraten in eine Krise. Moshe kommt aus einer religiösen Familie und will seinen Sohn in einen religiösen Kindergarten schicken. Seine Frau lehnt das vehement ab. Es kommt zwischen den Eheleuten zum Streit, zu Missverständnissen und Zweifeln, ob sie überhaupt zueinander passen.
Nevos Roman spielt nicht zufällig zu der Zeit, in der Yitzhak Rabin ermordet wurde. Die Figuren, liebenswert auch mit ihren Macken und unbewussten Prägungen, wollen aufbrechen, ihrem Leben eine neue Qualität geben. Optimistisch sind sie alle zu Beginn der Erzählung. Dann erweist sich die Bewältigung der Realität als zunehmend schwierig. Sensibel spürt Nevo der Befindlichkeit der israelischen Gesellschaft jener Tage nach.
Seit den Osloer Verträgen wurde alles leichter, der spürbar frische Wind trieb viele voran. Israels Sehnsucht nach Frieden schien sich zu erfüllen. Doch der Mord an Rabin erschütterte Staat und Bewohner im Mark. Neue Selbstmordattentate riefen Ängste und Aggressionen hervor. Zweifel und Resignation legten sich schwer auf die kollektive Psyche.
Vor diesem Hintergrund erzählt Eshkol Nevo Alltagsgeschichten, Privatangelegenheiten, Beziehungskisten. Er konzentriert sich auf zwischenmenschliche Konflikte - die sich aber nicht vom gesellschaftlichen Kontext trennen lassen. Mehr noch: das eine ist im anderen verkörpert.
Jede Figur im Roman hat eine Stimme. Multiperspektivisch werden so die Ereignisse geschildert, das Sehnsuchtsmotiv erklingt in verschiedenen Tonlagen. Mal berichtet auch der Erzähler selbst in Versen, mal werden Texte einer imaginären Rockband zitiert. Es entsteht ein Chor, in dem Araber und Israelis, Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder gemeinsam von Schmerz und Lust, Hoffnungen und Verletzungen singen.
Eshkols Roman ist Musik. Ein langes Liebeslied. Getragen und aufbrausend, verhalten und voller Energie. Ein Buch der Lebensfreude - trotz allem, was einem das Leben schwer macht.
Rezensiert von Carsten Hueck
Eshkol Nevo: Vier Häuser und eine Sehnsucht
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2007, 435 Seiten, 15,00 Euro