Lieblingsschriftsteller

Brigitte Kronauer, die in diesen Tagen 70 Jahre alt wird, ist sicher eine der erstaunlichsten deutschen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Die Essays zu ihren literarischen Favoriten sind ein Geschenk an die Leser.
Brigitte Kronauer, die in diesen Tagen 70 Jahre alt wird, ist sicher eine der erstaunlichsten deutschen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie schert sich nicht um Moden und die herrschenden literarischen Diskussionen und hat seit den 70er-Jahren unbekümmert ihren eigenen Stil entwickelt, beeinflusst vom französischen nouveau roman, der höchst unterschiedliche Ausformungen annehmen kann, und der damaligen wildwüchsigen literarischen Zeitschriftenszene, in der etliche Irrlichter und bunte Paradiesvögel ihren Platz fanden.

Wenn Brigitte Kronauer nun sich selbst ein Buch zum Geschenk macht, das ihre Essays zu ihren literarischen "Favoriten" versammelt, dann ist das für ihre Leser noch ein viel größeres Geschenk: Da gibt es unerwartete Leuchteffekte und Wortgirlanden und seltene, merkwürdig faszinierende Funde.

Der englische Pole Joseph Conrad ist sicher am auffälligsten einer ihrer Lieblingsfiguren, der unbeirrbar von der "Gleichgültigkeit des Weltalls" seine Personen unwiderstehlich dagegen ankämpfen lässt. Robert Walser und Adalbert Stifter passen genauso zu ihr wie Jean Paul, aber auch quertreibende Zeitgenossen wie Ror Wolf oder gar Eckhard Henscheid.

Was Kronauer von vornherein ablehnt, ist das, was Robert Musil "primitive Epik" nannte: also das naive Operieren mit tradierten Kunstgriffen, Spannungsaufbau, konventioneller Psychologie. Sie ist für Extremes, für Abschweifung, für das, was Clemens Brentano "Verwilderung" nannte. Es geht ihr um den Ort, wo die Entgrenzungen beginnen. Wo sich die Form verselbständigt. Wo das Literarische eine Eigendynamik entwickelt. In einem wunderschönen kleinen schillernden Text zu Jean Paul zitiert sie seine "drei Wege, glücklicher (nicht glücklich) zu werden": den Blick aus der Vogelperspektive auf die Welt, den Blick von unten aus dem Lerchennest zwischen den Halmen heraus und als "schwerste und klügste" Möglichkeit den Wechsel zwischen diesen beiden Sichtweisen.

Auf diese Weise erhellt Kronauer, ohne davon viel Aufhebens zu machen, ihren eigenen Blick auf die Welt, gespiegelt durch ihre Lieblingslektüren. Dass das nie das ist, was in der jeweiligen Gegenwart immer einhellig als "Mainstream" gefeiert wird, liegt auf der Hand.

Kronauer vergisst auch nicht, den Preis für das ureigene literarische Kunstwerk zu nennen: Wilhelm Raabes Werke etwa wurden formal immer kühner, inhaltlich aber immer pessimistischer, während er von der Kritik und vom Publikum links liegen gelassen eine Familie mit sechs Kindern damit ernähren musste. Und Herman Melville, dessen "Moby Dick" die Urquelle vieler heutiger dicker US-amerikanischer Romane ist, erlebte gerade durch dieses Meisterwerk seinen endgültigen Absturz, verkannt und geächtet von seinen Zeitgenossen. Es ist aber immer bezaubernd, wie Kronauer faszinierende Funken aus alldem schlägt – nicht umsonst endet ihr Buch mit der "List des Perspektivensprungs".

Besprochen von Helmut Böttiger

Brigitte Kronauer: Favoriten. Aufsätze zur Literatur
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2010
198 Seiten, 19,95 Euro