Lily Brett: Alt sind nur die anderen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
82 Seiten, 15 Euro
Die Falten im Gesicht sieht man erst nach der Augen-OP
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Die Schriftstellerin Lily Brett erkundet in einem neuen Kolumnenband das Altwerden. Sie tut das ohne Bitterkeit - lakonisch und immer wieder mit schwarzem Humor gewürzt. Nebenbei porträtiert sie auch noch ihre Stadt New York.
"Das Alter ist kein Krieg, es ist ein Massaker" lautet ein häufig zitierter Satz des amerikanischen Schriftstellers Philip Roth. Es ist ein Satz voller Ernst und Bitterkeit. Er drückt eine Haltung aus, die im Alter nur negative Seiten sieht, es geradezu als Feind all dessen betrachtet, was das Leben lebenswert macht: körperliche Vitalität, Potenz, und geistige Kreativität.
Vom Ehrgeiz junger Jahre befreit
Man könnte aus den Kolumnen von Lily Brett, die das Thema Alter umkreisen und die nun unter dem Titel "Alt sind nur die anderen" gesammelt erscheinen, ein fernes Echo auf die düstere Aussage des berühmten Kollegen heraushören; eine Art weibliche Gegenrede, die der Tragödie des Alters ihre optimistischere Hälfte hinzufügt: die Komödie.
Das Alter, so wie die amerikanisch-jüdische Autorin es beschreibt, ist keineswegs nur ein Schlachtfeld der Erniedrigungen und Einbußen. Es ist eine widersprüchliche Mischung aus vielem. Aus traurigen Abschiedsmomenten und hochkomischen Überraschungen. Aus Verlusten und Errungenschaften wie beispielsweise der, vom Ehrgeiz jüngerer Jahre befreit zu sein und stattdessen ganze Tage mit planlosem Bummeln zu verbringen.
Alter als biographische Wundertüte
Anders gesagt: Das Alter ist bei der 73jährigen Lily Brett eine biographische Wundertüte - und somit etwas ziemlich Lebendiges.
Schonungsloser, gelegentlich auch schwarzer Humor ist ein Kennzeichen ihres Schreibens, nicht zuletzt ihm verdankt Brett den Kultstatus, den sie bei ihrer transatlantischen Fangemeinde einnimmt. Dabei kommt ihr lakonischer Stil der Kurzform der Kolumne besonders entgegen.
In einer erzählt sie von der Erfahrung, kurz vor einem Routinetermin beim Arzt in einem Supermarkt an langen Regalen mit Inkontinenzwindeln vorbeizugehen. In einer anderen berichtet sie vom zweifelhaften Erlebnis, nach einer altersbedingten Augenoperation im Spiegel plötzlich Gesichtsfalten zu sehen, die es bis dahin subjektiv nicht gab.
Zwei Mitarbeiter im Apple Store erklären Lilly Brett die Funktionen ihres neuen iPads, als hätten sie es mit einer Dreijährigen zu tun. Sie rätselt, wie es kommt, dass die New York Times Personen über fünfundsechzig als "älter" bezeichnet, Vierundsechzigjährige aber nicht, und von wem diese Arithmetik eingeführt wurde.
Sie beobachtet im Schreibwarengeschäft eine dreiundneunzigjährige Dame, die sich einen Terminkalender für das kommende Jahr kauft. Offensichtlich erwartet sie nicht nur, das neue Jahr gesund und munter zu erleben, sondern auch, es mit zahlreichen Terminen zu verbringen.
Energiestrom der Metropole
Lilly Bretts Altersheiterkeit hat eine Verbündete, die Stadt New York. Schon im ersten Satz der ersten Kolumne heißt es: "Sich jung zu fühlen fällt in New York leichter als an anderen Orten." Der Energiestrom der Metropole bewahrt vor pessimistischem Phlegma, weshalb sie den sogenannten Altersruhesitzen in grünen Vorstädten bei weitem vorzuziehen ist.
Diese Erkenntnis lässt sich aus dem leichthändigen und vergnüglichen Büchlein gewinnen. Ein dezidierter Ratschlag der Autorin ist es nicht. Denn glücklicherweise hält sie sich nicht nur von der düsteren Roth'schen Altersphilosophie fern, sondern auch vom Genre des Altersratgebers, das seit geraumer Zeit auf dem Buchmarkt boomt.
Lilly Brett flaniert mit wachen Augen durch den stressfreien Alltag einer älteren Frau und porträtiert nebenbei die Stadt, die ihre Heimat geworden ist.