Lina Meruane: "Rot vor Augen"
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Arche Verlag, Zürich 2018
202 Seiten, 20 Euro
Plötzlich blind
Die junge Lucina wird plötzlich blind, als Folge ihrer Diabetes. Es ist ein fundamentaler Bruch für sie, aber auch für ihren Freund und ihre Eltern. "Rot vor Augen" ist ein eindrucksvoller Roman über Liebe, Abhängigkeit und Autonomie.
Die chilenische Schriftstellerin Lina Meruane ist selbst Diabetikerin und hat zuletzt einen Roman geschrieben (der noch nicht auf Deutsch erschienen ist), in dem es um diese Krankheit geht. Auch sie hat eine Zeit der Blindheit erlebt –das literarische Ergebnis ist "Rot vor Augen", im Original 2012 erschienen und ihrem Augenarzt gewidmet. Ursprünglich sollte es ein autobiografischer Text werden - aber die Fiktion, sagt sie, war dann doch reizvoller. Die Fragen, die der Zustand des Blindseins aufwirft, legten alle möglichen Geschichten nahe: Wo endet die Abhängigkeit und wo beginnt die Autonomie? Wie weit geht ein kranker Mensch mit seinen Forderungen an andere? Und wie weit würde eine bedingungslose Liebe gehen?
Aus Hilflosigkeit wird Herrschaft
Die Ich-Erzählerin dieses Romans ist eine chilenische Schriftstellerin namens Lucina Meruane in New York. Sie ist gerade im Begriff, mit ihrem Geliebten in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen, als sie plötzlich erblindet. Niemand weiß, ob dieser Zustand anhalten wird. Zunächst einmal verfolgen die beiden ihre bisherigen Pläne weiter, sie richten ihre New Yorker Wohnung ein, Lucina besucht ihre Familie in Santiago, Ignacio macht eine Dienstreise und soll später nachkommen. Allerdings verbietet sie ihm in der Zeit der Trennung jeden Kontakt.
Da alles aus der Sicht Lucinas erzählt wird und der suggestive, hochemotionale Sprachduktus einen beim Lesen keinen Augenblick loslässt, merkt man erst spät, dass die Hilflosigkeit der Blinden allmählich zu einer Form von Herrschaft geworden ist. Sie weist die Besorgnis und Bevormundung der Eltern zurück, nimmt aber Ignacios Opferbereitschaft an und fordert sie schließlich auf radikale Weise ein. Die Blindheit, so faktenreich sie mit allen medizinischen Details dargestellt ist, wird im Laufe des Romans immer mehr zur Metapher: Für das Fehlende im eigenen Leben, das vom geliebten Gegenüber verlangt wird.
Faszinierende Sprache, faszinierende Figur
Lina Meruanes Sprache ist kondensiert. Da hat jedes Wort seinen Platz, jede Andeutung Gewicht, die gewohnte Hierarchie der Wichtigkeiten existiert nicht mehr. Alle Aufmerksamkeit gilt den Eindrücken und Empfindungen ihrer Erzählerin: dem Pulsieren im Auge, der Ambivalenz beim Abschied von der Mutter, der Kälte des Wintertags in Santiago, der Gier beim Sex. Mit intimer und gleichzeitig präziser Sinnlichkeit erweitert sie so den Horizont des Beschreiblichen – ohne jede Peinlichkeit.
Man ist schnell fasziniert von dieser Figur, fasziniert von ihrer vampirhaften Egozentrik, ihrem Kampf um Alltäglichkeit, ihrem Changieren zwischen Ohnmacht und Macht, ihrer Offenheit, ihrer Hinterhältigkeit und ihrer Verzweiflung. Und von den Worten, die Lina Meruane für all das findet.