Linde Hagerup: "Ein Bruder zu viel"

Liebe trägt die Welt

Ein Mädchen trägt einen kleinen Jungen huckepack über eine lichtdurchflutete Wiese.
Ob man will oder nicht: Geschwister behält man ein Leben lang. © unsplash/ Jenn Evelyn-Ann
Von Kim Kindermann |
Die neunjährige Sara lebt glücklich mit ihrer Schwester und ihren Eltern. Doch als die beste Freundin der Mutter stirbt und die Eltern ihren Sohn bei sich aufnehmen, steht Saras Welt Kopf. Sie beschließt, selbst zu einem Jungen zu werden.
Ein wunderbar feinsinniges Kinderbuch hat Linde Hagerup hier geschrieben. Es ist ihr erstes und bestimmt nicht ihr letztes. Denn so gekonnt, wie die Norwegerin den Ton und die Gefühlswelt ihrer Protagonistin beschreibt, ist außergewöhnlich.
Sara ist neun Jahre alt, hat lange braune Haare, lebt zusammen mit ihrer großen Schwester und den Eltern ein glückliches Leben. Getragen von Wohlwollen und Zuneigung. "Liebe", erklärt Saras Vater gleich am Anfang, "trägt die Welt. Nicht deine Beine tragen dich. Sondern die Liebe." Was ihr Vater damit meint, versteht Sara zwar nicht. Kein Wort. Aber sie wird es lernen. Denn als die beste Freundin der Mutter stirbt, steht Saras Welt plötzlich Kopf.
Steinar, der Sohn der Toten, soll zu ihnen ziehen. Ein Fünfjähriger, den Sara einfach nur blöd findet. Schon immer. Weil er als Einzelkind alles darf und keine Grenzen kennt. Schlimm ist das. Und jetzt soll Sara auch noch ihr Zimmer mit ihm teilen. Gefragt hat sie keiner. Warum auch? Das ist es, was Liebe ausmacht.

Aus Sara wird Alfred

Für Sara, die nur bedingt Mitleid mit dem Waisenjungen hat, beginnt eine schwierige Zeit. Sie will Steinar nicht im Haus haben. Empfindet ihn und sein Geheule als störend. Ist genervt, weil sich alles plötzlich nur noch um ihn dreht. Das morgendliches Papa-Ritual fällt plötzlich aus, es gibt Schokocreme jetzt jeden Tag und nicht mehr nur in den Sommerferien, Steinar darf Cola trinken, Mama verhält sich anders, Papa rasiert sich nicht mehr, ihre Schwester Emilie geht ganz in der Rolle auf, die neue große Schwester zu sein, und motzt dafür mit Sara nur noch rum.
Als Sara dann auch noch ein Gespräch ihrer Eltern belauscht, bei dem die Mutter meint, alles sei einfacher, wenn Sara ein Junge wäre, beschließt Sara genau das: Sie schneidet sich die Haare ab, trägt Jungensklamotten und nennt sich fortan Alfred.
Alfred kann plötzlich alles, was Sara nicht kann. Er ist nett zu Steinar. Spielt mit ihm und kümmert sich. Alfred ist der beste große Bruder der Welt. Aber mit einem hohen Preis für die Eltern: Ihre Sara ist weg, ihr Mädchen. Denn Sara würde es niemals schaffen, lieb zu Steinar zu sein. Auch wenn sie weiß, dass er das braucht. Sie würde immer weiter durchdrehen.
Alfred aber kennt solche Gefühle nicht. Oder doch?

Liebe als einzige Rettung

Meisterhaft baut Linde Hagerup ihre Geschichte um Sara auf. Man denkt und leidet mit der Neunjährigen mit, versteht ihre Gefühle und kommt so ihrer Not sehr nah. Nichts gerät ihr zum Klischee. Sprachlich ist die Autorin ganz nah an ihrer Protagonistin. Sie trifft deren Ton perfekt.
Etwa, wenn sie von der Sehnsucht und Eifersucht schreibt, die Sara heimsucht, als sie wieder einmal mit Steinar streitet und der wieder einmal Recht bekommt, ohne Recht zu haben. Da spürt man Saras Schmerz körperlich. Wie die Kälte des Bettes ihr zusetzt, wie die Sprachlosigkeit sich breitmacht. Einfach großartig beschrieben. Authentisch.
Linde Hagerup hat eine wunderbare Familiengeschichte geschrieben. Eine, die zu Herzen geht und die davon erzählt, dass auch bei besten Absichten vieles schief gehen kann, denn auch Mütter und Väter sind fehlbar. Auch das. Und: dass auch da nur Liebe helfen kann. Denn Liebe trägt die Welt.

Linde Hagerup: "Ein Bruder zu viel"
Übersetzt aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2019
144 Seiten, 14,95 Euro

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