Die Journalistin Annett Gröschner hat ihr Arbeitszimmer in den Straßenbahnen und Bussen dieser Welt. Für ihre Geschichten ist sie schon in New York, Budapest und Peking gewesen. Das Besondere: Sie fährt ausschließlich mit der Linie 4. 2012 erschien ihr Buch "Mit der Linie 4 um die Welt", mit Fotografien von Annett Gröschner und Arwed Messmer in der Deutschen Verlags-Anstalt, München . Auch nach Abschluss des Buches erkundet sie weiterhin Städte mit der Linie 4. Für unsere Reihe "Originalton" ist sie in dieser Woche in Rotterdam. Dort ist sie mit dem Stadtführer Marcel Teunissen unterwegs, der sich hin und wieder mit einem "deutsch-niederländischen Originalton" zu Wort meldet.
Gemeinde der Gestrandeten
Unterwegs mit der Straßenbahnlinie 4 erkundet die Journalistin Annett Gröschner für die Reihe "Originalton" Rotterdam. Diesmal besucht sie die Pauluskirche, die sich der Betreuung der Armen, Drogensüchtigen und Flüchtlingen widmet.
Der Westersingel ist ein kurzes Stück feinere Bahnhofsgegend. Das Goetheinstitut hat hier seine Adresse, das Tschechische Zentrum und die Alliance Francais, Assekuranzen und Anwälte, aber auch asiatische Restaurants und die Gewinner der technischen Revolution, Firmen mit Namen wie Angry Nerds oder Bureaukicker. Bis zum Kanal ging der große Brand nach der Bombardierung im Mai 1940. Und immer fuhr am Kruisplaan die 4.
Am anderen Ufer des Kanals auf dem Mauritsweg und angelehnt an eine Luxuswohnanlage befindet sich die Pauluskirche.
"Es war vorher eine Wiederaufbaukirche, hier stand eine Jugendherberge und ein Kino. Das Kino heißt Calypso und vor, ja, fünf Jahren hat man das niedergerissen und ein Appartementgebäude realisiert und es heißt wieder Calypso. Aber die Bedingung war, die Pauluskirche sollte zurückkommen, integriert werden in der Architektur."
Eine offene Kirche für die Armen und Abhängigen
Von außen sieht der Kirchenbau wie eine Walnuss aus. In einem Buch lese ich, dass die glänzende Kupferhaut und die kaleidoskopartige Oberfläche dem Gebäude den Namen Diamant gegeben hat. Die runde Form und die asymmetrischen Fenster haben etwas Einladendes. Es ist eine offene Kirche, die sich seit den achtziger Jahren der Betreuung der Armen, Drogensüchtigen und Flüchtlingen widmet. Ich betrete den Saal im Erdgeschoss. Die Tische vom Abendbrot sind noch nicht alle weggeräumt. Zwei Frauen sitzen und stricken, die eine mit blauer Wolle, die andere mit roter. Daneben spielen zwei Männer Tischtennis und einer starrt auf die Straße, drei feste Einkaufstaschen bei sich, wie man sie in den Supermärkten bei Großeinkäufen bekommt.
Auf der Balustrade stehen und sitzen Menschen dicht gedrängt, einige trinken schweigend Tee, andere arbeiten an einem der Computer oder unterhalten sich mit den jungen Helferinnen. Auf die Frage, wo denn das Orgelkonzert sei, schickt man mich eine Etage höher in den Kirchenraum. Ich öffne die Tür.
Einmal im Monat spielt der Organist für die Gemeinde aus Gestrandeten und Durchreisenden. Heute sind nur drei gekommen, um ihn zu hören. Die Ausstattung des Kirchenraumes ist schlicht, aber schön. Aus der alten Kirche wurden ein paar Elemente wie das Glasfenster und die Glocke übernommen, der Altar ist ein Tisch, um den herum eine Abendmahlgesellschaft sitzen kann. Die Kanzel ist nicht höher als ein Stehtisch. Als die Orgel schweigt, höre ich draußen die Straßenbahn Nummer 4.