Linie 4 in Rotterdam

Von Möwen, De Kuip und Straßenbahnen

Der unter- und oberirdische Bahnhof Blaak im Zentrum Rotterdams.
Der unter- und oberirdische Bahnhof Blaak im Zentrum Rotterdams. © imago/ Jochen Tack
Von Annett Gröschner |
Die Journalistin Annett Gröschner erkundet für die Reihe "Originalton" die Straßenbahnen dieser Welt. Dabei nimmt sie immer die Linie 4. Diesmal erkundet sie auf diese Weise Rotterdam.
Was ich gedacht habe, wenn ich den Namen Rotterdam hörte, lange bevor ich dort gewesen bin? Möwen, dachte ich und Wasser und Hafen. Und Fußball. Ich dachte an die Zeit, als ich ein Kind war und süchtig nach seltsamen Worten. Am Anfang der Klang wie ein Maschinengewehr und am Ende tut sich ein Horizont auf, hinter dem noch ein Horizont sich befindet. Und ein Schlachtgesang:
Neunzehnhundertvierundsiebzig, 8. Mai/ im Kuip von Rotterdam/ hielt der Paule Seguin/ den Europacup in seiner Hand/ Sieben Tränen muss ein Clubfan weinen.
Wenn ich an Rotterdam denke, denke ich an das mit 5000 Gästen am schlechtesten besuchte Europacupspiel der Geschichte und dass sich der 1. FC Magdeburg von diesem Triumph über den AC Mailand bis heute nicht erholt hat.
Und noch eine Verbindung gibt es zu meiner Kindheitsstadt: die fast vollständige Zerstörung der Innenstadt im Zweiten Weltkrieg und die Schwierigkeiten beim Wiederaufbau. Und die Straßenbahnlinie 4. Mit der will ich eine Woche unterwegs sein, begleitet von dem Stadtführer Marcel Teunissen.
Archaisch und zukünftig zugleich
Rotterdam hat ein Ticketsystem, das archaisch und zukünftig zugleich ist. Jeder Fahrgast muss mit einer Chipcard ein- und auschecken. Vergisst man das Auschecken, sind 4 Euro weg. Checkt man ordentlich aus, wird nur die Dauer der Fahrt berechnet. Ein Alptraum für Datenschützer, lässt sich doch ein lückenloses Bewegungsprofil daraus bauen.
Aber nein, beschwichtigt die Pressesprecherin des örtlichen Transportunternehmens RET, die ich besuche, das sei nur zu meiner Sicherheit und die Daten geschützt. Zusätzlich fährt in jeder Bahn noch ein Schaffner mit, der an Leute ohne Chipcard Fahrscheine verkauft, die Ausweise ohne Ankündigung kontrolliert, alten Leuten aus der Bahn hilft und ein Auge auf Pubertierende hat. Ein Job für Alleinunterhalter.
Dreißig Stationen hat die Linie 4 in Rotterdam. Von Nord nach West führend, fährt sie vom reichen Hillegersberg über den Alten Norden mit dem Gefängnisdistrikt zu den Rändern des Zentrums mit seinen Einkaufsstraßen, streift den neuen Centraal Bahnhof mit seinem kühn gezackten Dach und Rotterdams Chinatown, biegt nach rechts in den Alten und heute multikulturellen Westen und gelangt über das historische Delfshaven bis an die Grenze zu Schiedam. Nicht gerade schick, die Gegend.
O-TON STADTFÜHRER: "Es ist Zufall, aber Linie 4 durchkreuzt die ärmere Viertel der Stadt zum Teil. Aber das ist auch die interessantere."
Dabei sammelt die 4 so viele Welten ein und spuckt sie wieder aus, wie es sie gibt in Rotterdam, wo Menschen aus mehr als 150 Nationen ein Zusammenleben immer wieder proben und aufführen.

Die Journalistin Annett Gröschner hat ihr Arbeitszimmer in den Straßenbahnen und Bussen dieser Welt. Für ihre Geschichten ist sie schon in New York, Budapest und Peking gewesen. Das Besondere: Sie fährt ausschließlich mit der Linie 4. 2012 erschien ihr Buch "Mit der Linie 4 um die Welt", mit Fotografien von Annett Gröschner und Arwed Messmer in der Deutschen Verlags-Anstalt, München . Auch nach Abschluss des Buches erkundet sie weiterhin Städte mit der Linie 4. Für unsere Reihe "Originalton" ist sie in dieser Woche in Rotterdam. Dort ist sie mit dem Stadtführer Marcel Teunissen unterwegs, der sich hin und wieder mit einem "deutsch-niederländischen Originalton" zu Wort meldet.