Linke Kindheit
Richard David Precht schildert in "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" die Lebenswirklichkeit einer Solinger Familie und seine linke Kindheit in den siebziger Jahren. 1964 geboren, skandierte er quasi schon in der Wiege "Ho-Ho-Ho-Chi-Minh!" in Anspielung auf den Vietnam-Krieg und erlebte mit Kinderaugen, wie seine Eltern zu Kommunisten wurden.
Wer die ganze Wahrheit über 1968 erfahren will, muss sich mit den siebziger Jahren beschäftigen. Die beschwingten Tage des Protestes waren vorbei, nun kam die uncharmante Nachgeschichte, das Vergrübelte, Verquälte, Fundamentalistisch-Fanatisierte.
In wenigen Jahren entstanden in der Bundesrepublik mehr kommunistische Parteien als im ganzen Jahrhundert zuvor. Zehntausende junge Deutsche traten in sektenähnliche politische Organisationen ein. Es war "Totalitarismus light". Dabei waren die 70er Jahre ein Wohlstandsjahrzehnt sondergleichen. Während die marxistische Verelendungstheorie en vogue war, erstritten die Gewerkschaften nie dagewesene Lohnerhöhungen. Revolutionär war die Situation ganz gewiss nicht. Im Rückblick setzt sich deshalb ein gewisses Kopfschütteln durch.
Mit "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" legt Richard David Precht jedenfalls ein Buch vor, in dem er sich mit dem gewissen Kopfschütteln seinen politisierten siebziger Jahren zuwendet. 1964 geboren, skandierte er quasi schon in der Wiege "Ho-Ho-Ho-Chi-Minh!" und erlebte mit Kinderaugen, wie seine Eltern zu Kommunisten wurden. Sein Buch schildert die von den antiautoritären Ideen geprägte Lebenswirklichkeit einer Solinger Familie. Der Vater, Jahrgang 1933, war 1968 bereits ein Spätberufener, zudem als Designer für Haushaltsgeräte an heikler Stelle für den Kapitalismus tätig. "Design ist Beschiss", bekannte er zerknirscht, ohne daraus allerdings Konsequenzen zu ziehen.
Um nicht als schäumender Anti-Achtundsechziger missverstanden zu werden, streicht Precht die guten Gründe des damaligen Protestes heraus. Vor allem das Massakrieren in Vietnam verletzte das Gerechtigkeitsempfinden einer ganzen Generation. Noch berüchtigter als Napalm wurde das dioxinhaltige "Entlaubungsmittel" agent orange, dem allein mehrere Millionen Vietnamesen zum Opfer gefallen sein sollen. Ziemlich vergessen heute auch, dass damals noch fast alle Staaten Südeuropas mit Ausnahme Italiens Diktaturen waren, die - mehr oder weniger - von den Vereinigten Staaten ausgehalten wurden.
Verstörend empfanden auch die Prechts die Bilder der verbrannten und verstümmelten vietnamesischen Kriegskinder. Und ließen es nicht bei politischer Fernstenliebe bewenden. Sie adoptierten zwei vietnamesische Waisen. Die familiäre Achse Saigon-Solingen sorgte für Aufsehen. Das Fernsehen ließ sich die rührende Story nicht entgehen; die Lokalzeitung widmete der Familie eine ganze Seite, unter dem Herzenskitsch-Titel: "Ihr Christkind kam aus Vietnam." Precht spürte früh: Seine Familie war ganz anders als das Solinger Durchschnittskleinbürgertum, und für dieses schöne Gefühl ist er den Eltern bis heute loyal verbunden. Eine Abrechnung à la Sophie Dannenberg ("Das bleiche Herz der Revolution") will sein Buch bei aller kritischen Süffisance nicht sein.
Die Prechts versuchten den Antiamerikanismus auch im Alltag durchzuhalten: ob Ketchup oder Coca Cola: alles "amerikanische Scheiße", Schminke auf einer brutalen Fratze. Daktari, Fury, Flipper, Lassie kommen nicht ins Haus - in dieser Konsequenz wird die zweite Stufe der Revolte sichtbar, die keinen Spaß mehr verstehen wollte. Auch die angloamerikanische Popmusik, die manchem Veteranen der Revolte heute - im Gegensatz zum peinlich gewordenen sozioökonomischen Politjargon – als eigentliche Errungenschaft von 1968 erscheint, gilt im Hause Precht als unkorrekt. Man bevorzugt Barden wie Franz Josef Degenhardt oder Hannes Wader. Das waren wenigstens keine Amerikaner.
Ausgiebig rekapituliert Precht seine frühen Lektüren, Bilder- und Kinderbücher, um den pädagogischen Furor der Zeit zu vergegenwärtigen: "Räuber Hotzenplotz", ideologiekritisch vorgeführt. Gut waren dagegen Kinderbücher, deren Bebilderung subtile Botschaften wie "USA=SS" oder "Der Hausbesitzer ist ein Arschloch" vermittelte. Aber auch wenn Precht Abwege der antiautoritären Bewegung und die zunehmende ideologische Verengung seiner Erziehung vorführt, er vergisst darüber nicht, wie es noch Anfang der siebziger Jahre in vielen Grundschulen um die pädagogische Kunst bestellt war: Ohrfeigen, Kopfnüsse, In-die-Ecke-Stellen. Später differenzieren sich die Eindrücke: "Die Alten mochten reaktionär sein, sie waren doch Charaktere...". Und nicht so langweilig wie die linken Junglehrer mit ihrer ewigen "Gruppenarbeit".
Bei der legendären Fußballweltmeisterschaft 1974 drückten die Prechts natürlich der DDR-Mannschaft die Daumen und feierten Sparwassers Schüsse. In Sachen DDR übt das Buch eine matte Ironie aus dem Geist der kindlichen erlebten Rede: "In der DDR gibt es für meinen Vater keine Arbeit. Offensichtlich braucht man drüben keine Designer, weil alles ohnehin schon schön und richtig gestaltet ist." Eine Herausforderung für die elterliche Logik war es allerdings, zu erklären, wie aus den glanzvollen Schriften von Marx' die langweiligen Verlautbarungen eines Erich Honecker werden konnten: Die Härte des internationalen Klassenkampfes bevorzugte eben die am wenigsten differenzierten Funktionäre.
Anfang der achtziger Jahre erwischt dann der fröhliche neue Materialismus den Gymnasiasten Precht auf dem falschen Fuß. Plötzlich war er einer der letzten Langhaarigen in seiner Schule - umgeben von so genannten "Poppern".
Leider ist das Buch nachlässig geschrieben. Man muss Formulierungen ertragen wie: "Meine Jugend in Erwartung einer Gesellschaft, die in meinem Kopf schon blühte, in Wirklichkeit dagegen nur kurz als Keimblatt sichtbar durch den Asphalt brach." Vor allem in der zweiten Hälfte verplaudert sich Precht in beliebigem politischem Feuilletonismus, referiert allzuviel Wohlbekanntes. Während Vietnam durch die Adoptionen erzählerisch integriert ist, bleibt die Einbindung der politischen Informationen sonst oft äußerst dürftig: "Meine Mutter trank Tee, und Hanna und ich heißen Kakao. Auf dem Tisch lag eine Zeitung. Eine Frau namens Beate Klarsfeld hatte Bundeskanzler Kiesinger auf dem CDU-Parteitag in West-Berlin geohrfeigt." Es stört zudem der Narzissmus, mit dem Precht auch weniger ergiebige private Details ausbreitet. Kurz: Trotz des streckenweise interessanten thematischen Zugriffs bleibt das Buch unbefriedigend.
Richard David Precht:"Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Meine kleine deutsche Revolution." Claassen
In wenigen Jahren entstanden in der Bundesrepublik mehr kommunistische Parteien als im ganzen Jahrhundert zuvor. Zehntausende junge Deutsche traten in sektenähnliche politische Organisationen ein. Es war "Totalitarismus light". Dabei waren die 70er Jahre ein Wohlstandsjahrzehnt sondergleichen. Während die marxistische Verelendungstheorie en vogue war, erstritten die Gewerkschaften nie dagewesene Lohnerhöhungen. Revolutionär war die Situation ganz gewiss nicht. Im Rückblick setzt sich deshalb ein gewisses Kopfschütteln durch.
Mit "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" legt Richard David Precht jedenfalls ein Buch vor, in dem er sich mit dem gewissen Kopfschütteln seinen politisierten siebziger Jahren zuwendet. 1964 geboren, skandierte er quasi schon in der Wiege "Ho-Ho-Ho-Chi-Minh!" und erlebte mit Kinderaugen, wie seine Eltern zu Kommunisten wurden. Sein Buch schildert die von den antiautoritären Ideen geprägte Lebenswirklichkeit einer Solinger Familie. Der Vater, Jahrgang 1933, war 1968 bereits ein Spätberufener, zudem als Designer für Haushaltsgeräte an heikler Stelle für den Kapitalismus tätig. "Design ist Beschiss", bekannte er zerknirscht, ohne daraus allerdings Konsequenzen zu ziehen.
Um nicht als schäumender Anti-Achtundsechziger missverstanden zu werden, streicht Precht die guten Gründe des damaligen Protestes heraus. Vor allem das Massakrieren in Vietnam verletzte das Gerechtigkeitsempfinden einer ganzen Generation. Noch berüchtigter als Napalm wurde das dioxinhaltige "Entlaubungsmittel" agent orange, dem allein mehrere Millionen Vietnamesen zum Opfer gefallen sein sollen. Ziemlich vergessen heute auch, dass damals noch fast alle Staaten Südeuropas mit Ausnahme Italiens Diktaturen waren, die - mehr oder weniger - von den Vereinigten Staaten ausgehalten wurden.
Verstörend empfanden auch die Prechts die Bilder der verbrannten und verstümmelten vietnamesischen Kriegskinder. Und ließen es nicht bei politischer Fernstenliebe bewenden. Sie adoptierten zwei vietnamesische Waisen. Die familiäre Achse Saigon-Solingen sorgte für Aufsehen. Das Fernsehen ließ sich die rührende Story nicht entgehen; die Lokalzeitung widmete der Familie eine ganze Seite, unter dem Herzenskitsch-Titel: "Ihr Christkind kam aus Vietnam." Precht spürte früh: Seine Familie war ganz anders als das Solinger Durchschnittskleinbürgertum, und für dieses schöne Gefühl ist er den Eltern bis heute loyal verbunden. Eine Abrechnung à la Sophie Dannenberg ("Das bleiche Herz der Revolution") will sein Buch bei aller kritischen Süffisance nicht sein.
Die Prechts versuchten den Antiamerikanismus auch im Alltag durchzuhalten: ob Ketchup oder Coca Cola: alles "amerikanische Scheiße", Schminke auf einer brutalen Fratze. Daktari, Fury, Flipper, Lassie kommen nicht ins Haus - in dieser Konsequenz wird die zweite Stufe der Revolte sichtbar, die keinen Spaß mehr verstehen wollte. Auch die angloamerikanische Popmusik, die manchem Veteranen der Revolte heute - im Gegensatz zum peinlich gewordenen sozioökonomischen Politjargon – als eigentliche Errungenschaft von 1968 erscheint, gilt im Hause Precht als unkorrekt. Man bevorzugt Barden wie Franz Josef Degenhardt oder Hannes Wader. Das waren wenigstens keine Amerikaner.
Ausgiebig rekapituliert Precht seine frühen Lektüren, Bilder- und Kinderbücher, um den pädagogischen Furor der Zeit zu vergegenwärtigen: "Räuber Hotzenplotz", ideologiekritisch vorgeführt. Gut waren dagegen Kinderbücher, deren Bebilderung subtile Botschaften wie "USA=SS" oder "Der Hausbesitzer ist ein Arschloch" vermittelte. Aber auch wenn Precht Abwege der antiautoritären Bewegung und die zunehmende ideologische Verengung seiner Erziehung vorführt, er vergisst darüber nicht, wie es noch Anfang der siebziger Jahre in vielen Grundschulen um die pädagogische Kunst bestellt war: Ohrfeigen, Kopfnüsse, In-die-Ecke-Stellen. Später differenzieren sich die Eindrücke: "Die Alten mochten reaktionär sein, sie waren doch Charaktere...". Und nicht so langweilig wie die linken Junglehrer mit ihrer ewigen "Gruppenarbeit".
Bei der legendären Fußballweltmeisterschaft 1974 drückten die Prechts natürlich der DDR-Mannschaft die Daumen und feierten Sparwassers Schüsse. In Sachen DDR übt das Buch eine matte Ironie aus dem Geist der kindlichen erlebten Rede: "In der DDR gibt es für meinen Vater keine Arbeit. Offensichtlich braucht man drüben keine Designer, weil alles ohnehin schon schön und richtig gestaltet ist." Eine Herausforderung für die elterliche Logik war es allerdings, zu erklären, wie aus den glanzvollen Schriften von Marx' die langweiligen Verlautbarungen eines Erich Honecker werden konnten: Die Härte des internationalen Klassenkampfes bevorzugte eben die am wenigsten differenzierten Funktionäre.
Anfang der achtziger Jahre erwischt dann der fröhliche neue Materialismus den Gymnasiasten Precht auf dem falschen Fuß. Plötzlich war er einer der letzten Langhaarigen in seiner Schule - umgeben von so genannten "Poppern".
Leider ist das Buch nachlässig geschrieben. Man muss Formulierungen ertragen wie: "Meine Jugend in Erwartung einer Gesellschaft, die in meinem Kopf schon blühte, in Wirklichkeit dagegen nur kurz als Keimblatt sichtbar durch den Asphalt brach." Vor allem in der zweiten Hälfte verplaudert sich Precht in beliebigem politischem Feuilletonismus, referiert allzuviel Wohlbekanntes. Während Vietnam durch die Adoptionen erzählerisch integriert ist, bleibt die Einbindung der politischen Informationen sonst oft äußerst dürftig: "Meine Mutter trank Tee, und Hanna und ich heißen Kakao. Auf dem Tisch lag eine Zeitung. Eine Frau namens Beate Klarsfeld hatte Bundeskanzler Kiesinger auf dem CDU-Parteitag in West-Berlin geohrfeigt." Es stört zudem der Narzissmus, mit dem Precht auch weniger ergiebige private Details ausbreitet. Kurz: Trotz des streckenweise interessanten thematischen Zugriffs bleibt das Buch unbefriedigend.
Richard David Precht:"Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Meine kleine deutsche Revolution." Claassen