Eisenacher Archiv für Blues, Jazz und Rock

Every Day I Have the Blues

Blick in das Jazzarchiv. In einem Dachgeschoss mit Holzbalken stehen viele Regale mit Schallplatten und Büchern.
Das Jazz Archiv Eisenach © picture-alliance / ZB / Michael Reichel
Von Knut Benzner |
Horst Lippmann und Fritz Rau waren Musikliebhaber, die sich schon während des Nazi-Regimes mit Jazz, Blues und populärer Musik beschäftigten. Sie hinterließen kulturelle Schätze, die heute im Lippmann+Rau-Archiv Eisenach zu erleben sind.
Eisenach ist ein beschauliches Städtchen. Die Bevölkerung hält sich seit einigen Jahrzehnten konstant bei etwa 41.000 Einwohnern. Bekannt als Geburtsort von Johann Sebastian Bach und Horst Lippmann, der 1927 in Eisenach geboren wurde, bevor seine Eltern nach Frankfurt am Main übersiedelten.

Aus Liebe zur Musik

Horst Lippmann (1927-1997) und Fritz Rau (1930-2013), Namensgeber des Eisenacher Lippmann+Rau-Archivs, sind unter den Musikliebhabern jene gewesen, die Jazz, Rock und Blues nach Deutschland brachten.
Lippmann war Schlagzeuger und Bassist, Konzertveranstalter, Hörfunkautor, Fernsehregisseur, Mäzen. Er hatte 1941 in Erinnerung und wahrscheinlich auch Verehrung an Django Reinhardt und Stéphane Grapelli und deren „Hot Club de France" die "Hotclub Combo“ gegründet.
Unter der US-Besatzung hatten sich zwar die rechtlichen Bedingungen für Jazz und Blues zum Positiven gewandelt, aber die Einstellung vieler Menschen und Institutionen gegenüber dem Jazz als sogenannter "Neger-“, "Urwald-“ und "Judenmusik“ bestand fort. Die Agenturen weigerten sich, Konzerte dieser Art zu veranstalten.
Also hat sich Lippmann gedacht: Mache ich das selbst. 1955 lernte Lippmann Fritz Rau kennen, Gerichtsreferendar und Rechtsanwalt aus Pforzheim, nebenbei Tourneeleiter und Kofferträger. 1963 bot Lippmann Rau eine Zusammenarbeit in dessen Konzertagentur an: Lippmann + Rau war geboren.
Bekannt wurden die beiden dann durch das American Folk Blues Festival, es folgten Tourneen mit Jimi Hendrix, Led Zeppelin, Joan Baez, Bob Dylan, Marlene Dietrich.
Fritz Rau steht an einem Lesepult
Fritz Rau bei einer Lesung 2012© imago
Kathrin Brigl, Autorin einer Fritz Rau-Biografie, über Lippmann und Rau: „Fritz musste sich nach oben kämpfen, keine Unterstützung, sondern sich selbst erfinden sozusagen, und das war das Interessante an diesen beiden Figuren, dass der eine ein Intellektueller war und Fritz ein doch sehr emotionaler Mensch, auch immer geblieben, also tief innen waren sie Freunde, wirklich richtig Freunde, die einander vertrauten, aber von außen betrachtet äußerst unterschiedlich."

Der Jazzclub in Eisenach

Der Sport- und Theaterwissenschaftler Reinhard Lorenz ist Gründer und Spiritus Rector des Lippmann+Rau-Archivs und erinnert sich: "Es gab eben nicht nur die Szene in Berlin, Leipzig und Dresden, sondern die Provinz war eigentlich besiedelt mit Jazzclubs, die zum Teil nur einige Jahre dem politischen Druck standgehalten haben, dann von der Bildfläche verschwanden oder wieder erstanden sind. Diese Richtung, dass Jazz etwas mit Freiheit zu tun hat, das ist uns immer deutlicher geworden."
Die "Alte Mälzerei" liegt im Nordosten der Stadt. 1988 entdeckte der Jazzclub Eisenach das gründerzeitliche Industriegebäude, in dem ehedem Kaffee, Gerste, Malz bearbeitet wurde. Inzwischen ist das Industriedenkmal Kulturfabrik und Spielstätte und wichtiges Zeugnis der regionalen Technikgeschichte.
Seit 1999 beherbergt die "Alte Mälzerei" das Lippmann+Rau-Archiv, das 2009 in die Trägerschaft der Lippmann+Rau-Stiftung übergeben wurde. Die Sammlungsbestände gehen inzwischen über Blues und Jazz hinaus und umfassen das gesamte Spektrum der sogenannten populären Musik.
Literatur, Schriftgut, Lektüre, Kassetten, Schellackplatten, Schallplatten, Skizzen, Mitschnitte und und und: Afrikanische Musik, lateinamerikanische Musik, Folk, Country, Chanson, Lied, Punk, Hardcore, Metal, Hip-Hop, Reggae, Blues natürlich mit Bildbänden und Diskografien, Black Music; Gospel, Spirituals, Rythm and Blues, Soul, Kulturgeschichte, Kultur der 1960er, etwa die Hippiebewegung, Jazz und dessen Bildbände, musikbezogene Lyrik und Prosa, Plattenlabels, Musiktechnologie, Musik und Medien in Form von Film, Literatur, Fotografie und Kunst und Programmhefte und Flyer von Festivals und Veranstaltungen.

Nachlass und Sammlungen

Den Grundstock hatte der Nachlass des deutschen Blues- und Jazzpioniers Günter Boas gelegt, 1920 in Dessau geboren, 1943 wegen des Hörens von Jazzsendungen im Rundfunk denunziert. Er war ein Freund von Lippmann und Rau und ist 1993 in Selm bei Unna verstorben.
Horst Lippmann (li.,/GER Geschäftsführer Agentur LIPPMANN+RAU) überreicht der Sängerin Joan Baez (re.,/USA) einen Blumenstrauß anlässlich eines Konzerts in Frankfurt
Horst Lippmann und die Sängerin Joan Baez.© imago/ Hoffmann
Auch die Sammlung des Theologen Heinrich Gosse aus Hannover ist dort zu finden. Er ist im Januar 2018 verstorben. Er hat „sich für afroamerikanische Bürgerrechtsbewegungen, speziell für das Wahlrecht der Afroamerikaner eingesetzt, und war vom Charisma des Bürgerrechtsführers Martin Luther King so angetan, dass er sich ein Leben lang fortan damit beschäftigt hat, mehrere Bücher über King geschrieben hat, Vorträge gehalten hat, korrespondiert hat mit Gleichgesinnten. Dieser Nachlass, der herausragt auch aus dem schon ohnehin bunten Nachlass-Landschaften des Archivs, der liegt uns sehr am Herzen," erklärt Reinhard Lorenz.

Der Jazz in England und Frankreich

Jazz hatte es in England gegeben, er stand allerdings vor ähnlichen Schwierigkeiten wie französischer Jazz. Autoritätspersonen sahen ihn als schlechten Einfluss an, als aufrührerisch oder nervtötend.
Den Blues hatten Seeleute aus den USA von zu Hause mitgenommen, als Singles und LPs haben sie ihn in die Häfen von Liverpool, Norwich, London, Southampton und Swansea gebracht. Eric Clapton erinnert sich, dass diese Singles und LPs keine Plattencover hatten. Sie waren eingepackt in dickeres braunes Papier, ohne Foto ...
Frankreich, insbesondere Paris, war nach dem Krieg das Bebob-Land. Die Kritiker, die für die Pariser Zeitungen darüber berichteten, waren die gleichen, die Matineen, Symphoniekonzerte und Opern rezensierten. Neue Jazzplatten wurden mit der gleichen Ernsthaftigkeit vorgestellt wie neue Bücher. Im Großen und Ganzen sahen sich schwarze Musiker in Frankreich aber weniger Diskriminierungen ausgesetzt als bei ihnen zu Hause, und ohne Frage wurde ihre Musik viel mehr verehrt und respektiert. Sie hatte einen kulturellen Status.

Terra incognita Populärkultur

Der Kulturjournalist Siegfried Schmidt-Joos fasst es so zusammen:
"Ich glaube, dass man sich auf einen Satz von Fritz Rau beziehen kann, der gesagt hat: Lippmann hat versucht, eine Welt zu dokumentieren, wo Kultur nicht eine Sache von hohen Töchtern und Akademikern ist, sondern wo es ums Überleben geht. Also die Populärkultur aus Gegenden, die in Europa überhaupt terra incognita waren. Dieses alle ist Populärkultur, die in Deutschland von der Hochkultur immer als zweitrangig gesehen worden ist. Lippmann und Rau haben dafür gesorgt, dass diese Kultur auch als Populärkultur anerkannt worden ist."
Ulla Meinecke steht auf einer Konzertbühne und hat ein Mikrofon in der Hand.
Sängerin Ulla Meinecke bei einem Konzert 2018.© imago / Hartenfelser / Peter Hartenfelser
"Ich stamme aus Frankfurt, im hessischen Hinterland bin ich geboren und von 12 bis 22 in Frankfurt. Das war natürlich für das Alter der genialste Ort in Deutschland. Denn da war die größte amerikanische Garnison und da waren diese unglaublichen Männer, nämlich der Horst Lippmann und der Fritz Rau, die haben den Jazz nach Deutschland geholt, den Blues, den Folk und dann die Rockmusik“, erinnert sich Ulla Meinecke, die heute dem Kuratorium der Lippmann+Rau-Stiftung angehört.

Jazz zwischen Ost und West

Reinhard Lorenz erklärt: "Das ist Teil der Konzeption, diese Geschichte Ost-West mit zu erzählen, dieses Phänomen, dass autokratische Systeme augenscheinlich immer Angst vor einer Musik haben, die nicht im Gleichschritt daherkommt, der Takt also entscheidend ist."
Siegfried Schmidt-Joos hat eines seiner Bücher genannt "Die Stasi swingt nicht" und hat eigentlich ein Achtungszeichen gesetzt, dass diese Musik in der DDR, sie war nicht verboten, sie unterlag politischen Stimmungsschwankungen, aber sie war nicht so richtig gelitten.
Walter Ulbricht, Staatsratsvorsitzender, bezeichnete Jazz als die "Kultur des amerikanischen Imperialismus, als Affenkultur". Für die DDR-Behörden war Jazz "ganz ungetarntes Propagandamittel imperialistischer Politik".
In der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre erreichte eine kulturelle Bewegung den Zenit, deren langhaarige und bärtige Anhänger sich selbst als "Blueser", "Kunden" oder "Tramper" bezeichneten. Diese Strömung war nicht nur die vitalste und dauerhafteste Jugendszene des Ostens, sondern auch eine ausgesprochene Eigenheit der DDR.
Das Leitbild, dem die einander ablösenden Generationen von "Langhaarigen" folgten, blieben die Ideale der Hippie-Ära. "Freiheit", "Authentizität" und "Nonkonformismus" waren primäre Werte, die sich in ihren Verhaltensmustern, musikalischen Vorlieben und Outfits niederschlugen.

Von der Konzertagentur zum Archiv

Siegfried Loch, selbst erfolgreicher Musikmanager, über die Agentur Lippmann+Rau: „Die Firma gehörte zwar noch beiden, aber eigentlich der Motor für die Agentur, die Weiterentwicklung der Agentur, des Konzertbüros, war der Fritz, er war ein großer Musikfan; aber er wollte Erfolg.  Und er konnte es auch, er hat sich sehr gut verstanden mit den Musikern, er hatte wunderbare Kontakte gepflegt und hat eben auch durch sehr enge Beziehungen eben diese Firma zum Weltruhm geführt.“  

1989 kam es zur Fusion von Lippmann+Rau mit Marcel Avrams MaMa-Concerts, 1997 wurde Avram wegen Steuerhinterziehung zu 42 Monaten Gefängnis verurteilt und MaMa Concerts & Rau wurde liquidiert.
Marcel Avram hält ein Konzertplakat des Sängers Lionel Ritchie in die Kamera
Konzertveranstalter Marcel Avram.© imago / Stefan M. Prager

Zukunftsvision

Heute findet sich der Nachlass im Archiv und das braucht zweierlei: Geld und Personen, die inventarisieren, katalogisieren und dadurch das Archiv nutzbar machen – nicht nur für Fachbesucher, sondern auch für die interessierte Öffentlichkeit. Aktuell gibt es zwei Musikwissenschaftler, die die Sammlung erschließen und sichern. Reinhard Lorenz plant:
"Wir wollen das Jahr 2023 zu einem Höhepunkt-Jahr machen, dann wird das Denkmal, die `Alte Mälzerei´, 150 Jahre alt werden, dass wollen wir zum Anlass nehmen, doch unsere Vision auch noch Mal politisch unterzubringen. Wir hoffen, dass wir über die Ebene Bund und Land doch wieder einen Schritt weiter kommen."

Literatur:
Fritz Rau: 50 Jahre Backstage. Erinnerungen eines Konzertveranstalters
Palmyra Verlag, Heidelberg 2005

Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2022. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.

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