"Liquid Democracy" wird nicht funktionieren

Von Markus Reiter · 08.11.2011
Das Konzept "liquid democracy" soll die Demokratie revolutionieren: Bürger stimmen entweder online über politische Fragen ab - oder delegieren die individuelle Entscheidung an Parteien oder andere Bürger. Doch das System birgt Risiken.
Zurzeit scheint alle Welt davon überzeugt zu sein, dass sich die Probleme auf dem Globus nur durch mehr Bürgerbeteiligung lösen lassen. Egal ob Euro-Rettung, Windrad-Standorte oder ein unterirdischer Bahnhof - was die Politiker nicht hinbekommen, dass sollen die Bürger selbst in die Hand nehmen. Allerdings mag man ihnen nicht die Last auferlegen, sich wie im Dauer-Volksabstimmungsland Schweiz jeden dritten oder vierten Sonntag zur Wahlurne schleppen zu müssen.

Deshalb sind einige Politik-Theoretiker auf das Internet verfallen. Die Piratenpartei, gerade auf Höhenflug in den Meinungsumfragen, erprobt in ihren eigenen Reihen ein System, das auf lange Sicht die gesamte Gesellschaft permanent in den Zustand der Abstimmungsfähigkeit versetzten würde - jedenfalls jenen Teil der Gesellschaft, der online aktiv ist. Dieses System nennt sich "liquid democracy".

Es soll technisch ermöglichen, dass sich jeder Bürger jederzeit entscheiden kann, ob er über eine politische Frage selbst abstimmen will oder diese Entscheidung - und nur diese Entscheidung - an eine andere Person oder an eine Partei delegieren möchte. So könne man zum Beispiel die Steuerpolitik der SPD überlassen, die Umweltpolitik den Grünen, die Schulpolitik einer Privatperson Hans Müller und über das Hochschulzugangsgesetz selber entscheiden.

Würde diese Form der Online-Demokratie zu besserer Politik führen? Vermutlich nicht. Denn die Erfinder der "liquid democracy" gehen von drei Voraussetzungen aus, die eher von Blauäugigkeit zeugen als von einem realistischen Politikverständnis.

Erstens: Die Macher glauben,wer bei einer Abstimmung im Netz unterlegen ist, wird seine Niederlage akzeptieren und schweigen. Das ist unwahrscheinlich. Vielmehr werden die Unterlegenen behaupten, es sei bei der Abstimmung belogen und betrogen worden, die Fragestellung sei falsch gewesen, die falschen Leute hätte abstimmen dürfen oder Ähnliches.

Zweitens: "Liquid democracy" mag zwar in einem theoretischen Sinne die demokratische Legitimität von Entscheidungen erhöhen. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass permanente Volksabstimmungen am Ende zu einer besseren Politik führen. Im Gegenteil: Wichtige Entscheidungen von der Ostpolitik bis zum Nato-Doppelbeschluss haben sich erst nach einiger Zeit als richtig erwiesen. Zunächst hatten sie keine Mehrheit in der Bevölkerung.

Drittens: "Liquid democracy" setzt eine permanente Politisierung der Gesellschaft voraus. Selbst wer die meisten Entscheidungen delegiert, muss zuvor darüber entschieden haben, ob er selber abstimmen will oder nicht. Eine solche Dauerpolitisierung überfordert die meisten Menschen. Die Folge: Schlagkräftige Online-Aktivisten können wichtige Entscheidungen kapern.

Kurzum: Als "liquid democracy" wird Online-Demokratie nicht funktionieren. Dennoch kann das Internet entscheidend dazu beitragen, unsere Demokratie besser zu machen. Dazu ist es notwendig, von einem realistischeren Demokratiebild auszugehen. Für den Sozialphilosophen Sir Karl Popper bestand Demokratie darin, dass die Bürger ihre gegenwärtige Regierung auf unblutige Weise durch eine neue ersetzen können. Etwas weiter gefasst kann man hinzufügen: In einer repräsentativen Demokratie können Bürger ihre gewählten Vertreter für deren Entscheidungen zur Verantwortung ziehen - und sie abwählen.

Dazu müssen die Bürger über das Handeln ihrer Repräsentanten informiert sein. Hierin liegt die eigentliche Stärke des Internets: Es schafft Transparenz. Bürger müssen im Netz jederzeit nachprüfen können, wer für einen Abgeordneten gespendet hat, wie er im Parlament abgestimmt hat, welche Position er oder sie zu einem bestimmten Thema einnimmt. Portale wie abgeordentenwatch.de zeigen schon heute, wie diese Transparenz im Netz aussehen kann.

Die repräsentative Demokratie hat sich in Deutschland bewährt. Online-Demokratie sollte nicht versuchen, sie zu überwinden. Im Gegenteil: Das Internet kann sie stärker machen.

Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation.


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