Lisa Moore: "Fremde Hochzeit". Erzählungen
Aus dem Englischen von Kathrin Razum
Hanser Verlag, München 2020
268 Seiten, 23 Euro
Das Leben, ein vermurkstes Experiment
05:44 Minuten
Muss man es aushalten, dem eigenen Mann beim Anbaggern einer kieksenden Blondine zuzusehen? "Fremde Hochzeit" von Lisa Moore versammelt Geschichten über offene Ehen und Beziehungen, die im Versuchsstadium stecken bleiben.
Wie hinter Vorhängen aus sprudelndem Wasser, wie hinter aufschäumender Gischt, fließend, silbrig, wechselhaft, mal hell, mal äußerst sinister, so kommen diese Geschichten daher, deren Themen umwerfend handfest sind.
Ein Vermögen verdienen mit Aromalampen
Muss man es aushalten, dem Mann beim Anbaggern einer kieksenden Blondine zuzusehen, die ökofeministische Romane schreibt und mit irgendwelchen Aromalampen ein Vermögen verdient, nur weil man sich irgendwann für die "offene Ehe" entschieden hat? Und das auch noch auf der Hochzeitsparty einer guten Freundin, die sich über Stunden und mehrere Etappen hinzieht?
Offene Ehen führen nahezu alle Paare in "Fremde Hochzeit", meistens ganz ohne Vorsatz. Einer ist immer auf dem Absprung, eine immer auf Abwegen. Eine Beziehung beginnt, eine endet, oft sind Anfang und Ende nicht einmal deutlich zu erkennen, alles bleibt irgendwie im Versuchsstadium stecken. Das Leben: ein Experiment – ein vermurkstes dazu.
Maulwurf des Unbewussten
Die Momente im Leben, an denen sich alles dreht, der Augenblick, der zumindest im Nachhinein so aussieht, als sei er der Kipppunkt gewesen, danach sind diese Geschichten auf der Jagd. Lisa Moore, 1964 in St. John’s auf Neufundland geboren, jagt zielsicher. Man spürt eine große Energie, aber auch Geduld, Ruhe, die Kunst, abzuwarten.
Elf Geschichten versammelt dieser Band, den der Hanser Verlag in der gelungenen Übersetzung von Kathrin Razum aus drei Erzählbänden kompiliert hat. Über die Hälfte stammt aus "Open" von 2002, darunter die beiden großartigen Geschichten "Melody" und "Grace" (also Gnade), die auf Deutsch den Titel "Fremde Hochzeit" bekam.
Wie Katherine Mansfield beherrscht Lisa Moore das komprimierte Setting knapper Kurzgeschichten, aber vor allem kann sie wie Alice Munro die großen Lebensbögen schlagen. Meist gräbt unter dem, was oben auf der Handlungsebene geschieht, der Maulwurf des Unbewussten seine dunklen Gänge. Während Eleanor auf der Hochzeitsparty panisch Gesellschaftsspiele am Laufen hält, um sich als guter Gast zu erweisen, erfahren wir den Grund ihrer Verlustängste, die sie ausgerechnet in einem Drehbuch bearbeiten will.
Großartige Entdeckungsreise
Lisa Moore kann wunderbar "Frisch-Verknalltsein" beschreiben, die Entdeckung von Sex, Liebe, sturmfreien Elternhäusern, furchtlosem Lostrampen. Sie hisst die Flaggen von Befreiungsparolen, wo immer möglich, und sei es auf den T-Shirts einer Rockband, die bei angeknipstem Licht plötzlich so alt aussieht wie die eigenen Eltern.
Weil sie ihre Figuren sekundenschnell in andere Bewusstseinszustände abgleiten lässt, haben ihre Geschichten eine rasante Dynamik. Melody - die Freundin der Ich-Erzählerin, die sie mit achtzehn bei einer Abtreibung unterstützte, während sie selbst freudestrahlend in ihre "hormonelle Metamorphose" eintauchte - kommt genau im richtigen Moment in das Leben der früh verwitweten Freundin zurück: als sie sich auf eine neue – und falsche – Ehe eingelassen hat und sich wünscht, die Vergangenheit könnte "sich über die Gegenwart legen".
Als würde jemand "von einer zu dünnen Eisscholle zur nächsten" hüpfen, so ist es, müde Heidegger zu lesen, denkt in der letzten Geschichte des Bandes ein Mann, der drei Kinder bekommen hat, ohne auch nur eines zu wollen. Alles sinkt unter ihm weg. Nur der Begriff "Seinsverlassenheit" bleibt übrig.
Panisch-melancholische Geschichten
Voller starker Bilder für die Existenz, sind Lisa Moores oft panisch-melancholische Geschichten eine großartige Entdeckungsreise nach Kanada, dem verschobenen Schwerpunkt der diesjährigen Buchmesse. Drei Romane hat Hanser bereits auf Deutsch von ihr ediert. "Fremde Hochzeit" sollte ihr Durchbruch sein.