Lissabon von unten
Schauplatz des neuen Romans "Mein Name ist Legion" des portugiesischen Schriftstellers António Lobo Antunes ist ein Elendsviertel am Rande von Lissabon. Dort sind unerwünschte afrikanische Zuwanderer aus den ehemaligen Kolonien gestrandet.
Der portugiesische Romancier António Lobo Antunes, Jahrgang 1942, war ursprünglich Arzt und Psychiater. Erst seine entsetzlichen Erlebnisse als Militärarzt im Angola-Krieg machten ihn zum Autor, mit seinem Roman "Der Judaskuss" (1979), einer Anklage gegen den Kolonialkrieg, wurde er schlagartig berühmt. Seither hat er 18 weitere Romane geschrieben, die alle ein Thema haben: die gesellschaftlichen Widersprüche in Portugal nach der "Nelkenrevolution" von 1974 und dem Ende des Diktatur Salazar und des Kolonialreiches, namentlich dem Verlust der afrikanischen Kolonien. Immer geht es ihm um Portugals wurmstichige vergangene Größe und seinen zähen Niedergang in Resignation und Stillstand, während die Nachwirkungen des Kolonialismus und die weiter existierenden alten Machtstrukturen in Staat, Kirche, Geheimpolizei und Großkapital allen Fortschritt verhindern und jedem Aufbruch im Wege stehen.
Auch in seinem neuen (19.) Roman "Mein Name ist Legion" thematisiert er wiederum Stagnation und Zerfall der portugiesischen Gesellschaft, allerdings erstmals aus neuer Perspektive – von ganz unten. Er wendet sich einem sozialen Biotop zu, das in seinem Œuvre bisher nicht vorkam. Schauplatz des Romans ist ein Elendsviertel, eine Barackensiedlung am Rande von Lissabon, in der unerwünschte afrikanische Zuwanderer aus den ehemaligen Kolonien gestrandet sind, deren Integration in die portugiesische Gesellschaft misslungen ist oder gar nicht versucht wurde. Ihr Name ist tatsächlich Legion, individuelle Namen schreibt ihnen auch der Autor nicht zu: "Wir sind Neger, und es gibt keinen Ort, der uns akzeptiert."
Es herrschen Armut, Kriminalität, Prostitution und Drogenhandel. Die Chancenlosigkeit der schwarzen und farbigen Migranten wird noch verschärft durch die Rassen- und Klassenkonflikte mit der sozial deklassierten weißen Unterschicht, die sich durch die verachteten und gefürchteten Zuwanderer bedroht fühlt. Im Mittelpunkt steht eine kriminelle, bewaffnete Jugendbande, die aus schwarzen und farbigen Jungen zwischen zwölf und neunzehn Jahren besteht, die Autos klauen, Tankstellen und Minimärkte überfallen, Passanten ausrauben, Frauen vergewaltigen und das ganze Viertel und die Umgebung bis zu den Villen von Sintra terrorisieren. Vergeblich sucht die Polizei, der Jugendgang Herr zu werden. Einige Jungen werden getötet – wobei die Polizisten bemerken müssen, dass es sich bei den Jungen um halbe Kinder handelt, ausgehungert, rachitisch und zurückgeblieben, die zumeist nur mit Schraubenziehern und Spielzeugpistolen bewaffnet sind.
Es geht dem Autor also um rassistische Stereotypen, um verzerrte Wahrnehmungen und um die Angst-Projektionen der Außenwelt auf die Immigranten. Eine herkömmliche, chronologisch fortschreitende Romanhandlung gibt es nicht. Lobo Antunes verfeinert nur seine charakteristische Erzählweise des polyphonen Stimmengewirrs und der ausgeklügelten Leitmotivtechnik. Der Handlungsstrang ist aufgelöst in die Monologe mehrerer, sich abwechselnder Erzählerstimmen. Da all diesen "Ich" sagenden Stimmen keine Namen zugebilligt werden, kann der Leser die Erzählerpersonen nur über die ihnen zugeordneten Standardsätze identifizieren – Kennwörter, die der Autor refrainartig wiederholt. Jede Stimme ist durch einen besonderen Erinnerungsraum gekennzeichnet. All diese Stimmen grübeln, klagen, träumen, hadern mit sich und der Welt, schweifen ab und taumeln durch anbrandende Assoziationen, erinnern sich an traumatische, kränkende Erlebnisse der Vergangenheit.
Wie immer ist die Lektüre dieses Autors nicht einfach, aber lohnend. Lobo Antunes schafft eine poetische Albtraumwelt, überwältigend in ihrer Intensität, Opulenz und Sinnlichkeit. Der Lohn für die Mühen des Lesers ist es, dass er Portugal durch diesen Autor gleichsam von innen kennenlernt.
Besprochen von Sigrid Löffler
António Lobo Antunes: "Mein Name ist Legion", Roman.
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 445 S., 24,99 Euro
Links bei dradio.de:
Nichts als vergangene Zukunft
António Lobo Antunes: "Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen", Luchterhand Literaturverlag, München 2008, 541 Seiten
Auch in seinem neuen (19.) Roman "Mein Name ist Legion" thematisiert er wiederum Stagnation und Zerfall der portugiesischen Gesellschaft, allerdings erstmals aus neuer Perspektive – von ganz unten. Er wendet sich einem sozialen Biotop zu, das in seinem Œuvre bisher nicht vorkam. Schauplatz des Romans ist ein Elendsviertel, eine Barackensiedlung am Rande von Lissabon, in der unerwünschte afrikanische Zuwanderer aus den ehemaligen Kolonien gestrandet sind, deren Integration in die portugiesische Gesellschaft misslungen ist oder gar nicht versucht wurde. Ihr Name ist tatsächlich Legion, individuelle Namen schreibt ihnen auch der Autor nicht zu: "Wir sind Neger, und es gibt keinen Ort, der uns akzeptiert."
Es herrschen Armut, Kriminalität, Prostitution und Drogenhandel. Die Chancenlosigkeit der schwarzen und farbigen Migranten wird noch verschärft durch die Rassen- und Klassenkonflikte mit der sozial deklassierten weißen Unterschicht, die sich durch die verachteten und gefürchteten Zuwanderer bedroht fühlt. Im Mittelpunkt steht eine kriminelle, bewaffnete Jugendbande, die aus schwarzen und farbigen Jungen zwischen zwölf und neunzehn Jahren besteht, die Autos klauen, Tankstellen und Minimärkte überfallen, Passanten ausrauben, Frauen vergewaltigen und das ganze Viertel und die Umgebung bis zu den Villen von Sintra terrorisieren. Vergeblich sucht die Polizei, der Jugendgang Herr zu werden. Einige Jungen werden getötet – wobei die Polizisten bemerken müssen, dass es sich bei den Jungen um halbe Kinder handelt, ausgehungert, rachitisch und zurückgeblieben, die zumeist nur mit Schraubenziehern und Spielzeugpistolen bewaffnet sind.
Es geht dem Autor also um rassistische Stereotypen, um verzerrte Wahrnehmungen und um die Angst-Projektionen der Außenwelt auf die Immigranten. Eine herkömmliche, chronologisch fortschreitende Romanhandlung gibt es nicht. Lobo Antunes verfeinert nur seine charakteristische Erzählweise des polyphonen Stimmengewirrs und der ausgeklügelten Leitmotivtechnik. Der Handlungsstrang ist aufgelöst in die Monologe mehrerer, sich abwechselnder Erzählerstimmen. Da all diesen "Ich" sagenden Stimmen keine Namen zugebilligt werden, kann der Leser die Erzählerpersonen nur über die ihnen zugeordneten Standardsätze identifizieren – Kennwörter, die der Autor refrainartig wiederholt. Jede Stimme ist durch einen besonderen Erinnerungsraum gekennzeichnet. All diese Stimmen grübeln, klagen, träumen, hadern mit sich und der Welt, schweifen ab und taumeln durch anbrandende Assoziationen, erinnern sich an traumatische, kränkende Erlebnisse der Vergangenheit.
Wie immer ist die Lektüre dieses Autors nicht einfach, aber lohnend. Lobo Antunes schafft eine poetische Albtraumwelt, überwältigend in ihrer Intensität, Opulenz und Sinnlichkeit. Der Lohn für die Mühen des Lesers ist es, dass er Portugal durch diesen Autor gleichsam von innen kennenlernt.
Besprochen von Sigrid Löffler
António Lobo Antunes: "Mein Name ist Legion", Roman.
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 445 S., 24,99 Euro
Links bei dradio.de:
Nichts als vergangene Zukunft
António Lobo Antunes: "Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen", Luchterhand Literaturverlag, München 2008, 541 Seiten