Autoren: Berthold Forssman und Martin Sander
Es sprachen: Julia Brabant und Martin Sander
Ton: Christiane Neumann
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Winfried Sträter
Europas unbekannte Mitte
29:22 Minuten
In der Nähe der Hauptstadt Vilnius liegt der geografische Mittelpunkt Europas. Litauen, das Land an der Ostsee war einst Großmacht, wurde später Sowjetrepublik. Der kleine Staat brach 1989 in die Freiheit auf - und ist heute Grenzland der EU.
Ein Platz zwischen Bäumen auf einer Anhöhe 30 Kilometer nördlich von Vilnius. Über einer kleinen Arena wehen die Flaggen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten. Berechnungen französischer Geografen haben 1989 ergeben: Hier liegt der Mittelpunkt Europas.
"Viele Litauer haben ein Gefühl von Stolz für diesen Ort", sagt Gintarė Malinauskaitė. "Es gibt nur in Litauen dieses einzige und tatsächliche Zentrum Europas. Das ist sehr wichtig für die Litauer."
Gintarė Malinauskaitė ist Historikerin. In Vilnius leitet sie die Zweigstelle des Deutschen Historischen Instituts Warschau. Auf einem Weg zwischen Bäumen gelangen wir zu einer Granitsäule. Sie wird von zwölf goldenen Sternen gekrönt. Auch das ist ein Symbol der Europäischen Union, zu der Litauen seit 2004 gehört. Doch die Sternenkrone lässt noch etwas anderes mitschwingen.
"Das ist für mich eine Mischung aus dieser alten litauischen Geschichte und dieser neueren Geschichte der Rückkehr nach Europa jetzt", sagt die Historikerin. "Also, wenn ich das sehe, denke ich sofort an Mindaugas."
Der litauische Großfürst Mindaugas ließ sich Mitte des 13. Jahrhunderts von Papst Innozenz zum König krönen. Aus mehreren Fürstentümern soll er den im Spätmittelalter mächtigen litauischen Staat errichtet haben.
"Man vergleicht uns oft mit den anderen baltischen Republiken", erzählt Birutė Šulinskienė. "Nur Litauen hat als Staat existiert seit dem 13. Jahrhundert. Und wir haben den ersten gekrönten König Mindaugas, der schon im 13. Jahrhundert verstanden hat, dass ein katholisches Europa nie ein heidnisches Land anerkennen wird. Deswegen versuchte er, das Land zu christianisieren, wurde selbst getauft. Und da kam auch die königliche Krone."
Das Großfürstenschloss von Vilnius wurde rekonstruiert
Birutė Šulinskienė führt Besucher durch das vor wenigen Jahren wiederaufgebaute Großfürstenschloss von Vilnius. Schon bald nach seiner Taufe soll sich Mindaugas allerdings wieder vom christlichen Glauben abgewandt haben. Und nach seinem Tod 1261 blieb Litauen noch über hundert Jahre heidnisch, länger als jedes andere Land in Europa. Unabhängig davon ist der mittelalterliche Staat für das heutige offizielle Litauen von herausragender Bedeutung.
Durch ein großes Fenster deutet Birutė Šulinskienė auf die Gediminas-Burg auf dem Berg nebenan. Unter dem Großfürsten Gediminas entstand Vilnius. Gediminas herrschte in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts über ein Großreich aus Litauern und den östlich benachbarten Ruthenen. Weite Teile der heutigen Ukraine und Weißrusslands gehörten dazu.
"Der Anfang war hier", erklärt Birutė Šulinskienė. "Sehen Sie, da können wir sogar die Reste der alten Gediminas-Burg sehen. Zuerst war eine kleine Festung gebaut worden. Im 13. und 14. Jahrhundert war sie mit Schutzmauern umgeben. 1506 entstand die erste Residenz, mehrmals umgebaut. Beschädigt war sie im 17. Jahrhundert während des Krieges mit Russland, mit dem russischen Zaren Alexei Michailowitsch.
Sechs Jahre lebten hier die russischen Soldaten und plünderten die Burg. Als sie weg waren, war die Residenz beschädigt, aber sie hat gestanden. Und gestanden hat die Residenz, solange Litauen ein unabhängiges Land gewesen war. 1795, die dritte Teilung von Litauen und Polen, und seitdem gehört das ganze Litauen schon zu Russland. Die Politik des Zaren war, das Land zu vernichten und die Symbole der litauischen Staatlichkeit zu tilgen."
So wurde auch der Renaissancepalast mit seiner barocken Überarbeitung auf mittelalterlichem Fundament abgetragen. Noch zu Sowjetzeiten begann die Diskussion, ihn wiederaufzubauen. Aber das war ein Politikum.
"Die Archäologen haben 1987 angefangen zu forschen", sagt Birutė Šulinskienė. "Und sehen Sie, dann waren alle diese Wände freigelegt. 1987, erinnern Sie sich, war in Russland Perestroika. In Litauen kommt die Bewegung für die Befreiung Sąjūdis. Und dann kommt die Idee, es aufzubauen, als ein Symbol der litauischen Staatlichkeit, der litauischen Geschichte."
Symbol der litauischen Eigenstaatlichkeit
Und nun steht das Symbol der litauischen Eigenstaatlichkeit wieder im Zentrum von Vilnius, zwischen der Kathedrale und dem Gediminas-Berg. Sein Wiederaufbau hat die für das kleine Litauen gigantische Summe von 100 Millionen Euro verschlungen. Erst seit 2018 ist das Haus komplett für Besucher zugänglich und heute Teil des litauischen Nationalmuseums.
Der wiederaufgebaute Palast ist nicht nur ein Symbol früherer litauischer Eigenstaatlichkeit - er verkörpert heute auch den Widerstand gegen Russland und seine Hegemoniebestrebungen. Schließlich fühlt man sich nicht nur durch die Moskauer Militärmanöver im Osten bedroht, sondern grenzt auch im Westen direkt an die russische Exklave Kaliningrad.
Ein anderes, geschichtspolitisch heikles Thema ist für das Nationalmuseum in Vilnius die Epoche, in der Litauen zwar einen Staat besaß, sich diesen aber in einer spannungsreichen Partnerschaft mit seinem Nachbarn Polen teilte.
Spannungsreiches Verhältnis mit dem Nachbarn Polen
"Wir versuchen auch in der Exposition unseres Palastes die Beziehungen mit Polen sehr korrekt, aber auch mit der Meinung der litauischen Geschichtsschreibung darzustellen", beteuert Vydas Dolinskas, Kulturhistoriker und Direktor des Schlosses.
Immerhin mehr als 400 Jahre, von 1385 bis 1791, waren Litauen und Polen in einer Staatenunion verbunden. Sie reichte von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. An ihrem Anfang stand ein litauischer Großfürst namens Jogaila: Er ließ sich taufen und nahm auch für seine heidnischen litauischen Untertanen endgültig das Christentum an. Als Gegenleistung erhielt er die polnische Königskrone – und hieß fortan Władysław Jagiełło II. In der polnischen Erinnerung wurde die Staatenunion zum ruhmreichen Kapitel der eigenen großen Vergangenheit. Anders die litauische Perspektive:
"In Litauen wird es immer so gesehen, dass dieser Doppelstaat und diese Union eigentlich eine Unterdrückung Litauens war, dass Polen den Staat monopolisiert hat, die Sprache, die Gesellschaft polonisiert hat. Das ist so eine Vorstellung, dass die gemeinsame Nation mehr Wert für Polen und den polnischen Staat hatte", erklärt Gintarė Malinauskaitė, die Leiterin der Zweigstelle des Deutschen Historischen Instituts Warschau in Vilnius.
"Die litauische Nationalbewegung, Mitte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, war eine hauptsächlich von Bauern inspirierte Bewegung, gemeinsam mit Intellektuellen und Priestern", sagt Gintarė Malinauskaitė . "Die Oberschicht, sagte man, ist stark polonisiert. Die sind keine echten Litauer. Die gehören zu einer feindlichen Nation, denn Polen wurde eigentlich als Gefahr für das litauische Bewusstsein verstanden. Zum Beispiel sollte am Beginn des 20. Jahrhunderts ein echter litauischer Nationalist aus der litauischen Nationalbewegung eine litauische Frau haben. Wenn du keine litauische Frau hast, verrätst du die ganze litauische Nationalbewegung, weil - die Frau ist für die Kinder zuständig, für die Sprache in der Familie, und deswegen wurde die polnische Nation immer auch als Gefahr für die litauische Identität gesehen."
Komplizierte polnisch-litauische Verflechtungen
Die litauische Nationalbewegung setzte auf Monokultur und handelte nach der Formel "Sprache gleich Nation". Damit provozierte sie Konflikte innerhalb der Gesellschaft. Denn so einfach war die Frage nach der litauischen Nation nicht zu beantworten. Viele Litauer, vor allem Adlige und Gebildete, sahen sich als Litauer polnischer Sprache – oder als Polen und Litauer gleichermaßen. In ihrem Verständnis blieben die Grenzen fließend.
Litauen als mythisches Land der Urwälder und heidnischen Götter wurde zum Topos polnischer Romantik im 19. Jahrhundert. Aber was ist litauisch, was polnisch? Für Nationalbewegungen ist es typisch, historische Verflechtungen beiseite zu schieben und sich durch Abgrenzung eine nationale Identität zu schaffen.
Der Komponist Mikalojus Konstantinas Čiurlionis, im unabhängigen Litauen als nationale Kulturikone verehrt, ist ein Beispiel für die polnisch-litauischen Verflechtungen: Er wuchs mit der polnischen Sprache im Süden Litauens auf und studierte in Warschau. Dann aber beschloss er, sein Werk allein Litauen zu widmen.
Viele andere polnische Litauer taten eine solche Nationalbewegung erst einmal achselzuckend ab. Die Bevölkerungsstruktur bot für sie Anlass zum Spott, zumindest in einigen Gegenden. Wie in Vilnius, wo um 1900 laut offizieller Statistik nur zwei Prozent Litauer wohnten – neben 20 Prozent Russen, 30 Prozent Polen und 40 Prozent Juden.
Vilnius als Jerusalem des Nordens
Den Juden galt die Stadt als Jerusalem des Nordens, ein geistiger und religiöser Mittelpunkt des Judentums, der jiddischen Sprache und Kultur. Auch das forderte die litauische Nationalbewegung heraus.
"Das war immer eine Frage: Wie wird man unabhängig? Sollte man vielleicht zuerst über eine Autonomie sprechen. Da waren einfach immer unterschiedliche Versuche, wie man unabhängig werden sollte. Es gab insgesamt natürlich die polnische Nation als Feind, aber die russische auch. Man wollte auch keine Juden. Die Polen, die Russen, die Juden, die waren eigentlich ausgegrenzt. Die wohnten hier in Litauen, auch in Vilnius", sagt Gintarė Malinauskaitė.
"Es geht um zwei unterschiedliche Begriffe: Das eine ist die ethnozentrierte Vorstellung, wonach Litauen dort ist, wo Litauisch gesprochen wird. Die andere ist die alte Vorstellung, wonach es um ein historisches Gebiet Litauen geht, in dem aber nicht unbedingt Litauisch gesprochen wird, sondern auch Polnisch und so weiter", erklärt der Historiker Norbertas Černiauskas, der sich auf die litauische Zwischenkriegsrepublik spezialisiert hat.
Im Februar 1918 wurde Litauen zum unabhängigen Staat. Das war nicht allein den Bemühungen der Nationalbewegung zu verdanken, sondern vor allem dem Zusammenbruch des Zarenreichs im Ersten Weltkrieg. Aus diesem Krieg ging indes nicht nur Litauen als selbstständiger Staat hervor, sondern auch Polen. Das gemeinsame Schicksal verband die beiden neuen Republiken aber nicht - stattdessen waren sie alsbald auf Kollisionskurs.
Kaunas wird Hauptstadt der Zwischenkriegsrepublik
Litauen konnte seinen Gründungsakt noch in Vilnius vollziehen, seine Ansprüche auf diese Hauptstadt und die umliegende Region jedoch nicht einlösen. Stattdessen besetzte der polnische Unabhängigkeitskämpfer und Staatsgründer Józef Piłsudski Vilnius samt Umgebung.
Litauen wehrte sich, musste den Status quo aber schließlich anerkennen. Vilnius kam zu Polen. Die litauische Staatsführung zog ins kleine, dafür überwiegend litauischsprachige Kaunas.
"Kaunas war auf seine Rolle zunächst nicht vorbereitet", erklärt Norbertas Černiauskas. "Aber dann baute man die Provinzstadt Schritt für Schritt zu einem Regierungssitz aus, mit Repräsentationsbauten und Hotels. Das registrierte man auch im Ausland. Dennoch bezeichnete man Kaunas immer nur als provisorische Hauptstadt. Der Bevölkerung wurde eingetrichtert, dass Litauen auf Vilnius nicht verzichten werde, und im Schulunterricht hieß es: 'Ohne Vilnius sind wir nicht zufrieden.' Aber man verstand auch, dass es unmöglich sein würde, Vilnius militärisch zurückzugewinnen."
Ein Militärmuseum wie eine weltliche Kathedrale
So richtete sich die Staatsspitze im kleinen Kaunas ein. Heute zeugt vor allem ein Ensemble aus Museumsbauten vom Repräsentationsgedanken der Zwischenkriegsrepublik. Den größten Teil nimmt das Militärmuseum ein – 1930 im Stil klassischer Machtarchitektur errichtet.
Die Museumhalle folgt der Form eines Doppelkreuzes, einem litauischen Nationalsymbol. Wie auf einem Altar, wenngleich von Waffen umrahmt, steht dort der Großfürst Vytautas. Er erhob Litauen im ausgehenden Mittelalter zur Großmacht und besiegte 1410 gemeinsam mit Władysław Jagiełło, seinem Vetter auf dem polnischen Königsthron, in der Schlacht bei Tannenberg den Deutschen Orden.
Das Militärmuseum von Kaunas wirkt wie eine weltliche Kathedrale des litauischen Staates zwischen den Weltkriegen. Von der Haupthalle führen mit Kanonen bestückte Arkaden zu einem großen Glockenturm. Davor steht ein Denkmal aus Feldsteinen für Vytautas samt ewiger Flamme im Gedenken an die nationale Wiedergeburt Litauens 1918 – über 500 Jahre nach der spätmittelalterlichen Schlacht von Tannenberg, die die weitere Expansion des Deutschen Ordens Richtung Osten stoppte.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gelang es der unabhängigen Republik Litauen, Deutschland zurückzudrängen und bis an die Ostsee vorzurücken – mit der Annexion des mehrheitlich von Deutschen bewohnten Memellandes 1923. Die Gegend am Kurischen Haff mit der Stadt Memel, litauisch Klaipėda, bildete einen territorialen Ausgleich für den von Polen erzwungenen Verzicht auf Vilnius.
"Man kann es in der Tat so ausdrücken", sagt Norbertas Černiauskas: "Litauen hatte sich verlagert und bekam eine neue Perspektive durch den Zugang zum Meer. Man sprach damals in Litauen viel davon, dass sich das Land und das Volk dem Meer zuwenden müssten. Manche behaupteten, Klaipėda sei wichtiger als Vilnius, denn nun hätten wir einen Hafen. Das sei wirtschaftlich bedeutend für den Export und so weiter. Es gab also eine Westverschiebung."
Immer wieder ändern sich die Grenzen
Doch die Grenzen sollten sich noch mehrfach ändern: Bedroht von Nazi-Deutschland musste sich Litauen am 22. März 1939 aus dem Memelland zurückziehen. Kurz darauf bekam die Republik allerdings jene Stadt zurück, um die sie 20 Jahre zuvor noch vergeblich gekämpft hatte – Vilnius. Möglich machte das der Hitler-Stalin-Pakt. Mitte September 1939 besetzte die Rote Armee in Absprache mit Deutschland den Osten Polens und damit auch Vilnius. In einem feierlichen Akt übergaben die Sowjets den Litauern ihre historische Hauptstadt – ein in gewisser Hinsicht fragwürdiges Geschenk.
"Es war eine sehr heruntergekommene Stadt, die plötzlich die litauische Hauptstadt wurde", sagt Tomas Vaiseta. "In Polen war es die fünftgrößte Stadt gewesen, kulturell bedeutend. Aber sie war heruntergekommen. Als die Sowjets dort einrückten, waren die Fenster wegen des Kriegs verdunkelt. Es liefen überall Kriegsflüchtlinge herum. Es gab viel Armut und Vernachlässigung, es mangelte an Lebensmitteln."
Der Schriftsteller Tomas Vaiseta hat historische Quellen aus jenen Tagen für seine Erzählung "Die Bettlerversammlung" ausgewertet. In ihr schildert er diese schicksalshaften Tage von Vilnius 1939.
"Die Litauer in Kaunas idealisierten Vilnius", erklärt er. "Aber in der Stadt lebten ja kaum Litauer, und es war kompliziert, die Institutionen nach Vilnius zu verlagern. Die Regierungsbeamten führten in Kaunas ein bequemes Leben und hatten keine Lust auf einen Umzug. Vilnius war nicht so, wie es die litauische Propaganda dargestellt hatte. Die Polen dort waren es gewohnt, mit Polen zusammenzuarbeiten, und sie stellten in den 30er-Jahren rund die Hälfte der Bevölkerung. Und dann gab es einen großen jüdischen Anteil, außerdem Weißrussen, Russen und erst dann die Litauer."
Jüdische Gemeinde von Vilnius im Holocaust ausgelöscht
In Vilnius sollte der Zweite Weltkrieg einen umfassenden und äußerst brutalen Austausch der Bevölkerung mit sich bringen. Nachdem deutsche Truppen die Stadt im Juni 1941 besetzt hatten, begann der Mord an den Juden. Der Schriftsteller und Historiker Tomas Vaiseta:
"Wir wissen, dass im Holocaust de facto die gesamte jüdische Gemeinde von Vilnius getötet wurde, 95 Prozent. Das war eine unglaubliche Katastrophe für die Stadt. Denn diese Menschen hatten Vilnius mit erschaffen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden dann viele Polen nach Polen 'repatriiert'. In den Jahren danach kamen viele Russen, aber auch Litauer. Und seither ist Vilnius doch eine sehr litauische Stadt."
Auch im Westen des Landes kam es am Ende des Krieges zu einem Bevölkerungsaustausch. 1944 wurden die deutschen Memelländer vor der herannahenden Roten Armee evakuiert. Vor allem in Klaipėda, dem früheren Memel, tilgten die neuen sowjetischen Machthaber anschließend die Spuren der deutschen Vergangenheit.
Geschichtsvergessenheit als Erbe der Sowjetzeit
"Als die Russen nach dreieinhalb Monaten am 28. Januar 1945 die Stadt besetzten, haben sie hier acht Leute gefunden, eine total leere Stadt", sagt Arnold Piklaps. "Manche sind wieder zurückgekommen. Manchmal passiert das so, dass die deutsche Geschichte total vergessen wird. Es ist das Erbe aus der Sowjetzeit. Wenn ich so kurz zusammenfasse, was wir gelernt haben, die allgemeine Geschichte des Memellandes, war das: Im 13. Jahrhundert sind die Kreuzritter gekommen und 1945 haben wir die Nazis verjagt. So ist, kurz gesagt, die Geschichte."
Arnold Piklaps, Leiter des Simon-Dach-Hauses in Klaipėda, meint das Geschichtsbild in der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik. In Klaipėda, der heute drittgrößten Stadt des Landes, war die Lage 1945 in einer Hinsicht vergleichbar mit der in Vilnius: Die Häuser waren stehen geblieben, hatten aber keine Bewohner mehr.
"Nicht allen, die nun kamen, war Klaipėda fremd. So gab es litauische Intellektuelle, die bereits zu Zeiten der Zwischenkriegsrepublik dort gelebt hatten", erklärt Vasilijus Safronovas, Historiker an der Universität von Klaipėda. Als Campus dient ein Gelände mit unlängst restaurierten Backsteinkasernen aus dem deutschen Kaiserreich.
"Aber klar", sagt Vasilijus Safronovas, "die meisten Neuankömmlinge hatten mit der Stadt nichts gemeinsam. Sie empfanden sie als fremd und als deutsch, auch wenn ihnen die sowjetische Propaganda eintrichterte, dass es sich um eine litauische Stadt handle."
Rückbesinnung auf deutsches Kulturerbe
Besonders schwierig war der Umgang mit dem Kulturerbe. Erst Ende der 80er-Jahre begann man mit der Renovierung von Baudenkmälern, und in den 90ern fing man dann an, sich um das Fort auf der Nehrung und um die Altstadt zu kümmern.
So stellte man auf dem Theaterplatz auch wieder ein Denkmal für das Ännchen von Tharau auf, nachdem eine frühere Statue bei Kriegsende verschwunden war. Simon Dach, der in Memel wirkende niederdeutsche Barockdichter, hatte das Ännchen, eine Pfarrerstochter aus Ostpreußen, in einem seiner Lieder verewigt.
Den Namen von Simon Dach trägt heute auch ein deutsches Kulturzentrum in Klaipėda, und in Nida auf der Kurischen Nehrung feiert man alljährlich im ehemaligen Sommerhaus des Schriftstellers Thomas Mann ein litauisch-deutsches Kulturfestival. Bald soll in Klaipėda außerdem die vollständig zerstörte Stadtkirche St. Johannis wiederaufgebaut werden.
"Die Leute in der Stadt sind jetzt stolz darauf, auch den Namen Memel zu haben", sagt Arnold Piklaps. "Offizieller Name ist Klaipėda. Aber wir haben hier Memel-Immobilien, Memel-Sparkasse, Memel-Bräu, Memel-Werft, Memel-Brötchen, Memel-Friseur, Memel-Taxi usw. Alles, was es gibt."
Memel ist darüber hinaus und vor allem der Name eines Flusses, der in Weißrussland entspringt, sich in Kaunas mit der Neris vereint und südlich von Klaipėda ins Kurische Haff mündet - und mit dem der Dichter der deutschen Nationalhymne die Ostgrenze eines künftigen deutschen Nationalstaates markierte.
"Dieser Fluss heißt für uns Nemunas", sagt Robertas Čyvas, "obwohl man ja weiß, dass der Fluss auch andere Namen hat. Irgendwo sagt man Memel dazu. Aber für uns ist das Nemunas. Und das ist der größte Fluss Litauens, was für deutsche Verhältnisse ein kleiner Bach wäre."
Protest mit bunten Luftballons
Robertas Čyvas lebt in Kaunas am Ufer der Memel. Er hat Deutsch studiert und war Gründungsmitglied einer Regionalgruppe der litauischen Unabhängigkeitsbewegung Sąjūdis. Diese kämpfte seit den späten 80er-Jahren für ein unabhängiges Litauen.
"Ich habe niemals gesagt 'meine Heimat Sowjetunion'. Meine Heimat war Litauen", ", sagt Robertas Čyvas. "Eine Kleinigkeit: Es gab in der ganzen Sowjetunion zwei Mal im Jahr etwas, das hieß Parade, wo Tausende von Menschen, gar nicht freiwillig, gezwungen auf die Straße gegangen sind und ihre Zufriedenheit mit dem sowjetischen Regime ausgedrückt haben. Studenten mussten das natürlich auch. Das war der 7. November, Tag der sowjetischen Revolution, und unser Protest war: Wir haben farbige Luftballons gekauft, und wir haben schön gefeiert. Aber ganz absichtlich hatten wir eine Reihe gelb, eine Reihe grün und eine Reihe Rot. Gelb, Grün, Rot sind ja litauische Nationalfarben, die damals streng verboten waren."
Sąjūdis trat als Erneuerungsbewegung Litauens im Juni 1988 erstmals offiziell in Erscheinung, während in Moskau Gorbatschow regierte. Prägend war die Rolle des Antikommunisten und Musikwissenschaftlers Vytautas Landsbergis. Im Mai 1989 erklärte Sąjūdis den Anschluss Litauens an die Sowjetunion 1940 für rechtswidrig und proklamierte als Ziel die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens.
Der 23. August 1989 war ein zentraler Gedenktag für die litauischen Unabhängigkeitskämpfer. Genau 50 Jahre zuvor war der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet worden, mit dem Deutschland und die Sowjetunion ihre Einflusszonen in Osteuropa bestimmten. Litauen schlugen sie der Sowjetunion zu. Zum 50. Jahrestag schlossen sich rund zwei Millionen Menschen zu einer Kette zusammen, die von Vilnius über das lettische Riga bis zum estnischen Tallinn reichte. Es war eine Großdemonstration für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten.
Im Frühjahr 1990 erklärte sich Litauen einseitig für selbstständig. Dennoch gab es, anders als in anderen osteuropäischen Ländern, kein friedliches Ende des Kommunismus. Stattdessen kam es zu einem Massaker, das als Vilniusser Blutsonntag in die Geschichte eingegangen ist.
Blutsonntag verhindert Unabhängigkeit nicht
"Gorbatschow hat gedroht, dass sie militärisch eingreifen werden", erinnert sich Robertas Čyvas. "Sie haben mit dem Fernsehkomitee, dem Fernsehstudio angefangen. Vytautas Landsbergis hat die Leute aufgerufen – mit seinen Worten: Wenn wir heute unser Vaterland nicht verteidigen können, haben wir ein fremdes Land. Und dann haben die Leute sich angefangen zu versammeln, am Parlament, am Fernsehturm, damit ganz Litauen und auch die ganze Welt informiert werden kann. Frauen haben Kaffee, belegte Brote gebracht. Es wurden Feuer angemacht, weil es ja sehr kalt war – es war Winter. Man hat gesungen."
Robertas Čyvas, Sąjūdis-Mann der ersten Stunde, arbeitete damals als Lehrer in Kaunas und fuhr täglich nach der Arbeit mehr als 100 Kilometer nach Vilnius, um dort gegen die Sowjetmacht zu protestieren, so auch am 13. Januar 1991.
"Als wir nach Vilnius fuhren", erzählt er, "standen russische Panzer auf der Schnellstraße, an der Einfahrt in die Stadt. Sie haben uns nicht angehalten, wir sind zum Fernsehturm gekommen. Ich glaube, dass ich so etwas nie wieder erleben werde – wie es dort aussah nach dem Sturm. Es standen Hochhäuser mit neun Etagen ohne Fenster. Es standen Autos von Panzern überfahren, die wirklich platt waren. Ein Motor von einem Auto war ganz, ganz platt. Die litauischen Frauen gaben den russischen Soldaten belegte Brote und sagten ihnen: Du bist nicht schuldig. Das ist die Schuld von denen, die da oben sitzen, die dich zum Mörder gemacht haben. Das hat mich tief bewegt."
Die genaue Rolle von Michail Gorbatschow ist bis heute ungeklärt. Klar ist: Der Versuch Moskauer Militärs, mit sowjetischen Spezialeinheiten das abtrünnige Litauen wieder zu unterwerfen, scheiterte und Litauens Unabhängigkeit wurde bald darauf auch international anerkannt. 14 Tote und hunderte Verletzte hatte das Massaker von Vilnius gefordert.
Die Toten genießen bis heute Heldenstatus
Die Toten vom Fernsehturm und die anderen Opfer haben in Litauen bis heute Heldenstatus. In einem Halbrund sind ihre Gräber auf dem Friedhof im Vilniusser Stadtteil Antakalnis angeordnet. Alles in allem gedenkt das Land seines Unabhängigkeitskampfes aber dezent. Auch erspart man sich Grabenkämpfe zwischen einem pro-europäischen liberalen und einem national-konservativen Lager.
Mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern sieht man sich nicht in der Lage, Russland allein gegenüberzutreten, und freut sich über die Zugehörigkeit zur NATO und zur Europäischen Union. Doch es gibt auch Ernüchterung.
"Vor allem zu Zeiten der Sowjetunion waren die Hoffnungen sehr groß. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit haben die Leute erst verstanden, dass die eigentliche Arbeit beginnt. Alle mussten ihr Leben neu organisieren", bilanziert der in Vilnius lebende Schriftsteller Rimantas Kmita. Er hat über die Nachwendegeneration einen Roman mit dem Titel "Die Chroniken des Südviertels" veröffentlicht.
"Ich möchte nicht auswandern, sondern bleiben"
"Besonders in der ersten Hälfte der 90er-Jahre gab es in Litauen Mafiastrukturen, die den Staat beherrschten und gegen die die Polizei machtlos war", sagt Rimantas Kmita. "Nach der Jahrtausendwende hat man damit aufgeräumt. Jetzt gibt es klare Regeln, aber auch mehr Bürokratie. Dafür sprechen wir jetzt über die Auswanderung auf der Suche nach besseren Arbeitsplätzen. Das sind 15–20.000 Menschen pro Jahr."
Litauen befürchtet auszusterben, die Kluft zwischen Arm und Reich ist beträchtlich, der kapitalistische Alltag erscheint beschwerlich. Der Autor Rimantas Kmita blickt auf sein kleines Land in der Mitte Europas und denkt:
"Ich bin in Litauen, ich lebe in Litauen, ich habe meine Arbeit – als Schriftsteller und Wissenschaftler. Ich möchte nicht auswandern, sondern bleiben. Wenn sich niemand bemüht, etwas zu ändern, passiert auch nichts. Litauen ist ein kleines Land. Also muss man die Dinge selbst in die Hand nehmen, wenn man etwas ändern will."