Schriftstellerin stellt Nationalmythos infrage
Autorin Ruta Vanagaite hat die Verstrickung der Litauer in den Holocaust als auch mit dem sowjetischen Geheimdienst KGB in ihren Büchern thematisiert. Seitdem sind ihre Bestseller in Buchhandlungen nicht mehr erhältlich, eine Debatte über Litauens Vergangenheit ist entbrannt.
Eine schlichte Infotafel ist alles, was an das wichtigste jüdische Gebetshaus in Vilnius erinnert. Mit unserem Stadtführer steigen wir eine kleine Erhebung hinauf – und blicken auf eine Grundschule und einen Kindergarten.
"Wir gehen jetzt ein Stück weiter, um uns den Ort der großen Synagoge anzusehen", sagt Linas Jakucionis. "Vor dem Holocaust lebten in Vilnius ungefähr 60.000 Juden, überlebt haben davon nur 2000 bis 3000. Als die Nazis kamen, gab es circa 2000 bis 3000 Soldaten hier in Vilnius. Viele Litauer waren am Holocaust beteiligt. Das ist unsere Geschichte und wir müssen das akzeptieren. Allerdings gibt es nicht allzu viele Litauer, die das tatsächlich tun. Sie sagen: Nein, das waren wir nicht. Aber es ist eine Tatsache, dass wir in diese Sache involviert waren."
Im Hauptberuf ist Linas Jakucionis Softwareentwickler. Aber wenn er Zeit hat, dann führt er Touristen durch seine Heimatstadt. Am Ende der "Free Walking Tour" zahlen die Leute nur so viel, wie sie glauben, dass die Führung wert war.
"Der Zweite Weltkrieg war aber nicht nur hart für die jüdische Gemeinde – sondern auch für die Litauer. 340.000 Litauer starben während des Zweiten Weltkriegs. Rund 130.000 Litauer wurden nach Sibirien deportiert. Und viele von ihnen starben dort an Hunger, Kälte und Krankheit. Aber wir sind starke Kämpfer für unsere Unabhängigkeit."
Vergangenheit spaltet Familien und Freundschaften
Die Vergangenheit: In Litauen ist sie noch lange nicht vorbei. Mal wird sie offen diskutiert, mal verdeckt. Oft spaltet sie Familien, Freunde, Kollegen. Denn es geht um Schuld - und um zwei zentrale Fragen: Welche und wie viele Litauer haben sich während der deutschen Besatzung am Holocaust beteiligt? Und wie heroisch waren die Partisanen tatsächlich, die nach dem Krieg die sowjetischen Okkupanten bekämpften?
Im Zentrum dieser Debatte steht Ruta Vanagaite. Zweimal hat sich die erfolgreiche Buchautorin zu beiden Themen geäußert. 2016 veröffentlicht sie den Bestseller "Musiskiai", auf Deutsch "Die Unsrigen", in dem sie erzählt, wie tief viele Litauer in den Holocaust verstrickt waren. Und im Spätherbst 2017 folgt eine Bemerkung zum Nationalhelden und früheren Partisanenführer Adolfas Ramanauskas-Varnagas. Öffentlich stellte sie die Frage, ob Ramanauskas, der 1957 von den Sowjets hingerichtet wurde, mit dem Geheimdienst KGB kollaboriert hatte. Seither ist für Ruta Vanagaite nichts mehr, wie es einmal war.
Ich betrete eine Buchhandlung in Vilnius, dort will ich Ruta Vanagaites Bestseller kaufen. Als ich danach frage, schüttelt der Buchhändler den Kopf. Das Buch sei nicht vorrätig, sagt er. Und auch nicht bestellbar. Es ist wie vom Erdboden verschluckt.
Die Wahrheit ist: Das Buch ist gerade mal gut zwei Jahre alt und es ist erhältlich. 27.000 Stück gibt es. Sie lagern in einer Garage in der Nähe von Vilnius. Ruta Vanagaite verkauft sie einzeln. Wenn eine Bestellung eingeht, dann geht ihr Neffe zur Garage, nimmt ein Exemplar, packt es in einen Umschlag und verschickt es. Doch keine der Buchhandelsketten verkauft es. Nach Vanagaites Zweifel am Lebenslauf von Adolfas Ramanauskas zog der litauische Großverlag Alma Littera die komplette Auflage ihres Holocaust-Buches zurück.
Keine Kritik an offizieller Erzählung erwünscht
Ich besuche Ruta Vanagaite, die am Stadtrand von Vilnius wohnt. Der 63-Jährigen wird vorgeworfen, sie habe schlecht recherchiert. Ihre Zweifel an Ramanauskas stütze sie lediglich auf dubiose sowjetische Dokumente, die im KGB-Archiv in Vilnius einzusehen sind.
"Wenn man nicht übereinstimmt mit der offiziellen Erzählung in diesem Land, dann kommt man vielleicht noch davon, so wie ich zunächst mit dem Buch über den Holocaust", sagt Ruta Vanagaite. "Aber wenn man einen noch empfindlicheren Punkt anspricht, wie die Rolle der Partisanen, dann zerstören sie dich."
Also ist Ruta Vanagaite weggegangen aus Litauen. In ihrer Heimat fühlt sie sich verfolgt - und ihrer Lebensgrundlage beraubt. Nur ab und zu noch kommt sie nach Vilnius, sieht nach der Familie, kümmert sich um das Appartement. Sie lebt jetzt in Israel, gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Efraim Zuroff. Zuroff ist Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem und ein bekannter Nazi-Jäger. Ein Umstand, der nicht gerade zur Popularität von Ruta Vanagaite beigetragen hat.
Partisanen - das einzige, auf das die Litauen stolz sind?
"Litauen hat mit vielen Problemen zu kämpfen. Wir haben eine starke Abwanderung, eine schreckliche Korruption, es gibt so viel Enttäuschung im Land und gleichzeitig gibt es keine Vision für die Zukunft, ob ökonomisch, im Gesundheitswesen oder in der Bildung. Alles, was wir haben, ist unsere Vergangenheit. Wir haben die längste Geschichte des Widerstands in Europa, wir haben unsere Partisanen. Es scheint, als sei das die einzige Sache, auf die wir stolz sein können. Aber wenn ich dieses Thema berühre, wenn ich mir erlaube, Zweifel zu äußern, dann ist das so, als würde ich dem Bettler noch etwas wegnehmen."
Alvydas Nikzentaitis ist einer der besten Kenner der litauischen Geschichte und arbeitet am Historischen Institut Litauens. Er verfolgt die Debatte über Litauens Vergangenheit seit vielen Jahren.
"Ich war sehr positiv überrascht, wie offen die Gesellschaft vor drei Jahren über das Thema der Beteiligung der Litauer am Holocaust diskutierte. Grund für diese Diskussion war das Buch von Ruta Vanagaite. Klar, es gab Leute, die haben gesagt, es war Quatsch, was sie da erzählt, sie ist keine Historikerin. Sie versteht gar nicht, worüber sie schreibt. Aber sie hat auch sehr viele Freunde gewonnen, die sie unterstützt haben. Meine persönliche Position damals war, und das habe ich auch offen gesagt: Das Buch ist sehr unprofessionell geschrieben, aber dieses unprofessionell geschriebene Buch hat viel mehr getan als Hunderte von Texten von Historikern."
Nikzentaitis will zwei Dinge trennen: Das Holocaust-Buch und die Aussagen zu den Partisanen. Das Buch sei wichtig gewesen, sagt der Wissenschaftler. Die Anmerkungen von Ruta Vanagaite zum Partisanenführer Ramanauskas dagegen seien ziemlich sicher falsch. Über die Heftigkeit der Reaktionen jedoch war der Historiker entsetzt.
"Nach dieser Diskussion habe ich Angst gehabt, ob in Litauen sich nicht dieselbe Geschichte wie in Polen nach Jedwabne wiederholt", so Nikzentaitis weiter. "Denn gleich nach dieser zweiten Diskussion gab es Stimmen: Jetzt muss man Frau Vanagaite 'zur Abrechnung ziehen', auch wegen ihres ersten Buchs. Da bestand die Gefahr, dass die Stimmung in der Gesellschaft umkippt, dass man eine Verteidigungsposition einnimmt und wieder versucht zu sagen, dass da nur ein kleiner Teil der litauischen Gesellschaft am Holocaust teilgenommen hat, dass das irgendwelche Verbrecher waren und nicht normale Litauer."
"Das ist russische Propaganda"
Umkippen, abwürgen, unter den Teppich kehren: Vytautas Bruveris ist Journalist und arbeitet für "Lietuvos rytas", eine der größten Tageszeitungen des Landes. Der 44-Jährige ist sicher, dass die Zweifel am Partisanenführer Ramanauskas für jene, die die Vergangenheit ruhen lassen wollen, ein Gottesgeschenk war. Vanagaite war diskreditiert, die Debatte über die litauische Beteiligung am Holocaust konnte für beendet erklärt werden, bevor sie überhaupt erst richtig angefangen hatte.
Und mehr noch: "Es gibt ein offizielles Narrativ, das auch vom Mainstream so übernommen wird", hat Vytautas Bruveris beobachtet. "Und das funktioniert ganz einfach: Dies ist alles ein Produkt russischer Propaganda. Wenn man darüber spricht, dann ist man entweder der nützliche Idiot des Kreml oder du bist ein Agent des Kreml. Vanagaite wurde aus diesen Zirkeln ganz offen so beschrieben: Sie ist ein Werkzeug der Russen, sie ist eine russische Agentin."
Vilnius war einst geprägt von jüdischem Leben. Jerusalem des Ostens wurde die Stadt genannt. Wegen der 60.000 Juden, die hier lebten und der über 100 Synagogen, die es gab. Heute existiert nur noch eine Synagoge in Vilnius. Und in der Stadt leben nur noch knapp 3000 Juden.
Mit Birute Sabatauskiene stehe ich vor dem Haus Nummer 8 an der Rudninku-Strasse im Zentrum von Vilnius, dort, wo sich einst das jüdische Gymnasium befand. Es ist nass und windig, Klaviermusik weht herüber. Vor unseren Füßen blinkt golden ein quadratischer Stein, der in den Bürgersteig eingelassen ist.
"Hier sehen wir einen Erinnerungsstein für einen Jungen mit dem Namen Isaak Rudaschewski. Der Junge ist sehr berühmt in Litauen, denn nach seinem Tod 1943 wurde sein Tagebuch gefunden. Sein Cousin hatte die Aufzeichnungen entdeckt. Erst kürzlich wurde es in Litauen veröffentlicht. Wie der Junge damals geschrieben hat, das ist faszinierend. Ich denke, heute wäre er ein berühmter Schriftsteller oder Journalist. Er beschreibt selbst die schlimmsten Dinge in einer beeindruckenden Sprache."
Tragödien dürfen nicht im Wettbewerb stehen
Isaak Rudaschewski überlebte das Ghetto nicht. Er wurde 1943 im Wald von Paneriai erschossen. So wie über hunderttausend andere. Birute Sabatauskiene ist eine der Initiatorinnen des Projekts Stolpersteine. Sie sorgt dafür, dass die Erinnerung an die ermordeten Juden nicht verloren geht.
"Am Anfang, als wir damit begannen, die Stolpersteine zu verlegen, haben wir eine Reihe von Anrufen erhalten. Die Leute fragten: Warum macht Ihr das, warum erinnert Ihr nicht an die Litauer, die gelitten haben unter den Sowjets? Aber es gab gleichzeitig auch so viele Menschen, die uns unterstützt haben. Und ich denke, dass es am Ende mehr Unterstützer als Gegner gab. Das ist es, was uns die Hoffnung gibt, dass die Gesellschaft eines Tages damit aufhören wird, wie in einem Wettbewerb die Tragödien zu vergleichen."
Besuch bei Irena Veisaite. Die 90-Jährige wohnt nicht weit von der Vilniuser Innenstadt entfernt. Ich gehe durch eine Toreinfahrt und gelange in einen Hinterhof. Die Straßengeräusche werden zu einem fernen Rauschen. Ich steige die Stufen nach oben.
Irena Veisaite ist eine Institution in Litauen. Als Jugendliche überlebte sie das Ghetto im litauischen Kaunas - und den Holocaust. Ihre Liebe zur deutschen Sprache und Kultur verlor sie trotzdem nicht. An der Universität in Leningrad promovierte sie über die Lyrik Heinrich Heines. Und in Nida auf der Kurischen Nehrung leitete sie das Thomas-Mann-Kulturzentrum. 2012 erhielt sie die Goethe-Medaille.
"Für mich sind die Deutschen ein Modell, wie man mit einer schweren Vergangenheit umgeht", sagt Irena Veisaite. "Ich bin der Meinung, dass der einzige Weg, den Buckel loszuwerden, ich nenne das den Holocaust-Buckel, ist, das anzuerkennen und zu büßen. Das ist auch ein christliches (Motiv). Es gibt Buße im Christentum. Wenn Sie sagen, wo Sie gesündigt haben, dann werden Ihnen die Sünden vergeben. Nur durch Anerkennung und Wiedergutmachung geht das - und in Deutschland wurde sehr viel gemacht. Bis jetzt bekomme ich von deutschen Schülern ein Paket zum neuen Jahr mit Schokolade und einem sehr rührenden Brief. Ich muss Ihnen sagen: Ich kann nur deshalb noch meine Wohnung haben, weil ich eine deutsche Rente bekomme."
"Ich hätte aufhören sollen"
Den Buckel loswerden, sich der Wahrheit stellen. Die Deutschen wissen, wie schwer das ist, wie gerne man ausweichen, ein schmerzliches Kapitel beenden will, dann aber doch wieder eingeholt wird. Noch einmal Ruta Vanagaite.
"Ich hätte aufhören sollen. Ich hätte wissen sollen, dass mein Land vielleicht ein bisschen Wahrheit über den Holocaust ertragen kann. Aber die Mehrheit des Landes ist nicht bereit, die Frage der Partisanen zu diskutieren. Wie lange hat Deutschland gebraucht, um die Wahrheit zu akzeptieren? Damit die Litauer ihre Verstrickungen in den Holocaust anerkennen, wird es weitere 20 Jahre brauchen und nach weiteren Jahren werden sie vielleicht damit beginnen, über das Thema der Partisanen zu sprechen. Dann werden die Historiker darüber schreiben. Aber jetzt ist es zu früh."